Islamischer Antisemitismus - was ihn ausmacht und wie er entstand

Islamischer Antisemitismus - was ihn ausmacht und wie er entstand


Die Bezeichnung „islamischer Antisemitismus“ bezieht sich weder generell auf den Islam, dessen Texte auch pro-jüdische Passagen enthalten noch pauschal auf Muslime, von denen nicht wenige den Antisemitismus ablehnen. Islamischer Antisemitismus meint eine spezifische Ausprägung von Judenhass, die besondere Kennzeichen aufweist, besondere Konsequenzen nach sich zieht und deshalb auch gezielt zu bekämpfen ist. Wodurch unterscheidet sich der islamische Antisemitismus von anderen Erscheinungsformen des Judenhasses?

Islamischer Antisemitismus - was ihn ausmacht und wie er entstand

Von Dr. Matthias Küntzel


Zuerst erschienen bei: mena-watch, 07. Juni 2018

Beim Versuch einer begrifflichen Eingrenzung ist erstens zwischen dem religiös motivierten Antijudaismus, der die vormodernen Schriften des Islam dominiert, und dem europäisch geprägten Antisemitismus seit dem 19. Jahrhundert zu differenzieren. Antijudaismus ist Judenhass im religiösen Gewand: Dadurch, dass Juden konvertierten, konnten sie immerhin überleben. Demgegenüber zeichnet sich der Antisemitismus durch rassistische Zuschreibungen sowie das Phantasma jüdischer Allmacht aus. Während beim Antijudaismus alles Jüdische als Böse gilt, hält der Antisemit alles „Böse“ für jüdisch.

 

Zweitens ist zu berücksichtigen, dass sich das Judenbild des christlichen Antijudaismus von dem des muslimischen Antijudaismus unterscheidet.

 

Mohammed war in der Lage, die Juden von Medina zu vertreiben und Hunderte von ihnen zu töten. Deshalb pflegten Muslime auf die Juden herabzublicken. Im Sommer 2014 wurde dieser degradierende Blick mittels der Parole „Jude, Jude, feiges Schwein, komm‘ heraus und kämpf‘ allein“, die junge Muslime skandierten, sinnfällig. Im April 2018 wollte ein Araber sein Gegenüber ebenso gezielt demütigen, als er in Berlin einen Kippa-Träger mit einem Gürtel peitschte.[1]

 

Hingegen hat im christlichen Antijudaismus nicht der Prophet die Juden getötet, sondern die Juden den Propheten, weshalb der christliche Antijudaismus sie als dunkle und übermächtige Instanz dämonisiert. Nur auf christlichem Boden konnte deshalb die Propaganda von der „jüdischen Weltverschwörung“ sprießen und gedeihen.

 

Judenhass aus Christentum und Islam vereint

 

Auf Basis dieser Unterscheidungen lässt sich ausmachen, was den islamischen Antisemitismus von anderen Formen des Antisemitismus unterscheidet: Nur hier bilden der degradierende Antijudaismus des Frühislam mit dem verschwörungsbezogenen Antisemitismus der Moderne eine Einheit. Nur hier werden die negativsten Judenbilder aus Christentum und Islam vereint.

 

Ein Musterbeispiel liefert die Charta der Hamas. In Artikel 7 zitiert diese Charta den Propheten Mohammed mit einem vermeintlichen Zitat, demzufolge die Muslime die Juden töten werden, „bis sich der Jude hinter Stein und Baum verbirgt, und Stein und Baum dann sagen: Oh Muslim, oh Diener Gottes! Da ist ein Jude hinter mir. Komm und töte ihn.“[2] In Artikel 22 heißt es demgegenüber, dass die Juden „hinter dem Ersten Weltkrieg […] und hinter dem Zweiten Weltkrieg (standen)“ und die „Bildung der […] Vereinten Nationen […] anregten, um damit die Welt zu beherrschen.“[3]

 

Wir sehen: Dieser Text porträtiert die Juden gleichzeitig als Schwächlinge, die fliehen und sich hinter Bäumen und Steinen verstecken müssen und als die heimlichen und eigentlichen Herrscher der Welt. Diese Kombination ist natürlich absurd. Doch werden beide Komponenten durch sie verstärkt: der europäische Antisemitismus wird durch das fanatische Moment des radikalen Islam neu aufgeladen, während das althergebrachte Judenbild des Koran durch Zugabe der Weltverschwörungstheorie eine neue, jetzt auch eliminatorische Dimension erfährt.

