Im Zweifel gegen den Angeklagten

Im Zweifel gegen den Angeklagten


In einem intakten Rechtsstaat hat jeder Beschuldigte, vom Ladendieb bis zum Mörder, das Recht auf einen fairen Prozess.

Im Zweifel gegen den Angeklagten

Von Henryk M. Broder

Dazu gehört, dass nicht er seine Unschuld beweisen muss, sondern die Anklage, vertreten durch den Staatsanwalt, die Schuld des Angeklagten. Und der gilt so lange als unschuldig, bis das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen wurde. Man nennt dieses Prinzip die „Unschuldsvermutung“. 

In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen aus dem Jahre 1948 heißt es:

„Jeder Mensch, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, ist solange als unschuldig anzusehen, bis seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren, in dem alle für seine Verteidigung nötigen Voraussetzungen gewährleistet waren, gemäß dem Gesetz nachge-wiesen ist.“

Eine Selbstverständlichkeit, sollte man meinen, wie sie auch in dem Satz „in dubio pro reo“, im Zweifel für den Angeklagten, zum Ausdruck kommt. Leider ist das in bestimmten Fällen oft nicht mehr die Regel – wenn ein Mann beschuldigt wird, eine frau sexuell oder sexistisch belästigt zu haben, physisch, verbal oder mit Blicken.

Das fliegende Gericht

Dann tritt an die Stelle der Unschuldsvermutung das fliegende Gericht der „metoo“-Bewegung zusammen und verkündet das Urteil: Schuldig! Die Vollstreckung des virtuellen Verdikts übernehmen die sozialen Medien. Selbst wenn sich später in einem ordentlichen Verfahren die Unschuld des Abgeurteilten herausstellen sollte, das Kainsmal bleibt.

Am 13. März konnte man in der „Welt“ lesen, der Chefredakteur der Bild-Zeitung, Julian Reichelt, habe sich „auf eigenen Wunsch vorübergehend von seiner Funktion freistellen lassen“, er weise „die gegen ihn erhobenen Vorwürfe, die aktuell in einem Compliance-Verfahren untersucht werden, zurück“.

Der Springer-Verlag, in dem sowohl die „Welt“ wie die „Bild“ erscheinen, erklärte, die Untersuchung sei „noch nicht abgeschlossen“, daher werde „das Unternehmen derzeit keine weiteren Angaben zum Verfahren und zum Gegenstand der Vorwürfe machen“. 

Zu diesem Zeitpunkt machten Mutmaßungen und Spekulationen bereits die Runde. Die „Frankfurter Rundschau“ gab bekannt, worum es in dem Compliance-Verfahren ging: „Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werfen ihm (Reichelt) Machtmissbrauch vor, Nötigung, Mobbing und Ausnutzen von Abhängigkeitsverhältnissen.“

Die FR und ihr Experte

Ein als Zeuge gegen Reichelt von der FR aufgerufener „Medienethiker“ namens Tanjev Schultz lieferte umgehend eine perfekte Ferndiagnose: „Psychosozial betrachtet kann die Arbeit bei so einem Boulevardblatt offenbar mit einer narzisstischen Kränkung einhergehen, die zu dem Impuls führt, andere Menschen fertigzumachen.“

Reichelts „Vergangenheit als Kriegsreporter“, sein „breitbeiniges Auftreten“, so der „Medienethiker“, würden gegen ihn sprechen. Wenig später präzisierte die Hamburger ZEIT die Vorwürfe. Reichelt stehe „wegen möglichen Machtmissbrauchs gegenüber Frauen unter Druck“, er soll „Frauen schlecht behandelt und seine Macht missbraucht haben“, indem er sie „im Zuge von intimen Beziehungen beruflich erst hochgelobt und später runtergeputzt“ habe.

