Warum Antisemitismus Teil der europäischen Kultur ist

Warum Antisemitismus Teil der europäischen Kultur ist


Warum Antisemitismus Teil der europäischen Kultur ist

von Dr. Manfred Gerstenfeld

Antisemitismus ist nicht nur Teil der Geschichte Europas, sondern auch ein Bestandteil seiner Kultur. Die lang andauernde antisemitische Geschichte Europas ist mit Verleumdung, Diskriminierung, zweierlei Maß, Pogromen, Vertreibungen und anderer Verfolgung angefüllt. Sie erreichte ihren absoluten Tiefpunkt im Holocaust. Der Völkermord wurde nicht nur von Deutschen und Österreichern begangen, sondern auch von vielen Kollaborateuren in den besetzten Ländern, die nicht unbedingt alle für die Nazis waren.

Soweit es den Holocaust betrifft, gestanden fast alle besetzten Länder irgendwann die Wahrheit ein, dass sie versagt und in unterschiedlichem Grad mit den Nazis kollaboriert hatten. Die meisten entschuldigten sich.[1] Vor ein paar Wochen wurde Luxemburg zum neuesten Land, das dies tat.[2] Die große Ausnahme sind die Niederlande. Der derzeitige Premierminister Mark Rütte (Liberale Partei) gab vor kurzem zum zweiten Mal eine nichtssagende Antwort auf eine Anfrage im Parlament, um zu vermeiden das skandalöse Versagen der niederländischen Regierung der Kriegszeit zugeben zu müssen. Während des Exils in London zeigte sie kein Interesse an dem stattfindenden Massenmord – die Vernichtung von drei Vierteln der 140.000 niederländischen Juden durch die deutschen Besatzer.[3] Die jüdische Gemeinschaft war schon seit Jahrhunderten in den Niederlanden präsent gewesen.

Während es wenig Diskussion zur antisemitischen Geschichte Europas gibt, ist bezüglich des Antisemitismus als Bestandteil der europäischen Kultur eine detailliertere Erklärung nötig und wohl bezüglich seiner Juden ein dominierender Teil. Um jeglichem Missverständnis aus dem Weg zu gehen: Das heißt nicht, dass heute die meisten Europäer Antisemiten sind.

Der gerade verstorbene, führende Antisemitismus-Wissenschaftler Robert Wistrich hat viel zur Infrastruktur beigetragen, durch die verstanden und bewiesen wird, dass Antisemitismus ein integraler Bestandteil der europäischen Kultur ist.

Vor ein paar Jahren lud ich ihn ein, beim Jerusalem Center for Public Affairs über die Tradition des europäischen intellektuellen Antisemitismus zu sprechen. Wistrich erklärte, dass christliche Geistliche und viele führende christliche Theologen im Mittelalter und die Jahrtausende hindurch „Verachtung des jüdischen Volks lehrten“. Solche Credos beschränkten sich nicht auf die katholische Kirche. Zum protestantischen Reformator Martin Luther erklärte Wistrich: „Seine Angriffe auf Juden gehören zu den brutalsten in der Geschichte antisemitischer Diffamierung.“

Wistrich führte detailliert auf, wie intellektuelle Trends in Europa die Mutation des Antisemitismus jeweils beeinflussten. Er erklärte, wie die antisemitische jüdische Tradition sich während der Aufklärung fortsetzte und illustrierte das mit dem Hass, den Voltaire für das jüdische Volk hegte. Wistrich erwähnte auch die folgende Generation Antisemiten, so die idealistischen deutschen Philosophen des 18. und 19. Jahrhunderts, darunter Kant, Hegel, Schopenhauer und später Karl Marx.

Er führte an, dass mit seltenen Ausnahmen die französischen Sozialisten des frühen 19. Jahrhunderts die Grundlagen des Antisemitismus des späten 19. Jahrhunderts legten. Er merkte an, dass Edouard Drumonts antisemitisches Werk La France Juive (Das jüdische Frankreich) ein Bestseller seiner Zeit war. Es gab etwa einhundert Auflagen.

Wistrich fügte hinzu, dass ein großer Teil des Nationalsozialismus, des Faschismus und sogar einige Arten des Sozialismus – die wichtige antiintellektualistische Komponenten haben – ebenfalls intellektuelle Gründer hatten.[4] In seinem wichtigen Buch A Lethal Obsession (Eine tödliche Besessenheit) widmete Wistrich ein ansehnliches Kapitel dem, was er „die alt-neuen Judeophoben Britanniens“ nannte. Er erwähnte den weit verbreiteten Antisemitismus in den britischen Literaturklassikern über die Jahrhunderte. Er schrieb, dass im Vereinten Königreich „antisemitische Gefühle auch Teil des Diskurses des Mainstreams sind, die bei den akademischen, politischen und Medien-Eliten stetig wieder aufkommen“.[5]

Viele weitere Beispiele, dass Antisemitismus Teil der europäischen Zivilisation ist, sind in David Nirenbergs Buch „Anti-Judaism, the Western Tradition“ (Die westliche Tradition des Antijudaismus) zu finden.[6]

Eine Reihe führender europäischer Romanautoren waren extreme Antisemiten. Einer der berühmteren war der Franzose Louis-Ferdinand Céline, der nach dem Zweiten Weltkrieg wegen Kollaboration mit der Besatzungsmacht verurteilt wurde.[7] Es gibt zudem auf Gebäuden wie der Kathedrale Notre Dame in Paris alte antisemitische Skulpturen.[8] In der europäischen populären Kultur – z.B. in Zeichnungen und Karikaturen – findet man ebenfalls antisemitische Leitgedanken. Das Studentenaustauschprogramm der Europäischen Union ist nach dem fanatischen Antisemiten Erasmus benannt.[9] Die Universität von Rotterdam ebenfalls.

