Die Helden von Haifa oder Wie Haifas Geschichte neu geschrieben wurde

Die Helden von Haifa oder Wie Haifas Geschichte neu geschrieben wurde


Die Hauptstadt des Nordens Haifa liegt da, wo das Carmelgebirge das Mittelmeer berührt.

Die Helden von Haifa oder Wie Haifas Geschichte neu geschrieben wurde

Von Sharon Oppenheimer

Nach einer wechselvollen Geschichte ist Haifa heute Israels drittgrößte Stadt in deren Einzugsgebiet weit mehr als eine Million Menschen leben und die über den größten Hafen im Nahen Osten und die kürzeste U-Bahnstrecke der Welt, den Carmelit verfügt. 2018  wurde erstmals eine Frau, Einat Kalisch-Rotem zur Bürgermeisterin gewählt. Haifa ist auch die Stadt der Stufen und Treppen, die sich vom Carmel über Hadar hinunter zum Hafen erstrecken. Den Blick auf den Berg dominiert der Bahai-Tempel mit Gärten und der Ausblick auf den Hafen wird vom DagonSilo mit den hunderten pickenden Tauben bestimmt.
Vor hundert Jahren sah das anders aus: ein verschlafenes Städtchen war Haifa mit ein paar tausend Seelen, erst wenige Jahrzehnte zuvor aus einem Fischerdorf herausgeschlüpft, aber schon verfügte man über eine Eisenbahnstation. Die kleine Stadt am Meer, die schon damals multikulturell war - lange bevor es in Mode kam - und von Muslimen, Drusen, Juden, Bahai, Griechisch-Orthodoxen, Griechisch-Katholischen, Franziskanern, maronitischen Christen und Protestanten bevölkert wurde. Seit 1914 regierte der legendäre Hasan Bey Shukri als Bürgermeister, der eine entscheidende Rolle für die zukünftige Entwicklung der Stadt spielte. Dort wo sich heute der „Gan HaZikaron“(Memorial Park) befindet, stand die marode Stadtfestung Burj al-Salam. Im Süden der Stadt war die deutsche Kolonie, die sich durch eine Bierbrauerei und eine Seifenfabrik auszeichnete. Die Mitglieder der Templergesellschaft aus Schwaben mutierten nach Hitlers Machtergreifung zu gläubigen Nationalsozialisten und Nazi-Kollaborateuren. Die Anwesenheit lokaler Feudalherren bezeugte die weitläufige Villa von Selim Effendi Khuri.  Am Ufer gab es einen eher unbedeutenden Hafen, Badestellen und eine Zollstation mit Leuchtturm. Auf dem Berg Karmel fehlte jegliche  Stadtbevölkerung - nur kärgliche Vegetation und ein Karmelitenkloster auf Stella Maris. Selbst der Bahai-Tempel, das Wahrzeichen Haifas, existierte nicht. Noch gab es unter den osmanischen Herren Feudalherrschaft, Dschizya (Kopfsteuer für NichtMuslime) und Sklaverei – auch das war die Realität von 1918. Doch das sollte sich bald ändern. Der erste Weltkrieg leitete das Ende, des vom Zerfall gekennzeichneten osmanischen Reiches nach ein. Allenby sollte gelingen, woran Napoleon 120 Jahre zuvor gescheitert war. Bereits im Jahr zuvor, am 9. Dezember 1917 war Jerusalem in britische Hände gefallen. Allerdings musste General Allenby mit einem weiteren Vorstoß warten: Zu dieser Zeit wurde die Situation an der Westfront so kritisch, dass seine Elite-Truppen nach Frankreich abgezogen wurden. Allenby war gezwungen zu warten bis neue Einheiten ausgebildet und organisiert waren. Während des Sinai-Palästina-Feldzuges dienten mehr als 95.000 indische Kämpfer in der BritischIndischen Armee von denen etwa zehn Prozent als Folge der Kampfhandlungen fielen. Die indischen Soldaten dienten in der Kavallerie, Kamelkorps, Infanterie und Logistikeinheiten. Die Elitetruppen stellten oftmals die Sikhs aus dem Punjab, dem Nordwesten Indiens. Sie galten als nahezu unschlagbar. Zwei grauenvolle Kriege hatten die Briten geführt, um die Sikhs zu unterwerfen und das Sikh-Reich zu zerschlagen. Nach dem Ersten Sikh-Krieg war der Punjab annektiert worden, nach dem Zweiten Sikh-Krieg wurde der Staat vollständig nach Britisch-Indien eingegliedert. Der letzte kriegerische und gut organisierte indische Staat war somit ausgelöscht und die märchenhaften Schätze der Sikhs wurden geplündert und verschleppt. Zum Beispiel wurde der Koh-i-Noor, einer der größten Diamanten der Welt den Kronjuwelen des Britischen Königshauses einverleibt (und kann heute im Tower bestaunt werden) und der goldene Thron der Sikh-Herrscher steht im Victoria and Albert Museum ebenfalls in London.
