Antisemitismus an Berliner Schulen: ´Sie haben weggesehen!´

Antisemitismus an Berliner Schulen:

´Sie haben weggesehen!´


Ein Brief eines jüdischen Vaters an den Schulleiter der Friedenauer Gemeinschaftsschule in Berlin, wo ein Schüler über einen langen Zeitraum terrorisiert wurde, weil er Jude ist.

´Sie haben weggesehen!´

Es ist nun ein paar Wochen her. Ich wollte Gras über die Sache wachsen lassen, wahrscheinlich genau so wie Sie, aber es funktioniert nicht in meinem Fall. Wie es bei Ihnen aussieht weiß ich nicht.

 

Mit Fassungslosigkeit, Wut, Zorn und Bestürzung habe ich die Berichte über den antisemitischen Vorfall und den Zuständen an Ihrer Schule gelesen. Im Zuge der Aufarbeitung der schändlichen Vorkommnisse musste ich Ihr weinerliches Statement dazu lesen und diesen unsäglichen offenen Brief einiger Eltern, der im Nachhinein eine schallende, demütigende Ohrfeige für die Familie und den Jungen selbst ist.

 

Eines vorweg und diesen Schuh müssen Sie sich anziehen, die Eltern des jüdischen Schülers haben Ihrer Schule vertraut, Ihnen den wichtigsten Menschen, den sie haben, in Ihre Verantwortung und Obhut gegeben und Sie und Ihre Kollegen haben völlig versagt. Sie und Ihr gesamtes Schulkollegium sollten sich schämen! Ist Ihnen bewusst, was Sie, neben dem Schmerz, der Demütigung und dem Trauma mit Ihrer unfassbaren Ignoranz, Ihrer gefährlichen Passivität und Dummheit den Eltern, dem Jungen, aber auch mir angetan haben?

Ich möchte definitiv nicht pauschalieren, von mir aus nennen Sie mich Panikmacher, aber jüdische Kinder sind nun auch nicht mehr in den Schulen sicher und das bereitet mir große Sorgen. Warum auch mir? Ich bin Vater! Mein Sohn ist 13 und jüdisch. Der Umstand, dass mein Sohn jüdisch ist, zeigt mir auf, befeuert durch Ihre unterlassene Hilfeleistung, dass er in Zukunft viel um die Ohren haben wird.

 

Deutschland ist eine tolerante, weltoffene, nachsichtige, aufopferungsvolle Nation, nicht nur wenn es um Flüchtlinge, AfD, Nazis, linksautonome Faschisten und vor allem dem politisch, radikalisiertem Islam geht. Ja, das beweist Deutschland mir tagtäglich. Nur, gilt die Nachsichtigkeit, Weltoffenheit, Toleranz und Aufopferung auch für Juden? Ich meine den lebenden Juden, nicht den Gaskammer-Juden. An Ihrer Schule wohl eher nicht.

 

Sie gehören anscheinend auch zu der Sorte Mensch, die sich den toten Juden mehr verpflichtet fühlt, als den noch lebenden – oder, um beim Thema zu bleiben, den Juden, die auf Ihre Schule gehen. Wie oft waren Sie mit Ihren Schulklassen im Jüdischen Museum oder am Mahnmal der ermordeten Juden? Mehr als ein dutzend Mal? Wusste ich es doch!

 

Ich beobachte den wiedererstarkten Antisemitismus, vor allem in der muslimischen Community mit wachsender Sorge und nicht wie Sie als Unbetroffener. Ein jüdischer Schüler stand unter Ihrer Fürsorgepflicht und wurde über Monate offensichtlich von muslimischen Mitschülern gemobbt, drangsaliert, terrorisiert und letztendlich geschlagen wurde. Der Judenhass ist leider ein Normalzustand für mich. Ich kann nur präventiv dagegen vorgehen. Wollen Sie wissen, wie es präventiv in einer jüdischen Familie zugeht? Das sieht folgendermaßen aus: Ich bläue meinem Sohn mindestens zwei mal die Woche ein, Fremden niemals zu sagen, dass er jüdisch ist, auch nicht seinen Mitschülern in der Schule und vor allem nicht Muslimen, leider. Wenn ihn aus irgendwelchen Gründen, jemand fragen sollte, ob er jüdisch ist, dann soll er verneinen. Ich zwinge mein Kind zu lügen!

