Antisemitismus: Zweitausend Jahre Juden als Sündenbock

Antisemitismus: Zweitausend Jahre Juden als Sündenbock


Antisemitismus: Zweitausend Jahre Juden als Sündenbock

von Dr. von ManfredGerstenfeldManfred Gerstenfeld und Jamie Berk (direkt vom Autor)

Die Juden zum Sündenbock zu machen ist seit mehr als zweitausend Jahren ein weit verbreitetes Phänomen. Das Beispiel für den wohl am meisten angerichteten Schaden ist die Behauptung vieler Christen, dass alle Juden durch die Jahrhunderte hindurch für den Tod Jesu verantwortlich sind, für sie der Sohn Gottes. Diese frühe Schuldzuschreibung wurde zum Teil durch den Apostel Matthäus geschürt, der die Ansicht einführte,[1] die jüdischen Zeitgenossen Jesu beanspruchten die Verantwortung für seinen Tod, indem sie sagten „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“[2]

Ein solch extremer Vorwurf bedeutet, dass in den Augen dieser Christen Juden die Verkörperung des absolut Bösen waren: Sie waren zum Gottesmord nicht nur in der Lage, sondern auch schuldig ihn begangen zu haben. Die Beschuldigung der Juden, die Verkörperung des absolut Bösen zu sein, ist wiederum über die Jahrtausende das Kernmotiv des Antisemitismus geworden. Sie hat die Infrastruktur für eine Vielzahl anderer Formen geliefert die Juden zum Sündenbock zu machen, wobei zu zeitgenössischen Versionen die Beschuldigung mit einem unbegrenzten Spektrum falscher Anschuldigungen gehört. Im Verlauf der Jahrhunderte hat das zu massiven Pogromen, Vertreibungen und vielen anderen Formen der Diskriminierung von Juden geführt.

Ein Großteil der theoretischen Basis für die Analyse des Phänomens der Sündenbock-Zuweisung wurde vor mehreren Jahrzehnten vom in Frankreich geborenen Philosophen Rene Girard gelegt. Er schrieb: „Das oder die Opfer ungerechter Gewalt oder Diskriminierung werden Sündenböcke genannt, besonders wenn sie nicht für ‚die Sünden‘ anderer bestraft werden, wie die meisten Wörterbücher es definieren, sondern für Spannungen, Konflikte und Probleme aller Art… Jemanden zum Sündenbock zu machen ermöglicht es Verfolgern Probleme zu umgehen, die unlösbar erscheinen.“[3] Girards Definition deckt viele Aspekte von dem ab, wie Juden und Israel zum Sündenbock gemacht werden.

Teil der zeitgenössischen Sündenbockrolle der Juden und Israels gründet auf der Mutation immer wiederkehrender alter Hassmuster. Ein paar Beispiele illustrieren dies.

Ein klassisches Motiv des Schaffens von Sündenböcken behauptet, Juden würden andere vorsätzlich krank machen. Als im Mittelalter viele Europäer durch die als Schwarzer Tod bekannte Pest starben, wurden Juden zum Sündenbock gemacht und fälschlich beschuldigt die Epidemie durch Vergiften der Wasserbrunnen verursacht zu haben.

Gleichermaßen sind in den letzten Jahrzehnten Israelis von ägyptischen Medien übelwollend beschuldigt worden nach Ägypten exportiertes israelisches Obst und Gemüse zu vergiften.[4] 2007 gab es in Saudi-Arabien eine Panik, die von einem Gerücht verursacht wurde, Israel habe über einen geheimen „Boden-Korridor“ AIDS-infizierte Melonen ins Land geschmuggelt. Die saudische Regierung musste an die Öffentlichkeit gehen, um zu erklären, dass dieser Virus nicht über Obst an Menschen übertragen werden kann.[5] Auf dem Höhepunkt der Angst vor der Vogelgrippe schrieb 2006 die offizielle syrische Tageszeitung Al-Thawra, Israel habe den Virus bewusst entwickelt, um seine arabischen Nachbarn zu schädigen.[6] Diese Beispiele sind nur eine kleine Auswahl zeitgenössischer Beispiele dieses Untermotivs für das Schaffen von Sündenbocken.

Ein weiteres beliebtes Motiv für Sündenbock-Suche ist der Ritualmord-Vorwurf. Im christlichen Europa hat er seinen historischen Ursprung in englischen Norwich. 1144 wurde die jüdische Gemeinde fälschlich beschuldigt den zwölfjährigen christlichen Jungen William zu rituellen Zwecken getötet zu haben. Solche antisemitischen Ritualmord-Vorwürfe sind seitdem Jahrhunderte lang in christlichen Umfeldern lebendig erhalten worden, von wo aus sie sich in die muslimische Welt verbreiteten.[7]

Eine zeitgenössische Variante des Ritualmord-Vorwurfs beschuldigt Israel fälschlich der Organernte. Im August 2009 veröffentlichte die größte schwedische Tageszeitung, das sozialdemokratische Aftonbladet, einen Artikel von Donald Boström mit dem Titel „Våra söner plundras på sina organ“ (Unseren Söhne werden ihre Organe geplündert). Boström behauptete es gebe Gerüchte, dass die IDF Palästinenser tötet und ihre Organe für Transplantationen erntet – in geheimer Absprache mit dem israelischen Medizinbetrieb.[8]

