Deutschlands hausgemachte Probleme und die Juden

Deutschlands hausgemachte Probleme und die Juden


Deutschland ist während der vergangenen Jahrzehnte Israels Hauptunterstützer in einem moralisch zunehmend degenerierenden Europa gewesen. Selbst wenn nur dieser Grund wäre, ist es wichtig, dass Israel dem genau folgt, was in diesem Land geschieht und auswertet, ob die beträchtlichen aufkommenden Veränderungen für es wichtig sind.

Deutschlands hausgemachte Probleme und die Juden

von Dr. Manfred Gerstenfeld

Israels aktuelle Hauptsorge sollten jedoch die möglichen Auswirkungen auf die lokale jüdische Bevölkerung durch die erwartete Ankunft von geschätzten einer Million Flüchtlinge im Land in diesem Jahr sowie die Hunderttausenden danach sein. Viele von ihnen kommen aus extrem antisemitischen, muslimischen Ländern und sind seit ihrer Kindheit von Antisemitismus durchdrungen.

Eine nicht unterzeichnete Abhandlung, die vor kurzem unter ranghohen Sicherheitsoffiziellen in der Bundesregierung kursierte, drückte Entsetzen zu der Weise aus, in der Deutschland mit seiner „Politik der offenen Arme“ gegenüber den Flüchtlingen islamischen Extremismus, arabischen Antisemitismus und nationale wie ethnische Konflikte anderer Staaten importiert, indem es Menschen mit einer sehr anderen Einstellung zu Gesellschaft und dem Rechtsstaatsprinzip hereinlässt.[1]

Die Analyse der in Deutschland stattfindenden Veränderungen ist komplex, da sich ständig neue Informationen ergeben.[2] Man muss zwischen kurzfristigen Problemen und dem, was möglicherweise langfristige Veränderungen ausmachen könnte, unterscheiden. Die vermutlichen kurzfristigen Probleme sind einfacher zu bestimmen. Dazu gehören die Schwierigkeiten bei der Verteilung der Asylsuchenden im ganzen Land, die sich daraus ergebenden Spannungen zwischen den zwei christlichen Koalitionsparteien – Angela Merkels Christlich-Demokratischer Union und Horst Seehofers bayrische Christlich-Soziale Union – Reibereien mit Österreich wegen der Art, in der den Flüchtlingen gestattet wird dessen Territorium zu passieren und Spannungen mit osteuropäischen Ländern, die es ablehnen Asylsuchende aufzunehmen.

Letzter sind nicht mehr auf Ungarn beschränkt, das ursprünglich der führende Gegner der Massenimmigration war. Diese Länder haben genug eigenen Probleme. Sie haben zudem beobachtet, wie problematisch die Integration vieler der muslimischen Immigranten nach Westeuropa in der Vergangenheit gewesen ist. Zusätzlich sind die während der türkischen Herrschaft begangenen Übergriffe in der örtlichen Geschichte verankert, selbst wenn diese Ereignisse vor Hunderten von Jahren stattfanden. Sobald der Strom der Immigranten nachlässt, werden auch diese Spannungen wohl abnehmen, da sie nicht notwendigerweise von praktischen Faktoren verewigt werden. Ein weiteres Thema, zu dem es weniger Klarheit gibt, betrifft die Bedenken zu den Versprechungen von Merkel gegenüber dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan bezüglich der Unterstützung der türkischen Beitritts zur EU.[3]

Die langfristigen Probleme sind weit schwieriger festzustellen. Es hilft den Versuch zu unternehmen zu verstehen, was hinter Merkels Politik der offenen Grenzen steckt. Als Ergebnis davon hat Deutschland in den letzten Monaten weit mehr Flüchtlinge aufgenommen als alle anderen EU-Länder zusammengenommen.

Dazu fallen eine Reihe von Motiven ein. Vielleicht versucht Merkel den ultimativen Beweis zu bieten, dass Deutschland sich geändert hat und dass das neue Deutschland sich völlig von dem durch den Nationalsozialismus geschaffenen, untilgbaren Image distanziert hat. In scharfem Gegensatz zu dem Land, das die als Außenseiter definierten vertrieb oder ermordete, möge man das neue Deutschland treffen, das den Immigranten aus der Dritten Welt ein herzliches Willkommen bietet.

Ein weiterer Grund könnte in Deutschlands niedriger Geburtenrate liegen, sowie seinem verzweifelten Bedarf an Ausländern im Allgemeinen und jungen Leuten im Besonderen, um seine Erwerbsbevölkerung zu verstärken. Noch ein möglicher Grund impliziert, dass Merkel sich wünscht mit einer großen Geste in die Geschichte einzugehen. Helmut Kohl, ihr Vorgänger in der CDU, machte große Geschichte. Nachdem die Berliner Mauer sich 1989 öffnete, warb Kohl für die Vereinigung der beiden Deutschlands. Das könnte treffender als die Übernahme Ostdeutschlands durch Westdeutschland beschrieben werden.