Immerhin: von „missbrauchten Mitarbeitern“ war keine Rede mehr, es ging nur noch um Frauen, also Mitarbeiterinnen. Die ZEIT enthüllte auch, wer den Stein ins Rollen gebracht hatte: ein Mann, der Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre, der „zeitweilig eine Beziehung“ mit einer Reichelt-Mitarbeiterin gehabt haben soll. 

Julian will keine Chinesen

Nachdem Reichelt die Bewerbung einer Moderatorin mit chinesischem Hintergrund für BILD TV abgelehnt hatte, verbreitete Stuckrad-Barre über WhatsApp, Reichelt sei „ein übler Rassist, Sexist, rechtsnationaler Hetzer. Weiß jeder. Klar. Aber ich habe es jetzt schwarz auf weiß: ‚Julian will keine Chinesen.'“

Wie in solchen Fällen üblich, dauerte es eine Weile, bis aus dem Schneeball eine Lawine wurde, die nun auf BILD und den Springer Verlag zurollt. Es könnte sein, dass ein paar alte „Freunde“ offene Rechnungen mit Reichelt begleichen wollen, der BILD auf einen knallharten Anti-Merkel-Kurs geführt hat; möglich ist auch, dass sie „Reichelt“ sagen, aber „Döpfner“ meinen, den Chef des Springer-Verlages, der bis jetzt loyal zu Reichelt gehalten hat. Der einzige „Zeuge“, der sich öffentlich zu Wort gemeldet hat, ist Stuckrad-Barre, den, das weiß jeder, ein hypertrophes Ego auszeichnet. 

Das Ganze hat auch mit dem Zeitgeist zu tun, mit der Abschaffung der Unschuldsvermutung und der Umkehr der Beweislast in Fällen sexueller Belästigung. Haben Polizei und Gerichte lange Jahre eine erstaunliche Milde gegenüber Vergewaltigern praktiziert, schlägt das Pendel inzwischen zur anderen Seite aus. Der beschuldigte Mann muss beweisen, dass er zu unrecht beschuldigt wird. 

Kachelmann und Schwarzer

Wer wüsste das besser als der Schweizer TV-Moderator und Meteorologe Jörg Kachelmann, den eine Ex-Geliebte angezeigt hatte, worauf die Mannheimer Staatsanwaltschaft Anklage wegen besonders schwerer Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung erhob. Das Verfahren zog sich über ein Jahr hin und endete am 31. Mai 2011 mit einem Freispruch, der vier Monate später rechtkräftig wurde.

Es hatte Kachelmann seinen Ruf, sein Haus und seine Gesundheit gekostet. Und die BILD 395.000 Euro, die sie als Schmerzensgeld an Kachelmann zahlen musste, weil sie rufschädigend berichtet hatte.

Wobei sich die Alt-Feministin Alice Schwarzer, die der damalige BILD-Chefredakteur Kai Diekmann als Gerichtsreporterin verpflichtet hatte, mit Vorverurteilungen besonders hervortat. Sie zumindest scheint aus der Geschichte gelernt zu haben und hat bis jetzt nichts über Julian Reichelt gesagt.

Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche

 

Nachtrag: Inzwischen wurde das Compliance-Verfahren abgeschlossen. In einer Stellungnahme des Verlages heißt es:

„Der Vorstand ist zu dem Ergebnis gekommen, dass es nicht gerechtfertigt wäre, Julian Reichelt aufgrund der in der Untersuchung festgestellten Fehler in der Amts- und Personalführung – die nicht strafrechtlicher Natur sind – von seinem Posten als Chefredakteur abzuberufen.“ Reichelt selbst erklärte: „Ich weiß, ich habe im Umgang mit Kolleginnen und Kollegen Fehler gemacht und kann und will das nicht schönreden. Was ich mir vor allem vorwerfe ist, dass ich Menschen, für die ich verantwortlich bin, verletzt habe. Das tut mir sehr leid.“


Autor: Henryk M. Broder:
Bild Quelle: © Superbass / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons), CC BY-SA 4.0 , via Wikimedia Commons


Sonntag, 28 März 2021