Die vielen Gesichter des Antisemitismus

Die vielen Gesichter des Antisemitismus


Bei allem Bestehen darauf, dass Antisemitismus das Eine und Antizionismus etwas ganz anderes ist, arbeiten die beiden jedoch auf den Straßen europäischer und amerikanischer Städte Hand in Hand

Die vielen Gesichter des Antisemitismus

Von Ben Cohen, Israel HaYom

Vor mehreren Jahren bot ich in einem Artikel für das Commentary Magazine eine Unterscheidung der beiden Arten antisemitischer Denkweisen an. Die erste nannte ich „Bierkeller“-Antisemitismus, die zweite „Bistro“-Antisemitismus, um so die Kluft zwischen den beiden Arten zu veranschaulichen.

Bierkeller waren die Trink-Lokale in Deutschland während der 1920-er und 1930-er Jahre, in denen die Nazi-Schläger herrschten. Sie boten auch Adolf Hitler eine Bühne, um seine schäumende Gossenrhetorik gegen Kommunismus, Liberalismus und vor allem die Juden weiterzuentwickeln. Es gab keine Versuche diese Rhetorik zu tarnen oder zu verschönern, die lauthals erklärte, die Juden seien Deutschlands Unglück. Die gründliche Entmenschlichung der Juden in der Nazi-Propaganda bereitete den Boden für ein Jahrzehnt der Verfolgung, das im Holocaust gipfelte.

Bierkeller-Antisemitismus wart damals unverkennbar und sofort erkennbar. Aber „Bistro“-Antisemitismus – etwas schelmisch zu Ehren der behaglichen Restaurants und Bars benannt, in denen großstädtische Intellektuelle sich gerne versammeln – war, so argumentierte ich, schwieriger zu erkennen.  Der Grund war, dass Juden selten direkt als Juden das Angriffsziel dieser Schriften, Reden, Parlamentsbeschlüsse und so weiter waren. Stattdessen verlässt sich das Bistro-Denken auf Kennzeichen, Codes und Umschreibungen, die versuchen „Juden“ und „Judentum“ von „Zionismus“ und „dem Staat Israel“, dem „jüdischen Establishment“ und den anderen Schreckgespenstern der Progressiven zu trennen, die antisemitische Argumente befördern, während Antisemitismus-Vorwürfe empört als grundloser Rufmord abgetan werden.

Dieser Kontrast zwischen lautstarkem Antisemitismus, der Juden ihr Menschsein verweigert und dem getarnten Antisemitismus, der Juden ihre Nationalität verweigert, ist nicht der einzige Unterschied. Wichtiger ist wohl die Feststellung, dass die „Bierkeller“-Form des Antisemitismus ausdrücklich auf physische Gewalt gegen Juden abzielt, während seine „Bistro“-Form, Proteste gegen jüdische Macht und Privilegien, sich in der wichtigen, gewaltfreien Form beweist, z.B. in Boykott-Kampagnen, Demonstrationen gegen proisraelische und zionistische Redner an Universitäten, in den Hallen der UNO ständig ausgekippte Schmähungen gegen den jüdischen Staat, auch durch führende Menschenrechts-NGOs wie Human Rights Watch und Amnesty International.

Während die Jahre vergingen hat sich die Kluft zwischen krudem Antisemitismus und seiner höflicheren Ausdrucksform (also zwischen „Bierkeller“ und „Bistro“) beträchtlich weiter verjüngt. Unter den Beispielen möchte ich die britische Labour Party anführen, wo antisemitische Rhetorik, die ihren Ruf im Verlauf der letzten fünf Jahre zerstörte, in den meisten Fällen die Variante „Rothschild-Bankiers beherrschen die Welt“ hatte. (Ganz zu schweigen davon, dass Juden für den transatlantischen Handel verantwortlich gemacht werden, der Anschuldigung, „Zionisten“ hätten mit dem Nazi-Regime „kollaboriert“ sowie eine Menge weiterer undurchsichtiger Fantasien, die nichts mit israelischer Siedlungspolitik zu tun haben.)