So gehört zu den Standardformeln des islamischen Antisemitismus die Behauptung, dass es die Juden und Israel überall und schon immer darauf abgesehen hätten, den Islam zu unterminieren und schließlich zu zerstören.

Schon während der Dreißigerjahre verbreitete Amin el-Husseini, der Mufti von Jerusalem, das Gerücht, Juden wollten die heiligen Stätten des Islam in Jerusalem zerstören. In den Fünfzigerjahren griff der Muslimbruder Sayyid Qutb diese Lüge in seinem Pamphlet „Unser Kampf gegen die Juden“ auf. „Der erbitterte Krieg, den die Juden gegen den Islam angezettelt haben“, heißt es hier, „ist ein Krieg, der in beinahe vierzehn Jahrhunderten nicht für einen einzigen Moment unterbrochen worden ist“. Dieser Kampf setze „sich gewalttätig fort und wird auf diese Weise weitergehen, weiI die Juden erst mit der Zerstörung des Islam zufrieden sein werden.“[4]

Auch hier werden das siebte und das zwanzigste Jahrhundert vermischt und Zitate aus dem Koran mit dem Phantasma einer Weltverschwörung verrührt. Das Muster dieser paranoiden Opfer-Phantasie ist vom Nationalsozialismus bekannt: Der eigene Vernichtungswunsch wird dadurch legitimiert, dass man ihn auf die Juden projiziert. Diese Sichtweise impliziert eine totale Konfrontation, die nur mit dem vollständigen Sieg der einen oder der anderen Seite enden kann. Für Kompromisse lässt sie keinen Platz.

 

Wie der islamische Antisemitismus entstand

 

Der islamische Antisemitismus [5] wurde erst vor 80 Jahren unter maßgeblicher Beteiligung der Propaganda-Apparate Berlins erfunden. Seit 1937 suchten die Nazis den latenten Antijudaismus der Muslime zu radikalisieren, um den britischen Plan einer Zwei-Staaten-Lösung für Palästina („Peel-Plan“) zu torpedieren, da dieser auch die Schaffung eines jüdischen Teilstaats vorsah.

 

Nachdem diverse Versuche, den europäischen Antisemitismus in Reinform in die islamische Welt zu exportieren, gescheitert waren, entdeckten die Nazis in Zusammenarbeit mit Amin el-Husseini, dem Mufti von Jerusalem, das antijüdische Moment in den Schriften des Islam, das sie von nun an propagandistisch gezielt auszubeuten und mit dem europäischen Konstrukt einer jüdischen Weltverschwörung zu verschmelzen suchten.[6]

 

Das 31-seitige Pamphlet „Islam – Judentum. Aufruf des Großmufti an die islamische Welt im Jahre 1937“ war das erste gewichtige Dokument des islamischen Antisemitismus – ein Dokument, das die Nazis während der Kriegsjahre mehrsprachig in der arabisch-islamischen Welt verbreiteten.[7] Hier werden auf der einen Seite die bösartigsten Invektiven gegen Juden aus dem Koran referiert. Gleichzeitig attackiert der Text die Juden in der Diktion des europäischen Antisemitismus als „große Geschäftsleute“, als „Ausbeuter“, „Mikroben“ und als die Verursacher der Pest. Seit Mohammeds Zeiten, lesen wir hier, haben die Juden beständig versucht, „die Muslime zu zerstören“. „Die Verse aus dem Koran und Hadith“, heißt es weiter, „beweisen euch, dass die Juden die bittersten Gegner des Islam gewesen sind und noch weiter versuchen, denselben zu vernichten. … Kämpft für den islamischen Gedanken, kämpft für euer Religion und euer Dasein! Gebt nicht eher Ruhe, bis euer Land von den Juden frei ist.“

