Zunehmend heftigere Mediendebatte um Brexit-Abstimmung

Zunehmend heftigere Mediendebatte um Brexit-Abstimmung


Im Zusammenhang mit den anhaltenden Brexit-Debatten in den britischen Massenmedien gab es am Dienstag ein erstes Opfer: Der Familiensender ITV opferte seine journalistische Unabhängigkeit auf dem Altar der politisch opportunen Gefälligkeitspropaganda.

Zunehmend heftigere Mediendebatte um Brexit-Abstimmung

von Ramiro Fulano


ITV ist hierzulande vielleicht weniger bekannt als die BBC, gilt aber als einer der einflussreichsten Fernsehsender von Groß Britannien – gewissermaßen das RTL der britischen Inseln, nur mit besseren Eigenproduktionen: Von „Das Haus am Eaton Place“ über „The Prisoner“ und „Mit Schirm, Charme und Melone“ bis „Downton Abbey“ kamen fast alle international völlig zurecht renommierten britischen Fernsehserien aus dem Funkhaus am Südufer der Themse.
Beim aktuellen Zeitgeschehen jedoch konnte ITV sich mangels finanzieller und personeller Ressourcen nie wirklich gegen die Staatsfunker der BBC behaupten, wobei der Privatsender sowohl mit der Hauptausgabe um 22h als auch mit den Regionalnachrichten um 19h recht hohe Reportage-Standards erreicht. Es muss also nicht verwundern, dass auch ITV im Reigen der Brexit-Debatten auf Sky (wir berichteten), Channel 4 und BBC 2 (Andrew Neils „Daily Politics“) sein Tanzbein schwingen wollte.


Julie Etchingham („Tonight“) moderierte für je eine halbe Stunde Fragen an Nigel Farage und David Cameron, die von einem handverlesenen Live-Publikum vorgetragen wurden. Also von Personen, die entsprechend dem journalistischen Anspruch dieses Formats einen polit-demografisch repräsentativen – und dabei auch noch telegenen! – Querschnitt des Vereinigten Königreichs darstellen sollten.


Wie heute bekannt wurde, hat ITV sich bei der Auswahl seines Publikums jedoch weniger von statistischen als von politischen Kriterien leiten lassen. Denn bei zumindest einer der vermeintlichen „Stimmen des Volkes“ handelt es sich keineswegs um jemand „wie du und ich“. Sondern um eine bislang wenig beachtete Produzentin von Podcasts, die Huffington-Post-Bloggerin Imriel Morgan, ihres Zeichens Geschäftsführerin des „Shout Out Networks“, dem außer ihr noch eine weitere Person angehört – sowie ein Publikum, das sich an einer Hand zählen lässt.
Ja richtig, liebe Leserinnen und Leser: Das ist in etwa so, als käme die HaOlam-Redaktion bei Maybrit Illner als typische Stimme der deutschen Öffentlichkeit zu Wort. 


Und wir wissen das nicht etwas aus Gerüchten, sondern aus dem Mund von Ms Morgan selbst. Denn mit fast schon kriminellem Stolz brüstete sie sich am nächsten Morgen im Programm des populären Radiosenders Talk2MeRadio damit, von ITV auf Grund ihrer „politischen“ Ansichten eingeladen worden zu sein. Somit ist Ms Morgan also gewissermaßen über Nacht zur Berühmtheit gelangt, wobei ich zu behaupten wage, dass man sie weder bei ITV noch in 10 Downing Street weiterhin kennen möchte.


Allerdings hat Frau Morgan die derzeit gerade angesagten opinions chiques im Programm: Von Boris Johnson, dem ehemaligen Bürgermeister von London, behauptet sie, er hätte „eine Geschichte des Rassismus“ und wäre überhaupt „ein grauenhafter Mensch“. Noch-Präsident Obama hätte die Einwohner von Ferguson ihrer Meinung nach nicht an weiteren Ausschreitungen hindern dürfen. Und vom UKIP-Chef Nigel Farage wähnt sie, er stünde „am Rande der Gesellschaft“. 


Mit der zuletzt geäußerten Ansicht scheint sie sich bei ITV als authentische Durchschnittsbritin für ein Rededuell gegen Mr Farage empfohlen zu haben – Gefälligkeitspropaganda, wie gesagt. Hatte ich schon erwähnt, dass ITV exzellente Unterhaltungsserien produziert? Wenn man Kostümdramen mag, gibt es nichts Besseres.