Es ist ein Fehler zu glauben, dass der Nationalsozialismus und seine boshafte „Kultur“ mit der Niederlage Deutschlands im Jahr 1945 endeten. Viele Nazis behilten ihre Ideen. Manche versuchten ihre Kinder mit der Nazi-Ideologie zu füllen. Nach dem Krieg gab es in Deutschland nicht genug unbefleckte Richter und Beamte, um die benötigten Regierungsposten zu besetzen. Zu den früheren Nazis, die hohe Posten im Nachkriegsdeutschland besetzten, gehörte der Christdemokrat Kurt Georg Kiesinger, der von 1966 bis 1969 Bundeskanzler war. Sogar viele der Ärzte, die jüdische Überlebende untersuchten, die aus gesundheitlichen Gründen Ansprüche stellten, hatten einen Nazi-Hintergrund.[10]

Wenn man fragt, wer der wichtigste Nachkriegsphilosoph Europas war, werden viele Martin Heidegger nennen. Seine vor kurzem veröffentlichten Notizbücher lassen keinen Zweifel aufkommen, dass seine Ideenwelt zutiefst antisemitisch war.[11]

Die Tatsache, dass eine beträchtliche Zahl heutige Europäer der Aussage zustimmen, dass „Israel einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser führt“, ist ein wichtiges Beispiel des zeitgenössischen europäischen Antisemitismus. Diese Äußerung wurde von mehr als 40% der EU-Bürger im Alter über 16 Jahre für korrekt erachtet. Das passt perfekt in die antisemitische Kultur Europas.[12]

Der amerikanische Politikwissenschaftler Andrei Markovits fasst ein Schlüsselelement der gegenwärtigen europäischen Realität prägnant zusammen: „Europa hat eine ungelöste, wichtige Beziehung zu seiner Vergangenheit. Das ständige Analogisieren der Israelis mit den Nazis erfolgt aus dem europäischen Bauch heraus. Das ist natürlich eine doppelte Unverschämtheit. Damit entlasten sich die Europäer von ihrer eigenen Geschichte. Gleichzeitig gelingt es ihnen ihre früheren Opfer zu beschuldigen sich so zu verhalten wie die schlimmsten Täter der eigenen Seite.“[13]

Die Führungskräfte des Kontinents, auf dem der Nationalsozialismus geboren wurde und florieren durfte, widmen heute relativ wenig ihrer Mahnungen der naziartigen Politik und Äußerungen, die aus den diversen Terrororganisationen des Nahen Ostens kommen. Deren Werbung für den Völkermord ist kein Hiter-Nazismus, sondern ein Nazismus, der aus Teilen des Islam stammt.

Das nächste Mal, wenn Repräsentanten Europas Israel wegen seiner Politik kritisieren, sollte die israelische Antwort lauten, dass sie sich angesichts der Vergangenheit Europas besser auf den Islamo-Nazismsu konzentrieren sollten. Die Offiziellen der EU und ihrer Mitgliedsstaaten, die ständig und unverhältnismäßig Israel abmahnen, stehen auf unmoralischen Füßen.

[1] Manfred Gerstenfeld: The Abuse of Holocaust Memory: Distortions and Responses. Jerusalem, The Jerusalem Center for Public Affairs, 2009, S. 136-150.

[2] EJC welcomes Luxembourg apology for role in Holocaust. European Jewish Congress, 11. Juni 2015.

[3] Gerstenfeld: The Abuse of Holocaust Memory: Distortions and Responses, S. 141.

[4] Manfred Gerstenfeld interviewt Robert Wistrich: Intellectuals and anti-Semitism: a millenial tradition. Jewish Tribune, 13. August 2013.

[5] Robert S. Wistrich: A Lethal Obsession. Anti-Semitism from Antiquity to Global Jihad. New York (Radom House) 2010.

[6] David Nirenberg: Anti-Judaism: The Western Tradition. New York (W. W. Norton) 2014.

[7] Antoine Peillon: Céline, un antisémite exceptionnel. Une Histoire française. Lormon: Le Bord de l’eau, 2011.

[8] Toni L. Kamins: Notre-Dame de Paris to Prague, Europe’s anti-Semitism is literally carved in stone. JTA, 20. März 2015.

[9] Hans Jansen: Protest Van Erasmus Tegen Renaissance Van Hebreeuwse Literatuur. Heerenveen (Groen) 2010.

[10] Manfred Gerstenfeld, Interview mit Nathan Durst in: Europe’s Crumbling Myths, The Post-Holocaust Origins of Today’s Anti-Semitism. Jerusalem, Jerusalem Center for Public Affairds, Yad Vashem, WJC 2003, S. 128-136.

[11] Philip Oltermann: Heidegger’s ‘black notebooks’ reveal antisemitism at core of his philosophy. The Guardian, 13. März 2015.

[12] library.fes.de/pdf-files/do/07908-20110311.pdf

[13] Manfred Gerstenfeld, Interview mit Andre S. Markovits: European Anti-Americanism and Anti-Semitism: Similarities and Differences. Post-Holocaust and Anti-Semitism Nr. 16, Januar 2004.

 

Erstveröffentlicht bei Heplev

 

Lesen Sie hierzu auch:

 

Dr. Manfred Gerstenfeld bei haOlam.de (Auswahl):

 

 


Autor: joerg
Bild Quelle:


Donnerstag, 02 Juli 2015

Waren diese Infos wertvoll für Sie?

Sie können uns Danke sagen. Geben Sie einen beliebigen Betrag zurück und zeigen Sie damit, wie viel Ihnen der Inhalt wert ist.




empfohlene Artikel
weitere Artikel von: joerg

Folgen Sie und auf:


meistgelesene Artikel der letzten 7 Tage