Nach dem zweiten blutigen Sikh-Krieg waren die Briten dazu übergegangen, die mutigen Sikhs zu rekrutieren. Sikhs kämpften fortan auf den Schlachtfeldern des Empires – so auch im 1. Weltkrieg. Nur spärlich mit Speer und Schwert oder seltener mit Gewehr ausgestattet, errangen die SikhSoldaten der Jodhpur, Mysore und Hyderabad Lancer und des Lahore Regiments unglaubliche Erfolge gegen das, bis auf die Zähne bewaffnete türkische Heer und deren deutschen und österreichischen Verbündeten.
Allenbys erfolgreicher Vorstoß in Richtung Norden begann erst Monate später am 18. September 1918.  Die Schlacht von Megiddo hatte mit einem Angriff der Infanterie der Britischen Streitkräfte auf einer fast ununterbrochenen Linie vom Mittelmeer über die Sharon-Ebene bis in die Ausläufer der Judäischen Berge begonnen. Sie griffen die türkische Front an und eroberten das Hauptquartier der osmanischen achten Armee in Tulkarem. Die Desert Mounted Corps umzingelten die gegnerische Infanterie in den Judäischen Bergen und eroberten deren Hauptversorgungs-, Kommunikations- und Rückzugslinien. Bis zum 25. September war die osmanische Armee aufgerieben worden. Zwei verbliebene Truppenteile zogen sich nach Norden in Richtung Damaskus zurück. Kurz nach Mitternacht am 21./22. September stießen die 18. King George's Own Lancers entlang der Straße von Akko nach Haifa auf ein osmanisches Bataillon und wurden von ihnen angegriffen. Sie schlugen das Bataillon nach einem kurzen Kampf und nahmen mehr als 200 Gefangene. Am 22. September berichtete die Luftaufklärung, dass Haifa von der osmanischen Armee evakuiert worden sei. Dies erwies sich als falsch, als britische Soldaten durch osmanisches Artillerie-und Maschinengewehrfeuer gestoppt wurden. Türkische, deutsche und österreichische Truppen kontrollierten die Zufahrtsstraße von Osten her, die zwischen dem Berg Karmel und dem Kishon verlief. Die Position konnte nicht eingenommen werden, da der Fluss Kishon auf beiden Seiten von Sümpfen begrenzt wurde, was ein Überqueren praktisch unmöglich machte. Am 23. September 1918 wurde die 15. Kavallerie-Brigade entsandt, Haifa einzunehmen. Das Gebiet zwischen dem Kishon und den Hängen des Carmels wurde von osmanischen Geschützstellungen und Artillerie gut verteidigt. Die Jodhpur Lancers wurden beauftragt, diese Position einzunehmen, während die Mysore Lancers die Stadt von Osten und Norden angriffen. Ein Geschwader der Mysore Lancers und ein Geschwader der Sherwood Rangers Yeomanry, unterstützt von der B Battery, Honourable Artillery Company, griffen um 14:00 Uhr die österreichische Position auf den Hängen des Berg Carmels an. Die Staffel der Mysore Lancers erklomm einen steilen Pfad, um die Geschütze zum Schweigen zu bringen. Währenddessen starteten die Jodhpur Lancers und der Rest der Mysore Lancers den Hauptangriff auf die Nachhut deutscher Maschinengewehrschützen, die die Straße blockierten.
Die Jodhpur Lancers griffen die osmanische Position an und überquerten die Eisenbahnlinie von Akko nach Haifa, kamen jedoch unter Maschinengewehr- und Artilleriefeuer. Die Türken hatten sich so positioniert, dass sie jeden Zentimeter des Bodens mit ihren Maschinengewehren abdeckten. Die Sikh-Soldaten wurden durch Treibsand am Flussufer behindert, dass sie auf die unteren Hänge des Carmel auswichen. Das Regiment war unter freiem Himmel ohne Deckung und wurde von Geschützen von vorne und von der Flanke in die Zange genommen.  Major Dalpat Singh Shekhawat, der Held von Haifa wurde von Kugeln getroffen und getötet. Das war der kritischste Moment der gesamten Operation. Geistesgegenwärtig übernahm der Kommandant der B-Staffel, Captain Bahadur Aman Singh Jodah sofort das Kommando des Regiments, sammelte seine Soldaten und sie ritten mitten ins Maschinengewehrfeuer. Das Regiment sicherte die feindliche Position, nahm dreißig Gefangene, zwei Maschinengewehre, zwei Kamelkanonen und öffnete einen Zugangsweg nach Haifa. Die Jodhpur Lancers setzten ihren Angriff in die Stadt fort und überraschten die Verteidiger. Die verbliebenen zwei Staffeln ritten die Straße hinunter in die Stadt. Der Angriff war so unerwartet und schnell, dass der Feind nicht genug Zeit hatte, darauf zu reagieren.