Jeder dieser Faktoren erfordert weitere Analyse. Angesichts der Geschichte des Landes vor und nach dem Zweiten Weltkrieg scheint es widersinnig zu glauben, dass es ein vereintes „neues Deutschland“ ohne Vorurteile gibt. Einstellungen gegenüber Israel lassen die aktuelle wahre Natur des Landes erkennen. Viele Meinungsumfragen der letzten zehn Jahre haben gezeigt, dass mehr als 40% der Deutschen Israels Verhalten gegenüber den Palästinensern für mit dem der Nazis vergleichbar halten und dass Israel einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser führt.[4]

Mit dieser Art weit verbreiteter Denkweise ist die Annahme, dass es im „neuen Deutschland“ eine riesige Mehrheit gibt, die eine radikal gegenteilige Sicht des „Deutschland heute“ gegenüber dem „Deutschland damals“ bieten möchte, unwirklich. Viele Menschen in Deutschland wollen die Flüchtlinge aufrichtig willkommen wollen. Es gibt aber auch viele Menschen in Deutschland, die heftig gegen Merkel und ihre Flüchtlingspolitik opponieren.[5] Ein Teil von ihnen macht sich hauptsächlich wegen der daraus entstehenden möglichen allgemeinen oder wirtschaftlichen Belastungen Sorgen. Eine Umfrage im Oktober zeigte, dass 54% der Bevölkerung wegen der Flüchtlingspolitik beunruhigt ist.[6]

Deutschlands niedrige Geburtenrate ist eine echtes Problem. Im Zeitraum von 2008 bis 2013 lag Deutschlands Geburtenrate bei 8,2 Geburten pro eintausend Einwohnern im Alter von 20 bis 65 Jahren.[7] Das macht es zum Land mit der niedrigsten Geburtenrate der Welt, sogar niedriger als die von Japan. Zu glauben, dass Flüchtlinge, hauptsächlich aus muslimischen Ländern, arbeiten werden, um einen Großteil der Renten der alternden einheimischen Bevölkerung zu bezahlen, ist ein gedanklicher Fehler. Dieser Ansatz ist andernorts in Europa bereits wiederlegt worden.

Was das Ziel angeht als große Kanzlerin in die Geschichte einzugehen, betreibt Merkel ein riskantes Spiel. Ihre Politik könnte zum Ende ihrer Kanzlerschaft führen, entweder über eine Revolte in der CDU oder dadurch, dass sie die nächsten Wahlen verliert.

Im Hintergrund lauert aber noch ein weiteres Problem. Die Europäische Union ist traditionell von der franko-deutschen Achse beherrscht. Das war so, bis der Sozialist François Hollande den mitte-rechts stehenden damaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy bei der Wahl 2012 besiegte.[8] Merkels Vorgänger gaben Frankreich oft freiwillig ein unverhältnismäßig großes Gewicht in der EU, zum Teil aus Angst, dass die „Seele des Deutschland, das unsägliche Verbrechen begangen hatte“ wieder entstehen könnte.[9]

Mit Hollandes Wahl, der sich daraus ergebenden Erosion der Position Frankreichs und mit Merkels Ambitionen ist das nicht länger der Fall. Die Europäische Union ist ein von Deutschland dominiertes Kollektiv geworden. Viele andere Länder nehmen das übel. Der ehemalige Kanzler Helmut Schmidt sagte 2011 treffsicher voraus: „Wenn wir Deutschen uns verführen ließen, gestützt auf unsere ökonomische Stärke, eine politische Führungsrolle in Europa zu beanspruchen oder doch wenigstens den Primus inter pares zu spielen, so würde eine zunehmende Mehrheit unserer Nachbarn sich wirksam dagegen wehren.“[10]

Slowniens Premierminister Miro Cerar merkte an, dass die Flüchtlingskrise das Ende der EU bedeuten könnte; das schien damals unrealistisch.[11] Aber da Großbritannien zu einem möglichen Austritt aus der EU an die Urnen geht, werden die Kräfte stärker, die Brüssels Macht und Kompetenzen verdünnen möchten.

