Steinmeiers Prüfung und Kretschmers Einsamkeit

Steinmeiers Prüfung und Kretschmers Einsamkeit


Also sprach der Bundespräsident: „Das Virus hat uns nach wie vor fest im Griff.

Steinmeiers Prüfung und Kretschmers Einsamkeit

Von Henryk M. Broder

Unser öffentliches und unser privates Leben wird so stark eingeschränkt wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Die Lage ist bitterernst.“ Das Infektionsgeschehen drohe, „außer Kontrolle“ zu geraten, deswegen kämen wir „an einschneidenden Maßnahmen“ nicht vorbei. „Unsere bisherigen Anstrengungen im Kampf gegen die Pandemie reichen nicht aus, wir müssen noch konsequenter handeln… Jeder und Jede muss sich fragen, was kann ich zusätzlich tun, um mich und andere zu schützen und vor allem die zu schützen, die besonders gefährdet sind?“

Fest steht: „Wir werden Weihnachten und Neujahr anders feiern, als wir gehofft hatten. Die kommenden Wochen werden für viele Menschen eine belastende Zeit sein… Wir sind jedoch dem Virus nicht schicksalhaft ausgeliefert. Wir wissen, was zu tun ist. Feiern lassen sich nachholen und über Geschenke freuen sich Freunde und Verwandte auch später noch.“ Jetzt komme es darauf an, die Gesundheit zu erhalten und Menschenleben zu retten. Deswegen müssten wir in den nächsten Wochen unsere Kontakte und Begegnungen radikal begrenzen.

„Die Verantwortung, die wir jetzt zeigen, die Lasten, die wir jetzt und noch eine Zeit tragen werden, die sind nicht vergeblich, sie bringen uns dem Ende der Pandemie näher… Die kommenden Wochen sind eine Prüfung für uns alle… Wir alle sind in den letzten Monaten einen weiten Weg gegangen, gehen wir ihn gemeinsam und in Rücksicht aufeinander weiter und zu Ende.“

Anleihen bei Wilhelm II, Kennedy, Adenauer und Strauß

Er sei sich ganz sicher, so der Bundespräsident am Ende seiner sechs Minuten langen Rede an das Volk/die Bevölkerung, „die Pandemie wird uns die Zukunft nicht rauben, wir werden diese Krise überwinden, das muss gelingen und das wird gelingen“.

Dass ich diese Rede so ausführlich zitiere, hat zwei Gründe. Erstens enthält sie stilistische Anleihen aus den Reden anderer Majestäten, Präsidenten und Politiker. Mal klingt Steinmeier wie Wilhelm II („Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“) mal wie Kennedy („Frage nicht, was dein Land für dich tun kann – frage, was du für dein Land tun kannst!“), mal wie Adenauer („Die Lage war noch nie so ernst…“), mal wie Franz Josef Strauß: „Ich sage nicht, wir werden siegen, weil wir siegen müssen, aber ich sage, wir können siegen, wenn wir siegen wollen, und wir werden siegen, weil wir siegen wollen!“

Auch Steinmeier ist ein Meister der redundanten Logik; hält er eine Rede, rechne ich jeden Moment damit, dass er „die Basis ist die Grundlage des Fundaments“ sagt und dabei ein Gesicht macht, als habe er eben den Zusammenhang zwischen der speziellen und der allgemeinen Relativitätstheorie begriffen. Zweitens verhebt er sich maßlos, wenn er z.B. sagt, die folgenden Wochen würden „eine Prüfung für uns alle“ werden. So reden Erweckungsprediger, wenn sie ihre Gemeinden daran erinnern, wie Gott Abraham „prüfen“ wollte, als er ihm befahl, seinen Sohn Isaak zu töten, als Beweis unbedingten Gehorsams gegenüber dem Allmächtigen. 

Kommt der Eintopfsonntag zurück?

Was passiert, wenn die Deutschen diese „Prüfung“ nicht bestehen? Wird die Wiedervereinigung rückgängig gemacht? Der Eintopfsonntag ausgerufen? Das Benzin rationiert? Gibt es im Schloss Bellevue niemanden, der dem Bundespräsidenten die Bedeutung des Begriffes „Prüfung“ erklären könnte?

Leider ist Frank-Walter Steinmeier auch ein Beispiel für den Bildungsnotstand, der die Bundesrepublik als Kollateralschaden des kulturellen Föderalismus erfasst hat. Ein anderes, ebenso anschauliches Beispiel ist der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU). Er hat es für nötig gehalten, die Öffentlichkeit darüber zu informieren, dass er dieses Jahr zum ersten Mal in seinem Leben keinen Gottesdienst an Heiligabend besuchen wird. Wegen Corona werde er schweren Herzens zu Hause bleiben.

„Ich brauche es für meinen Glauben nicht. Und ich finde es richtig, wenn wir alle uns in diesem sensiblen Moment zurückhalten.“ Außerdem: „Jesus und Maria waren Heiligabend auch alleine.“ Unter normalen Umständen hätte sich das Land über eine solche Aussage eines Landesfürsten vor Lachen gebogen, ihn darauf hingewiesen, dass Jesus und Maria mitnichten „alleine“ waren und ihm empfohlen, „Weihnachten im Stall“ von Astrid Lindgren zu lesen. Aber die Zeiten sind nicht normal, und das Virus befällt nicht nur die Atemwege, sondern auch das Denkvermögen.

So gesehen, mag es sich tatsächlich um eine Prüfung handeln, die weder der Bundespräsident noch der Ministerpräsident von Sachsen bestanden haben. 

 

Erstveröffentlicht bei der Achse des Guten


Autor: Henryk M. Broder:
Bild Quelle: Tasnim News Agency, CC BY 4.0 , via Wikimedia Commons


Dienstag, 22 Dezember 2020