9. November 1938: Die Reichspogromnacht - Station auf dem Weg zur Shoah

9. November 1938:

Die Reichspogromnacht - Station auf dem Weg zur Shoah


«Alles, was man davon berichten kann, ist schwach gegen die Wirklichkeit.» In diesem verzweifelten Satz kulminiert der Bericht einer Berlinerin über den 9. und 10. November 1938 in der Reichshauptstadt - über die Zerstörungswut und Gewalt in der sogenannten Reichskristallnacht, die heute meist als Reichspogromnacht bezeichnet wird.

Die Reichspogromnacht - Station auf dem Weg zur Shoah

Die Ereignisse sind bestens dokumentiert durch eine Sammlung solcher Augenzeugenberichte. Zusammengetragen hat sie das damals in Amsterdam ansässige Zentrale Jüdische Informationsbüro von Alfred Wiener

Die «arische» Berlinerin etwa berichtet detailliert, wie Gruppen von Nazis in Zivil mit Eisenstangen und Beilen in die jüdischen Geschäfte eindringen. «Kleider, Pelze, Schreibmaschinen, Lampen, Garderobenständer, ja sogar Blumentöpfe aus den großen Verkaufsräumen wurden auf die Straße geworfen... Von 1 Uhr bis 6 Uhr klirrten die Scheiben. Auf den Straßen häuften sich Berge von Glas.»

Äußerer Anlass ist das Attentat von Herschel Grünspan auf einen Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Paris, Ernst vom Rath, am 7. November. Bereits am selben Abend stecken Nazis in Kassel und Umgebung die ersten Synagogen in Brand. Nach einem indirekten Pogromaufruf von Propagandaminister Josef Goebbels an die NSDAP- und SA-Führung erreicht die Terrorwelle am 9. und 10. November ihren Höhepunkt und hält bis zum 13. an.

Die Zerstörungswut richtet sich nicht nur gegen Synagogen und Geschäfte, sondern vor allem die Juden selbst. Systematisch suchen die Schlägertrupps Wohnung für Wohnung heim. «Nachts um halb vier haben die Horden mit der Axt die Haustür eingeschlagen», berichtet aus Nürnberg Kurt Wachtel. «In den Wohnungen wurde alles kurz und klein geschlagen, Teppiche und Bilder zerschnitten, nichts blieb heil. Dann... schlugen (sie) den Vater blutig, gaben der Mutter einen Tritt in den Leib, so dass sie eine innere Verletzung davongetragen hat, und warfen sie dann die Treppe herunter.»

In Düsseldorf werden die Juden «in Pyjamas und Nachthemden aus den Betten geholt und abgeführt», wie ein anderer Zeuge, Hans Goslar, notiert. «Sie wurden gezwungen, ohne Fußbekleidung durch die überall verstreuten Glasscherben zu gehen.»

Anderen ergeht es noch schlimmer, etwa in Lünen bei Dortmund: «Im gegenüberliegenden Haus lag ein alter Mann im Bett. Bevor er flüchten konnte, erhielt er durch die Decke einen Bauchschuss und starb nach vier Stunden.»

Ein Versteck zu finden, ist kaum möglich. «Straßenbahnen, Autos wurden angehalten und die Passanten, soweit sie jüdisch waren, verhaftet», berichtet der Zeuge Eugen Wolf aus Frankfurt am Main. Tagelang streifen Juden deshalb trotz Kälte durch die nahen Taunus- Wälder.

Mehr als 400 Menschen werden erschlagen, erschossen oder unmittelbar in den Selbstmord getrieben. Mehr als 30.000 kommen ins KZ. Über 1400 Synagogen werden zerstört oder stark beschädigt.

Die vorangegangenen Drangsalierungen der Juden etwa durch die Aberkennung der Staatsbürgerrechte, Berufsverbote, Eheverbote und Enteignungsdruck «schlugen jetzt um in die primitiven Formen physischer Gewalt und Verfolgung», erklärt der Historiker Wolfgang Benz. «Die Reichskristallnacht bildete den Scheitelpunkt des Wegs zur Endlösung.» Die Beseitigung der angerichteten Schäden müssen die Juden auch noch bezahlen.

Goebbels` Absicht, die «arische» Bevölkerung zum Mitmachen zu bewegen, scheitert allerdings. «Die Stimmung unter der christlichen Bevölkerung in München ist durchaus gegen die Aktion. Von allen Seiten wurde mir das lebhafteste Beileid und Mitgefühl entgegengebracht», schreibt ein jüdischer Zeuge.

 

Doch offene Empörung wagt angesichts des Terrors kaum jemand. Der Vorsteher der Jüdischen Gemeinde in Kiel, Gustav Lask - von SS- Leuten durch Schüsse schwer verletzt - berichtet später von der Verhaftung eines Bekannten, der sich positiv über ihn geäußert hat. Im schwäbischen Oberlenningen wird der evangelische Pfarrer Julius von Jan, der die Pogrome kritisiert hat, von Dutzenden SA-Leuten zusammengeschlagen und dann inhaftiert.

 

Der einzige Schlüssel zur Rettung vor dem millionenfachen Tod ist für die Juden nun die Auswanderung. «Nur wenige werden dieses Schlüssels habhaft, weil die Tore der Welt fast überall für die Emigration verriegelt sind», schreibt ein Zeuge.

 

 wbde 8.11.2009 - Foto: Auch in Rostock steht am 9. November 1938 die Synagoge in Flammen (Foto: von Unbekannt [Public domain], via Wikimedia Commons)

 

 


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Donnerstag, 09 November 2017