 

In seiner Schule wissen nur einige Lehrer Bescheid. Ich hoffe, das bleibt so. Den Judenstern wird ein Jude in Deutschland niemals los, das ist mir bewusst. Dass Ihr Schüler so offen mit seiner Religion umgegangen ist, bewundere ich zutiefst. Dazu braucht man definitiv Eier und das mit 14! Wenn Sie das nicht glauben, dann probieren Sie es doch mal aus. Gerne besorge ich Ihnen eine Kippa. Setzen Sie sie auf und ab geht es damit nach Neukölln oder Kreuzberg. Sozusagen *Inside Jews*. Ich freue mich jetzt schon auf Ihre Strafanzeigen gegen Unbekannt und Ihre Nahtod-Erfahrungsberichte.

 

Es ist für mich ein Normalzustand, mit der traurigen Gewissheit zu leben, dass mein Kind nicht immer dazugehören wird, weil es das Beispiel par excellence eines weltumspannenden Feindbildes ist – traurigerweise und fälschlicherweise. Mir ist vollkommen bewusst, dass mein Sohn sein Leben lang in ein dämonisches, fremdbestimmtes, stereotypisches Image gezwungen wird, das er niemals gänzlich abstreifen kann. Dies wurde auch Ihrem jüdischen Mitschüler zum Verhängnis, denn wie man teilweise aus der muslimischen Community an Ihrer Schule vernehmen kann, sind alle Juden Mörder, nicht wahr? Zuweilen ist der Jude sogar an der eigenen Misere schuld, obwohl man noch nie einem Juden über den Weg gelaufen ist. Hinter allem Verwerflichem und jeder weltumspannenden Bosheit wird in Zukunft auch mein Sohn dahinter stecken. Für viele wird er ein missgünstiger Jude sein, der versucht, seine perfiden Pläne durchzusetzen. Multitasking in satanischer Perfektion machen vermeidlich jeden Hebräer zu einem Katastrophenjunkie, so die Antisemiten.

 

Es ist für mich ein Normalzustand, dass der Begriff *Jude* in einschlägigen Kreisen als Schimpfwort missbraucht wird. Mittlerweile hat der Begriff *Jude* zu den altbekannten auch neue Synonyme bekommen.

Demzufolge ist mein Sohn nowadays „ethnisch bedenklich“, ein „Ungläubiger“, ein „Imperialist“,

ein „Zionist“ oder ein „Opfaaa“. In der muslimischen Szene wird mein Kind auch gerne als Nachkomme von Affen und Schweinen beschimpft. Mit den Affen könnten sie recht haben, aber das gilt ja wohl für uns alle.

Es ist für mich ein Normalzustand, mit der beunruhigenden Erkenntnis zu leben, dass mein Sohn vorsichtig geschätzt, die halbe Weltbevölkerung gegen sich haben wird, ob es ihm passt oder nicht. In einigen Ländern dieser Erde gilt er als geistiger Staatsfeind Nummer Eins und irgendwann muss ich ihm erklären, falls er sich zum Beispiel für den Iran interessiert, dass er sich das abschminken kann. Er wird dieses Land niemals bereisen können, denn dort herrscht ein Einreiseverbot für Israelis, demzufolge auch für Juden. Das Selbe gilt für Algerien, Bangladesch, Brunei, Irak, Kuwait, Libanon, Libyen, Malaysia, Oman, Pakistan, Saudi-Arabien, Sudan, Syrien, Vereinigte Arabische Emirate, Jemen, Neukölln und nun auch Ihre sagenhafte Friedenauer Gemeinschaftsschule.

 

Es ist für mich ein Normalzustand, damit zu leben, dass mein Sohn sich durchbeißen, um seine Akzeptanz kämpfen und um Verständnis ringen muss. Er muss damit zurechtkommen, mit anderen Maßstäben gemessen zu werden, ob er es will oder nicht! Mitleidsvolle Blicke, Ablehnung, Ausgrenzung, Denunziation,

Anfeindungen, Benachteiligung, Vorurteile, Ressentiments, Hass, Beleidigungen und in manchen Fällen auch körperliche Gewalt, so geschehen an Ihrer Schule, sind grausame Ingredienzen, die das alltägliche Leben eines Juden schwer und risikoreich gestalten.

 

Ich erziehe mein Kind nicht in blanker Angst – aber in der Realität. Und diese Realität hat mich und die Eltern dieses Jungen eingeholt. Was nutzt es mir, mein Kind liberal, freigeistig, mit höchsten moralischen Werten zu erziehen, wenn die Welt da draußen gar nicht so ist? Und dennoch tue ich es! Davon können Sie mich mit Ihrer Untätigkeit nicht abhalten. Felsenfest bin ich davon überzeugt, dass der Humanismus, der an Ihnen und Ihrer Schule gänzlich spurlos vorbeigegangen ist, die Antwort auf vieles sein kann.