 

Hier wird den Juden in Anlehnung an den europäischen Rassismus eine unveränderbare, bösartige Natur unterstellt, die sich über mehrere Jahrhunderte nicht verändert habe. Wenn die Boshaftigkeit der Juden aber unveränderlich ist und alle Zeitepochen und – umstände überdauert, dann gibt es eine einzige Option, die Rettung verspricht: deren vollständige Vertreibung oder Vernichtung.

 

Nach „Islam – Judentum“ folgten Anfang der Fünfziger Jahre Sayyid Qutbs „Unser Kampf mit den Juden“, ein tief religiöses Pamphlet, das Saudi-Arabien nach dem verlorenen Sechs-Tage-Krieg von 1967 massenhaft in der Welt des Islam verbreitete,[8] sowie 1988 die Charta der Hamas. Das Pamphlet „Islam – Judentum“ und die nachfolgenden Propagandakampagnen des islamischen Antisemitismus haben das Bild vom Juden in islamischen Gesellschaften verändert: Sie haben eine ausschließlich antijüdische Lesart des Koran befördert, die europäische Weltverschwörungstheorie popularisiert und eine genozidale Rhetorik mit Blick auf Israel geprägt.

 

Defizite der deutschen Diskussion

 

Bemerkenswerterweise findet ausgerechnet in Deutschland eine wissenschaftliche Debatte über den islamischen Antisemitismus und dem Beitrag des Nationalsozialismus bei dessen Entstehung nicht statt. Dabei wurden bereits 2004 die wesentlichen Fakten über die Radiopropaganda der Deutschen veröffentlicht, die diese Form des Antisemitismus zwischen 1939 und 1945 allabendlich in arabischer Sprache, sowie auf Persisch und Türkisch zu popularisieren suchte.[9] 2009 machte der amerikanische Historiker Jeffrey Herf den brachial-antisemitischen Wortlaut jener Radiopropaganda in seiner wegweisenden Studie Nazi-Propaganda in the Arab World bekannt.[10] Man kann Herfs Buch auf Französisch, Spanisch und Italienisch, ja selbst auf Japanisch lesen, nicht aber auf Deutsch. Weder das Berliner „Zentrum Moderner Orient“ noch die Historiker des „Zentrum für Antisemitismusforschung“ (ZfA) haben Herf oder den Autor dieser Zeilen je eingeladen. Bis heute wird ausgerechnet dieser Aspekt der NS-Politik mitsamt seiner Nachwirkungen ignoriert.

 

„Die massenwirksame Verbreitung des Antisemitismus begann in den arabischen Ländern […] in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts“, insistieren stattdessen Klaus Holz und Michael Kiefer. Er sei „von Missionaren und Kolonialmächten in die arabische Welt getragen worden“, erklärt Juliane Wetzel, eine Mitarbeiterin des ZfA, ohne die deutsche Politik in den 1930er und 1940er Jahren auch nur zu erwähnen.[11]

 

Wer aber von der Tatsache, „dass die deutsche Propaganda den Islam mit antijüdischer Agitation in einem Ausmaß kombinierte, wie man dies bis dahin in der modernen muslimischen Welt nicht kannte“[12], nichts wissen will, läuft Gefahr, das religiöse Moment dieser spezifischen Artikulation von Antisemitismus zu unterschätzen.

 

So schlägt der Islamwissenschaftler Michael Kiefer den Terminus „islamisierter Antisemitismus“ vor, da es sich um einen „islamistisch übertünchten Antisemitismus“ handele, der „in allen wichtigen Strukturelementen identisch mit dem modernen europäischen Antisemitismus“ sei.[13] Hier wird die religiöse Dimension bei dieser Art von Judenhass sträflich unterschätzt.

