Erdogan hat sich verzockt

Erdogan hat sich verzockt


Die Republik Türkei, lange ein sich demokratisierendes muslimisches Land, das fest im westlichen Lager stand, findet sich heute intern geplagt und im Zentrum zweier externer Krisen wieder: dem Bürgerkrieg nebenan in Syrien und der illegalen Immigration, die die europäische Politik verändert. Die Perspektiven für die Türkei und ihre Nachbarn sind Besorgnis erregend, wenn nicht gar Unheil verkünden.

Erdogan hat sich verzockt

von Prof. Dr. Daniel Pipes, The Australian

 

Die Schlüsselentwicklung war, dass 2002 Recep Tayyip Erdoğan an die Macht kam, als ein glücklicher Wahlausgang ihm die totale Kontrolle über die Regierung gab; er schlug daraus brillant Kapital, um eine persönliche Herrschaft aufzubauen. Nach Jahren der Zurückhaltung und Bescheidenheit kam seine wahre Persönlichkeit zum Vorschein: hochtrabend, islamistisch und aggressiv. Heute strebt der die Herrschaft als Despot an, eine Ambition, die seinem Land unaufhörliche, vermeidbare Probleme bereitet.

 

Anfangs erlaubte Erdoğans diszipliniertes Herangehen an die Finanzpolitik der türkischen Wirtschaft ein an China erinnerndes Wirtschaftswachstum, das ihm zunehmende Unterstützung der Wähler einbrachte und Ankara zu einem neuen Spieler in der Region machte. Doch dann schnitten Verschwörungstheorien, Korruption, Kurzsichtigkeit und Inkompetenz das Wachstum ab und machten die Türkei wirtschaftlich verletzlich.

 

Anfangs unternahm Erdoğan nie da gewesene Schritte zur Lösung des Kurdenproblems seines Landes; er erkannte an, dass diese rund 20 Prozent der Bevölkerung des Landes stellende ethnische Minderheit ihre eigene Kultur hat und gestattete ihr den Gebrauch der eigenen Sprache. Doch dann vollzog er letztes Jahr aus wahltaktischen Gründen eine abrupte Umkehr, was in einem stärker als je zuvor entschlossenen kurdischen Aufstand resultierte, was so weit ging, dass sogar ein Bürgerkrieg erwartet werden konnte.

 

Zuerst erkannte Erdoğan die traditionelle Autonomie der wichtigen Institutionen des türkischen Lebens an: Gerichte, Militär, Presse, Banken, Schulen. Dem ist nicht länger so; heute will er alles kontrollieren. Nehmen wir den Fall zweier prominenter Journalisten, Can Dündar und Erdem Gül: Weil ihre Zeitung Cumhuriyet die heimliche Unterstützung der türkischen Regierung für den Islamischen Staat (ISIS) offenlegte, ließ Erdoğan sie aufgrund surrealer Vorwürfe der Spionage und des Terrorismus inhaftieren. Schlimmer noch: Als das Verfassungsgericht (das oberste Gericht der Türkei) sein Urteil umkehrte, beschuldigte Erdoğan das Gericht "gegen das Land und sein Volk" zu urteilen und deutete an, er würde die Entscheidung ignorieren.

 

Anfangs pflegte Erdoğan vorsichtige und korrekte Beziehungen zu Moskau, profitierte wirtschaftlich und nutzte Russland als Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten. Doch seit dem unverantwortlichen Abschuss eines russischen Kampfflugzeugs im letzten November, dem ein trotziges Fehlen einer Entschuldigung folgte, hat der kleine Schläger (Erdoğan) in dem großen Schläger (Russlands Wladimir Putin) mehr als seinen Meister gefunden und die Türkei zahlt den Preis dafür. Der französische Präsident François Hollande hat öffentlich vor "dem Risiko eines Krieges" zwischen der Türkei und Russland gewarnt.

 

Anfangs sorgte Erdoğans kulante Politik für eine Beruhigung der Innenpolitik; heute hat seine Kampflust zu einer Kette kleiner und großer Gewalttaten geführt. Um alles noch schlimmer zu machen sind viele davon in Sachen Herkunft und Ziel undurchsichtig, bauen Paranoia auf. Bevor zum Beispiel die kurdische Gruppe TAK die Verantwortung für den Bombenanschlag vom 13. März für sich reklamierte, bei dem nahe des Büros des Premierministers in Ankara 37 Personen getötet wurden, wurde die Verantwortung für den Anschlag wechselnd Kurden, ISIS und der türkischen Regierung zur Last gelegt. Es wurde interpretiert, dass er eine energischere Kampagne gegen einheimische Kurden rechtfertigen oder die Regierung für die Angriffe auf die Kurdenbestrafen sollte; um eine militärische Invasion Syriens durch die Türken anzuregen oder Erdoğan politischen Erzfeind, die Gülen-Bewegung zu verleumden.