Nun ist es das eine, über die Realität zu berichten. Aber es ist etwas ganz Anderes, jene Realität erst zu inszenieren, über die man gerne berichten würde. Die von Julie Etchingham moderierte Fragestunde mit Live-Publikum machte auf mich tatsächlich für ungefähr zehn Minuten den Eindruck, zur erstgenannten Kategorie zu gehören und nichts weiter zu sein als das, was in der Ankündigung stand: eine Fragestunde mit Live-Publikum, moderiert von Ms Etchingham. (Anne Will in blond. Ohne Cornelia Scheel.)
Aber dann kam Ms Morgan, das Implantat aus dem „Shout Out Network“, zu Wort. Wie es denn sein könne, so eine deutlich um Kohärenz bemühte Frau Morgan, dass diese Brexit-Idee dieses Mr Farage samt seiner Einwanderungspolitik nichts weiter als noch mehr Rassismus bewirke?! 


Was Ms Morgan der Brexit-Kampagne anscheinend vorzuwerfen versuchte, war die von ihr in Teilen (und keineswegs in den zahlenmäßig tonangebenden Teilen) gehegte Vorliebe für ein Punktesystem nach australischem oder kanadischem Vorbild. Also Einwanderungsquoten nach Qualifikation, und eben nicht nach Herkunft. 


Es scheint nicht unwahrscheinlich, dass diese Teppichmine mit dem politischen Segen „politisch“ interessierter Kreise gelegt wurde. Apropos: Mr Cameron, der Premierminister, war sieben Jahre lang der Werbeleiter der ITV Holding Carlton Communications – honi soit qui mal y pense.


Wer sich einen persönlichen Eindruck von Ms Morgan und ihren wirren Ideen verschaffen möchte, kann sich z.B. den eineinhalbstündigen Podcast von den „Melanin Millenials“ auf dem „Shout Out Network“ zu Gemüte führen, dessen Geschäftsführerin sie ist und das abgesehen von ihr aus noch einer – in Worten: einer – weiteren Person besteht. Ms Morgan dürfte also von Menschen, die „am Rande der Gesellschaft“ stehen, etwas verstehen.


Was die rhetorische Leistung der Kandidaten betraf, muss ich sagen, dass Mr Cameron bei seinem Heimspiel vor – wie soll man das jetzt sagen, damit es möglichst diplomatisch klingt – „besonders sorgfältig“ ausgewähltem Publikum durchaus zu bestehen wusste: Das war der „Call-me-Dave“, den man aus dem Wahlkampf in Erinnerung hatte. 


Keine Spur von einer Schallplatte mit Sprung. Der wurde anscheinend übers Wochenende ausgebügelt (und dabei soll doch in Großbritannien so schönes Segelwetter gewesen sein). Mr Cameron wirkte gelassen, engagiert, kompetent und spontan – auch wenn einige seiner Lieblingsformulierungen einem inzwischen zu den Ohren rauskommen.


Allein: Es scheint nicht viel genützt zu haben. Denn wie die Zuschauerbefragung durch den Times Red Box Index während der Sendung registrierte, ließ sich nur ein verschwindend geringer Prozentsatz (2%) der unentschiedenen Wählerinnen und Wähler von Mr Cameron für einen Verbleib des UK in der EU gewinnen – während 62% der Unentschiedenen nach seinem Auftritt einen Brexit befürworteten. 


Offenbar hilft es der Argumentation für den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU nicht, in einer Inszenierung polit-demographischer Repräsentativität rhetorisch eloquent vorgebracht zu werden. Während alle Versuche, Mr Farage das Wort im Mund rum zu drehen, ihn nicht ausreden zu lassen und ihn ins Sperrfeuer zweckdienlich ausgewählter Durchschnittsbloggerinnen (die gleichzeitig CEOs eines „Shout Out Networks“ sind) zu schicken, dem Brexit bei weitem mehr genützt als geschadet haben. 


Liebes ITV: Man erkennt die Absicht und ist verstimmt. Aber hatte ich schon erwähnt, dass ihr echt tolle Historienschinken produziert? Vielleicht könnt ihr ja in zwanzig Jahren mal die Geschichte des Brexit verfilmen!

 

 

http://www.express.co.uk/news/uk/678032/Brexit-boost-Nigel-Farage-Cameron-EU-Europe-Referendum
http://www.breitbart.com/london/2016/06/08/race-baiting-farage-questioner-itv-invited-black-podcast/ 
http://www.breitbart.com/london/2016/06/08/itv-race-baiting-audience-member-said-one-month-ago-boris-racist-people-stupid-im-pro-eu/


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Donnerstag, 09 Juni 2016