 

Dasselbe gilt für den von Kiefer und dem Soziologen Klaus Holz gemeinsam vorgetragenen Vorschlag, von einem „islamistischen Antisemitismus“ zu sprechen, da dieser „in allen wesentlichen Aspekten ein Import aus Europa“ und „nur an eine islamistische Semantik angepasst“ – also nur rein äußerlich mit dem Islam verbunden – sei.[14] Neben der erneuten Unterschätzung des religiösen Moments verkennt das Adjektiv „islamistisch“, dass dieser Typus von Judenhass in einer Weise verbreitet ist, die über das Lager der Islamisten weit hinausreicht.

Der Begriff „islamischer Antisemitismus“ kennzeichnet eine spezifische Ausprägung des Antisemitismus, die maßgeblich durch eine bestimmte Betonung religiöser Aussagen aus dem Islam definiert ist und dessen Verbreitung das islamistische Lager weit übersteigt. Die Präzision des Ausdrucks ist Voraussetzung für einen bewussten Umgang mit dem Phänomen, der wiederum Voraussetzung für die Entwicklung geeigneter Gegenmaßnahmen ist.

 

 

[1] Simon Strauss, Wo bleibt der Schutz?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 20. April 2018.

[2] Helga Baumgarten: Hamas. Der politische Islam in Palästina, München 2006, S. 211.

[3] Baumgarten, a.a.O. S. 219.

[4] Qutbs Traktat ist vollständig dokumentiert in: Ronald L. Nettler, Past Trials and Present Tribulations. A Muslim Fundamentalist’s View of the Jews, Oxford 1987. S. 72-89.

[5] Die Bezeichnung „muslimischer Antisemitismus“ wäre ebenfalls möglich. Ich verwende sie nicht, da sie sich mehr auf die Akteure („Muslime“), als auf die Doktrin („Islam“) bezieht. Die Wendung „Antisemitismus unter Muslimen“ lässt hingegen offen, um welche Form des Antisemitismus es sich handelt.

[6] Matthias Küntzel, Das Erbe des Mufti. In: Tribüne (46) 2007. S. 151-158 oder hier sowie Jeffrey Herf, Haj Amin al-Husseini, the Nazis and the Holocaust: The Origins, Nature and Aftereffects of Collaboration. In: Jewish Political Studies Review (26) 2016. S.13-37.

[7] Islam – Judentum. Aufruf des Großmufti an die islamische Welt im Jahre 1937. In: Sabry, Mohamed: Islam – Judentum – Bolschewismus, Berlin 1938. S. 22-32.

[8] Nettler, a.a.O., 72-89.

[9] Matthias Küntzel, Von Zeesen bis Beirut. Nationalsozialismus und Antisemitismus in der arabischen Welt. In: Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte. Hrsg. von Doron Rabinovici, u. Ulrich Speck u. Natan Szaider. Frankfurt 2004. S. 271-293. Die englische Übersetzung findet sich hier .

[10] Jeffrey Herf, Nazi Propaganda For The Arab World. New Haven & London. 2009.

[11] Klaus Holz und Michael Kiefer, Islamistischer Antisemitismus, in: Konstellationen des Antisemitismus. Antisemitismusforschung und pädagogische Praxis. Hrsg. von Wolfram Stender, u. Guido Follert u. Mihri Özdogan. Wiesbaden 2010. S. 126; Juliane Wetzel, Judenfeindschaft unter Muslimen in Europa, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Islamfeindschaft und ihr Kontext, Berlin 2009, S. 52.

[12] David Motadel, Islam And Nazi Germany’s War. Cambridge/London 2014. S. 97.

[13] Michael Kiefer, Islamischer oder islamisierter Antisemitismus. In: Antisemitismus und radikaler Islamismus. Hrsg. von Wolfgang Benz u. Juliane Wetzel. Essen 2007. S. 80 und 84.

[14] Holz u. Kiefer, Islamistischer Antisemitismus, a.a.O., S. 109.

 

 

Zuerst bei MENA Watch erschienen, Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors - Foto: Islamistin demonstriert in London


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Montag, 18 Juni 2018