 

Anfangs wurde die Türkei Dank Erdoğans gefälligem Verhalten zu einem überzeugenden Kandidaten für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Heute bedeutet sein Abrutschen in den Despotismus und Islamismus, dass die Europäer lediglich die Anträge durchgehen, mit denen man vorgibt mit Ankara zu verhandeln, während sie darauf zählen, dass die Republik Zypern gegen den Aufnahmeantrag stimmen wird. So vermerkt der türkische Journalist Burak Bekdil: "Die moderne Türkei ist nie so galaktisch weit von den Kernwerten entfernt gewesen, die von der europäischen Zivilisation und ihren Institutionen verankert sind."

 

In den ersten Monaten des syrischen Aufstands bot Erdoğan Bashar al-Assad, dem Diktator in Damaskus, weisen Rat, er solle seinen Griff lockern und politische Teilhabe erlauben. Die Dinge sind derart in die Hose gegangen, dass - wie Dündar und Gül berichteten - Erdoğan heute ISIS unterstützt, die heute und vielleicht jemals fanatischste und islamistischste Gruppe. Diese Unterstützung hat viele Formen: Er erlaubt Ausländern durch die Türkei nach Syrien zu reisen; er gestattet die Rekrutierung in der Türkei, bietet medizinische Hilfe und liefert Geld und Waffen. Aus Angst vor Verrat durch Ankara bedroht ISIS Türken und greift sie an.

 

Erdoğans Fehler der Unterstützung von ISIS und weiterer sunnitischer Islamisten-Organisationen in Syrien hat ihm auf eine weitere Weise geschadet; es führte zu einem massiven Zustrom syrischer Flüchtlinge in die Türkei, wo sie - der einheimischen Bevölkerung zunehmend unwillkommen - neue soziale und wirtschaftliche Spannungen verursachen.

Was uns zu Erdoğans jüngstem Schachzug bringt. Die vielen syrischen Flüchtlinge, die weiter nach Nordwesteuropa ziehen wollen, bieten ihm einen praktischen Mechanismus die Europäische Union zu erpressen: Zahlt mir riesige Geldsummen (nach neuerster Zählung €6 Milliarden) und erlaubt 80 Millionen Türken visafrei in eure Länder zu reisen oder ich werden weitere unwillkommene Syrer, Iraker, Afghanen, Somalier usw. bei euch abladen.

 

Bisher hat die Masche funktioniert. Angeführt von Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel sind die Europäer vor Erdoğans Forderungen eingeknickt. Aber das könnte sich durchaus als Pyrrhussieg herausstellen, der Erdoğans langfristigen Interessen schadet. Zunächst schafft, die Europäer zu zwingen vorzugeben, dass sie nicht erpresst werden und die Türkei mit zusammengebissenen Zähnen willkommen zu heißen, schlechte Laune und verringert die türkischen Chancen auf Mitgliedschaft weiter, wenn es sie nicht sogar beendet.

 

Zweitens hat Erdoğans Spiel einen tiefgehenden und wahrscheinlich dauerhaften Stimmungswechsel in Europa gegen die Akzeptanz immer mehr Immigranten aus dem Nahen Osten - einschließlich Türken - ausgelöst, wie die schwachen Zahlen für Merkels Partei bei den Wahlen Anfang dieses Monats demonstrierten.

 

Das ist nur der Anfang. Zusammengenommen deuten diese Fehler Erdoğans auf weitere vor ihm liegende Krisen hin. Gökhan Bacik, Professor an der Ipek-Universität in Ankara hält fest: "Die Türkei sieht sich einer vielfältigen Katastrophe gegenüber", deren Ausmaß "jenseits dessen liegt, was die Türkei verarbeiten kann". Wenn der Iran die heute größte Gefahr des Nahen Ostens ist, dann ist die Türkei die morgige.

 

 

Übersetzt von H. Eiteneier

 

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Dienstag, 29 März 2016