Das oben Gesagte ist eine langatmige Einleitung in die Konsequenzen der aktuellen Krise für Deutschlands Juden. Zwei Dinge stehen hier auf dem Spiel. Das erste betrifft die Folgen der Neuankömmlinge, von denen viele Antisemiten sind. Ranghohe Persönlichkeiten der deutschen jüdischen Gemeinschaft, darunter der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, sowie Lala Süsskind, ehemalige Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Berlins und der Antisemitismus-Experte Levi Salomon haben ihre Befürchtungen öffentlich geäußert.[12] Die deutsche Presse dürfte über die derzeitigen Probleme in den Asylantenunterkünften, darunter die Verfolgung von Homosexuellen und Nichtmuslimen durch Muslime, durchaus zu wenig berichten. Es gab vor kurzem eine Meldung zum Mord an einem Asylsuchenden durch einen anderen auf der Insel Sylt.[13]

Kurz gesagt: Der Aufstieg der Rechten sollte vielleicht bei Deutschlands Juden mehr Besorgnis wecken. Es gab in den ersten neun Monaten dieses Jahres geschätzte 461 Anschläge auf Asylunterkünfte.[14] In jüngerer Zeit hat es auch gewalttätige Angriffe auf Flüchtlinge gegeben. Zum Beispiel haben in Magdeburg 30 mit Baseballschlägern bewaffnete Deutsche sechs syrische Flüchtlinge angegriffen; und in Wismar wurden zwei Flüchtlinge von 20 maskierten Angreifen auf ähnliche Weise zusammengschlagen.[15] Beide Städte liegen im ehemaligen Ostdeutschland, wo die Gewalt am größten zu sein scheint.

Die organisierte Rechte in Deutschland besteht aus verschiedenen Komponenten. Dazu gehören die Neonazi-Partei (die NPD), verschiedene weitere Neonazi-Gruppen, die neue, antieuropäische Partei AfD, die in den Umfragen zulegt,[16] und die antiislamische Gruppierung Pegida, die vorwiegend in Ostdeutschland agiert. Letztes Jahr erlebten wir bereits, dass die jüdische Gemeinschaft Pegida wegen ihrer antiislamischen Kampagnen kritisierte.[17]

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Kanzlerin Merkel mit ihrer scheinbar großzügigen Flüchtlingspolitik viele mögliche dunkle Kräfte wecken könnte, die sich als schwer zu kontrollieren erweisen dürften. Das an sich reicht, damit Israel den Ereignissen und Veränderungen in Deutschland, seinen wichtigsten Unterstützer in Europa, sehr genau beobachten sollte.

 

[1] Stefan Aust/Claus Malzahn: Sicherheitsexperten entsetzt über deutsche Politik. DIE WELT, 25. Oktober 2015.

[2] Emma Grahm-Harrison: Still the refugees are coming, but in Europe the barriers are rising. The Guardian, 31. Oktober 2015.

[3] Tony Patterson: Refugee crisis: Merkel offers ‘dirty deal’ on Turkey EU membership in exchange for help to stem flow of migrants. The Independent, 18. Oktober 2015.

[4] Manfred Gerstenfeld: War of a Million Cuts. Jerusalem (Jerusalem Center for Public Affairs, RVP Press) 2015, S. 57.

[5] Jeder Zweite bescheinigt dem Staat Realitätsverlust. DIE WELT, 20. Oktober 2015.

[6] Mehrheit besorgt über Folgen der Flüchtlingskrise. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. Oktober 2015.

[7] Ambrose Evans-Pritchard: Germany dominance over as demographic crunch worsens. The Telegraph, 1. Juni 2015.

[8] Parallel Universes in Paris and Berlin: Is the Franco-German Axis Kaput? SPIEGEL online international, 22. Oktober 2012.

[9] Nikolaus Blome/Sven Böll/Katrin Kuntz/Dirk Kurbjuweit/Walter Mayr/Mathieu von Rohr/Christoph Scheuermann/Christoph Schult: Das Vierte Reich. Der Spiegel, 21. März 2015.

[10] Helmut Schmidt: „Germany In, With and For Europe. Social Europe, 12. August 2015. (Helmut Schmidt: „Unsere Überschüsse sind die Defizite der anderen“. DIE WELT (online), 4. Dezember 2011.)

[11] Levi Winchester: Migrant crisis will end the END of the European Union, Slovenian PM arns. Express, 26. Oktober 2015.

[12] Claus Christian Malzahn: Zentralrat der Juden warnt vor arabischem Antisemitismus. DIE WELT, 3. Oktober 2015.
Allan Hall: Germany’s Jews living in fear of thousands of Muslim refugees raised to be anti semitic. Express, 15. Oktober 2015.

[13] Mann bei Messerstecherei in Flüchtlingsunterkunft getötet. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. November 2015.

[14] Gewaltbereitschaft fast in der Mitte angekommen. DIE WELT, 22. Oktober 2015.

[15] 30 Angreifer attackieren Syrer mit Baseballschlägern. DIE WELT, 1. November 2015.

[16] http://www.ifd-allensbach.de/studien-und-berichte/sonntagsfrage/gesamt.html (für den Zeitraum vom 3. bis 16. Oktober 2015).

[17] Zentralrat der Juden nimmt Muslime in Schutz. ZEIT online, 20. Dezember 2014.

 

Erstveröffentlicht bei Heplev

 

Dr. Manfred Gerstenfeld bei haOlam.de (Auswahl):


Autor: joerg
Bild Quelle:


Mittwoch, 18 November 2015

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