Ich möchte auch Frankreich anführen, wo das Phänomen tödlicher Gewalt gegen Juden – von Terroranschlägen bis zu Eindringen in Häuser und Wohnungen – jetzt ins dritte Jahrzehnt geht. Kein Fall symbolisiert die Krise des französischen Antisemitismus besser als der von Sarah Halimi, einer 65 Jahre alten Jüdin, die im April 2017 von ihrem muslimischen Nachbarn Kobili Traoré in einem öffentlichen Wohnprojekt in Paris gefoltert und zu Tode geprügelt wurde. Trotz erheblicher Beweise zur kriminellen Vergangenheit Traorés, dass er die islamistische Omar-Moschee in Paris besuchte und Zeugenaussagen für sein antisemitisches Gebrüll, während er Halimi zu Tode prügelte, wird er ein Strafverfahren umgehen können; als Grund wird zeitweilige Unzurechnungsfähigkeit wegen Kannabis-Konsum angeführt. Kein Wunder, dass der Oberrabbiner Frankreichs, Haim Korsia, die Entscheidung der Pariser Staatsanwaltschaft Traoré nicht vor Gericht zu stellen als „Lizenz zum Töten von Juden“ bezeichnete.

Darüber hinaus sind während des letzten Jahres „erkennbare Juden“ – diejenigen, die religiöse Kleidung oder jüdische Symbole tragen – in zahlreichen Gewalttaten rund um den Globus angegriffen worden, von Buenos Aires über Brooklyn bis Berlin. Im November berichtete ich von einem solchen Vorfall – einem körperlichen Angriff auf einen jungen, Kippah tragenden Juden im Umkleideraum eines Fitnessstudios in Freiburg durch einen „Free Palestine!“ und „Du dreckiger Jude!“ brüllenden Mann. Für den Angreifer gab es nicht die Erfordernis die Sache der Palästinenser von der antijüdischen zu trennen; in dem Moment, in dem er die Kippa des jungen Mannes griff, auf sie spuckte und sie in eine Mülltonne warf, war das ein und derselbe Kampf.

Das Wiederaufleben des kruden, gewalttätigen Antisemitismus in den Vereinigten Staaten wie in Europa gegen Ende des letzten Jahrzehnts wirft ein neues Licht auf den höflichen Antisemitismus der progressiven Kreise. Bei all ihrem Beharren darauf, dass Antisemitismus das eine und Antizionismus etwas völlig anderes ist, arbeiten die beiden auf den Straßen europäischer und amerikanischer Städte Hand in Hand. Rhetorik, die Israel wegen angeblichen Schmuggels menschlicher Organe dämonisiert, hat sich z.B. mit traditionelleren Fixierungen wegen jüdischen Bankern, jüdischen Lobbyisten und jüdischer Heimlichkeiten verschmolzen.

Das Nettoergebnis ist nicht nur, dass antisemitische Hassverbrechen sich in fast jedem Land mit einer jüdischen Gemeinschaft vervielfacht haben, am bemerkenswertesten in Amerika; es ist dieser aus allen Teilen des politischen und kulturellen Spektrums geholte Antisemitismus, der jetzt offen auch schmerzlich zur Schau steht. Weiße Rassisten, radikale schwarze Nationalisten und Islamisten bestehen nebeneinander und tragen zur Gesamtzunahme der antijüdischen Feindseligkeit bei, während populistische rechte und linke Politiker sich gleichermaßen bereit erwiesen haben Antisemitismus zu vereinnahmen, wenn das zu tun politisch nützt. Antisemitische Klientelpolitik und Sprachbilder vergiften zunehmend alle Arten politischer Dispute – von der ultranationalistischen Partei AfD, die in Deutschlands Parlament Immgration anprangert, bis zu progressiven Demokraten auf dem Capitol Hill, die amerikanische Politik im Nahen Osten verurteilen.

Keine dieser beiden letzten Gruppen würden es schätzen mit der anderen in einen Topf geworfen zu werden, aber das demonstriert lediglich, wie ideologisch anpassungsfähig der Antisemitismus sein kann, besonders wenn digitale Kommunikation die Verbreitung antisemitischer Ideen erlaubt, die die traditionellen politischen, religiösen und nationalen Grenzen verwischt. Wie wir auf diese Entwicklungen als jüdische Gemeinschaft reagieren, gehört zu den kritischen Tests, denen wir uns im kommenden Jahrzehnt gegenüber sehen werden.

 

Übersetzt von Heplev


Autor: Heplev
Bild Quelle: Screenshot


Freitag, 12 Juni 2020