Ein neues Element in Sachen Sündenbocksuche besteht darin, dass quantitative Daten zu seiner Bedeutung zur Verfügung stehen. Ein illustratives Beispiel betrifft die mörderischen Anschläge saudischer Muslime am 9/11 in den Vereinigten Staaten. Viele Muslime in der Welt schreiben sie nicht ihren Glaubensbrüdern zu, die sie verübten, sondern Israel. Eine Umfrage der University of Maryland von 2009 – acht Jahre nach den Massenmorden vom 9/11 in den USA – stellte fest, dass 31% der Jordanier, 19% der Palästinenser, 17% der Ägypter und 6% der Aserbaidschaner glaubten, Israel sei für die Anschläge vom 11. September verantwortlich gewesen.[9]

Eine von der offiziellen PA-Zeitung Al-Hayat al-Jadida kurz nach den Terroranschlägen auf Charlie Hebdo und den Hyper Cacher-Markt in Paris 2015 durchgeführte Umfrage zeigte, dass 84,4% der befragten Palästinenser glaubten, die „Anschläge seien suspekt und dass Israel dahinter stecken könnte“. Nur 8,7% der Befragten machten für die Anschläge den steigenden islamischen Fundamentalismus in Europa verantwortlich.[10]

Seit der Weltwirtschaftskrise der 1930-er Jahre sind Juden auch als Verursacher der globalen Finanzkrisen zum Sündenbock gemacht worden. Juden und Israel hat man für die weltweite Rezession von 2008 und die Krise der Eurozone verantwortlich gemacht. Eine Umfrage der Anti-Defamation League aus dem Jahr 2009 in sieben europäischen Ländern stellte fest, dass 31% der Befragten glaubten, Juden in der Finanzindustrie seien für den wirtschaftlichen Zusammenbruch verantwortlich.[11] Eine Umfrage der Boston Review unter Amerikanern im selben Jahr stellte fest, dass 38,4% der Befragten einen Teil der Verantwortung für die Rezession den Juden zuschrieben.[12]

Israel ist auch als Sündenbock Ursache für alle Unruhe im Nahen Osten. Einige westliche Politiker behaupten in böser Absicht, wenn Israel aufhören würde in den umstrittenen Gebieten Siedlungen zu bauen, dann würde die Gewalt im Nahen Osten aufhören; alternativ und völlig absurd wird behauptet, die Schaffung von Frieden zwischen Israel und den Palästinenser würde den massiven Tötungskampagnen an Muslimen durch andere nahöstliche Muslime ein Ende setzten.[13] Eine weitere Sündenbock-Variante besteht darin, Israel für die Verfolgung palästinensischer Christen durch palästinensische Muslime verantwortlich zu machen.[14]

Es ist höchste Zeit, dass der Staat Israel anfängt diejenigen systematisch zu entlarven, die dafür verantwortlich sind, dass Israel regelmäßig zum Sündenbock gemacht wird und falschen Anschuldigungen ausgesetzt ist. Wo möglich, sollte Israel besonders die Verbrechen, derer es beschuldigt wird, denen zuordnen, die sie begehen und die oft Muslime, manchmal auch andere sind.

 

[1] Manfred Gerstenfeld. Interview mit Pieter van der Horst: Antisemitische Elemente im Neuen Testament. abseits vom mainstream, 20. Mai 2013

[2] Matthäus 27,25

[3] Rene Girard: The Scapegoat. Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1989, S. 74.

[4] Anti-Semitism in the Egyptian Media. Anti-Defamation League 1997.

[5] Roee Nahmias: Israeli Melons have Aids. YNet, 13. April 2007.

[6] Roee Nahmias: Syria: Israel Behind Bird Flu. YNet, 2. September 2006.

[7] Meir Litvak: The Development of Arab Anti-Semitism. The Jerusalem Center for Public Affairs, 2. Februar 2003.

[8] Donald Boström: Våra söner plundras på sina organ. Aftonbladet, 17. August 2009. S. auch: Mikael Tossavainen: The Aftonbladet Organ-Trafficking Accusations against Israel: A Case Study. Post-Holocaust and Anti-Semitism, 95, 1. März 2010.

[9] Steven Kull et.al.: Public Opinion in the Islamic World on Terrorism, al Qaeda, and US Policies. The Program on International Policy Attitudes, University of Maryland, 25. Februar 2009.

[10] Judah Ari Gross: Most Palestinians think Israel involved in Paris attacks — poll. The Times of Israel, 26. Januar 2015.

[11] Attitudes Toward Jews in Seven European Countries. Anti-Defamation League, Februar 2009.

[12] Neil Mahotra/Yotam Margalit: State of the Nation: Anti-Semitism and the Economic Crisis. The Boston Review, 1. Mail 2009.

[13] Jeffrey Goldberg: Middle East Mess Isn’t About Settlement. Bloomberg View, 23. Dezember 2013.

[14] Raymond Ibrahim: Blaming Israel for Christian Persecution. FrontPage Magazine, 6. November 2013.

 

Erstveröffentlicht bei Heplev

 

Lesen Sie hierzu auch:

 

Dr. Manfred Gerstenfeld bei haOlam.de (Auswahl):


Autor: joerg
Bild Quelle:


Dienstag, 02 Juni 2015

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