 

We wird mein Sohn reagieren, wenn er das erste Mal bewusst Feindberührung mit dem Judenhass machen wird? Wie wird er sich zu helfen wissen, wenn sein Vater, seine Mutter, ihn nicht davor beschützen können, wenn er ganz alleine auf sich gestellt ist, so wie Ihr ehemaliger Schüler? Sie haben an Ihrer Schule das zugelassen, wovor die meisten Eltern eines jüdischen Kindes am meisten Sorge haben. Sie, Ihr Lehrerkollegium, die Mitschüler, der Elternbeirat sie haben diesen Jungen im Stich gelassen!

Sie haben weggesehen, hinweggesehen, abgewunken, sich umgedreht, ihn fallen lassen, ihn ignoriert. Sie sind nicht eingeschritten, haben sich nicht schützend vor ihm hingestellt – schlimm, furchtbar, ohne Worte. Anstatt sich die Eltern dieser Schläger zur Brust zu nehmen, laden Sie die betagten Großeltern des Opfers in die Schule ein, um über den Holocaust zu sinnieren. Was für eine Demütigung! Ich mache den Großeltern keinen Vorwurf, Sie haben die Hand ausgestreckt und aus Liebe zu Ihrem Enkel gehandelt. Ich attestiere Ihnen mangelnde emotionale Intelligenz. Und dennoch Sie haben Empathie, aber darunter haben nicht alle Platz, zumindest keine Juden.

 

Sie haben diesen jüdischen Jungen einfach ziehen lassen. Was haben Sie unternommen, um ihn zu halten? Eventuell haben Sie es ja versucht, diese Schläger an einen Tisch zu setzen, um über das *Judenproblem* an Ihrer Schule zu diskutieren. Aber bestimmt ohne diesen jüdischen Jungen, denn das wäre für manchen Ihrer Schüler zuviel des Guten.

 

Würde mich nicht wundern, so wie es gerade um Deutschland steht, wenn der nächste Integrationsbambi an Ihre Schule geht. Wenn Sie und Konsorten glauben, dass Judenfeindlichkeit in unserer breiten Gesellschaft, vor allem aber in der muslimischen Community, zu einem salonfähigen, unwiderruflichen Normalzustand geworden ist, mit dem mein Sohn und andere jüdische Kinder sich in Zukunft lapidar abfinden müssen, dann liegen Sie falsch. Wenn Sie und vor allem einige Eltern an Ihrer Schule glauben, dass mein Sohn oder ein anderes deutsches jüdisches Kind den Kopf wegen des Nahostkonflikts hinhalten muss, dann liegen Sie auch alle falsch.

 

Mein Sohn ist deutsch und erst dann jüdisch. Das kann ja wohl nicht so schwer zu verstehen sein. Ich hoffe inständig, dass er nicht zu einem rigorosen, unabwendbaren Bekenntnis, respektive Positionierung, zu Israel gezwungen wird, wenn er mit dem Rücken zur Wand steht und er seine Koffer packen muss.

 

Eine Frage geht mir oft durch den Kopf: Wird mein Kind sich hier angenommen und akzeptiert fühlen? Wird er seine Zukunft in diesem Land haben? Ich weiss es nicht. Ich kann diese Frage nicht beantworten. Diese Frage kann mir nur Deutschland beantworten.

 

Nun, was den jüdischen Jungen aus Ihre Schule betrifft, der ist wieder zurück nach Großbritannien. Damit haben Sie mir meine Frage mit Nein beantwortet. Aber, ich trotze Ihnen, denn Sie sind nicht *Deutschland*, auch nicht Ihr Lehrerkollegium und auch nicht die paar instrumentalisierten, verblendeten Mamas und Papas an Ihrer Schule. Deutschland ist viel mehr!

 

Eines möchte ich Ihnen, respektive Ihren Mitschülern, vor allem den Muslimen unter ihnen, abschliessend mitgeben – etwas pädagogisch sinnvolles: Ihr ehemaliger jüdischer Mitschüler ist keinesfalls ein *Opfer*. Er und mein Sohn haben etwas entscheidendes gemeinsam: Beide sind Nachfahren von Holocaustüberlebenden. Wer Nachfahre eines Holocaust Überlebenden ist, entspringt der Saat eines Helden!

 

 

 

Tapfer im Nirgendwo


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Sonntag, 30 April 2017