Es klingt fast wie ein Wunder: In weniger als einer Stunde beendeten zwei Sikh-Bataillone endgültig die vier Jahrhunderte andauernde Herrschaft der Osmanen. Die Sikhs, kärglich ausgerüstet mit Speeren und Schwertern besiegten das osmanische Heer und ihre deutschen und österreichischen Verbündeten, die mit modernsten Waffen und schweren Geschützen ausgestattet waren in etwa vierzig Minuten. Es war die letzte Kavallerie-Schlacht des ersten Weltkrieges, wahrscheinlich auch die letzte Kavallerie-Schlacht in der Militärgeschichte, aber es war mit Sicherheit eine der kürzesten und erfolgreichsten. Die beiden Regimenter nahmen zusammen 1350 deutsche und osmanische Gefangene. Ihre eigenen Verluste beliefen sich auf acht Tote und 34 Verletzte und sie verloren die Mehrzahl ihrer Pferde.
Die Schlacht von Haifa gilt als Meilenstein auf dem Weg in Israels Unabhängigkeit, doch das Britische Empire hatte andere Pläne: das Interesse an Erdöl hatte Vorrang. Die Siegermächte des Ersten Weltkrieges, als auch die Verlierer, wie das Deutsche Reich begannen ihre eigenen Ränkespiele im Nahen Osten und erschufen bis heute andauernde Konflikte – aber das ist eine andere Geschichte.
Die Asche der Gefallenen wurde auf dem Friedhof der Indischen Soldaten auf der Jaffa Road bestattet. Bis heute gedenkt man in Haifa der Inder, die ihr Leben ließen. Jahrzehntelang blieben die näheren Umstände von Haifas Befreiung im Dunkeln. Den Sieg über die Osmanen hatte sich einzig allein das Britische Empire an die Brust geheftet. Der Initiative einiger Haifaer, wie Igal Graiver ist es zu verdanken, dass die Geschichte der Boomtown Haifa neu geschrieben wurde. Die „Haifa History Society“ wurde gegründet und Freiwillige haben in akribischer Kleinarbeit viele neue Fakten und Tatsachen zusammengetragen. „Haifa“, sagt Igal Graiver,  „wurde zu einer Art Mekka für Besucher aus Indien.“ Er war es auch, der den Enkel von  Captain Bahadur Aman Singh Jodah ermittelte. Mittlerweile hat man Familien der Befreier von Haifa ausfindig gemacht und einige kamen von weither. Die Begegnungen verliefen immer sehr emotional, sowohl auf Seiten der Inder als auch auf Seiten der Haifaer. 2010 entschloss sich die Stadt Haifa jährlich eine Zeremonie für die gefallenen indischen Soldaten abzuhalten, für diejenigen, die man namentlich kennt und die vielen Namenlosen.  Der damalige Bürgermeister von Haifa, Yona Yahav sagte: „In all den Jahren dachten wir, die Briten hätten uns befreit! Jetzt lernen wir, dass es die Inder waren! Wir versichern, dass die Geschichte der Indischen Kavallerie, der Jodhpur Lancer und des Major Dalpat Singh in unseren Schulen gelehrt wird.“ Dalpat Singh Shekhawat, Captain Bahadur Aman Singh Jodah, Dafadar Jor Singh und Captain Anop Singh, die Mysore Lancers und die Jodhpur Lancer sind die Helden von Haifa, die ein Jahrhundert später einen festen Platz nicht nur in den Geschichtsbüchern gefunden haben. Die Spurensuche in Haifa war erfolgreich und die Örtlichkeiten konnten ausfindig gemacht werden, obwohl sich die Stadt in einem Jahrhundert grundlegend verändert hat. Die berühmte Fotografie auf dem die Sikh-Kavallerie Einzug hält zeigt im Hintergrund den „Paris Square“, ehemals „Hamra Square“. Eines der Häuser steht dort noch völlig unverändert. Schwieriger war es  den Ort zu lokalisieren an dem Captain Bahadur Aman Singh Jodah und seine Kameraden in den Kugelhagel ritten und ihre Feinde überwältigten. Igal Graiver verweist auf eine Brücke aus der Türkenzeit, die über den Kishon führt in der Nähe des Checkposts. Die Stelle, wo die Kämpfer aus einem fernen Land ihren Platz in der Geschichte eroberten, erzeugt selbst nach so langer Zeit noch Gänsehaut. Oder wie soll ich es beschreiben? Es ist eine Art Pilgerreise, sich auf den Weg zu machen, um diese Stätten aufzusuchen. .

 


 


Autor: Sharon Oppenheimer
Bild Quelle: Wikipedia / Wikimedia


Mittwoch, 05 Dezember 2018

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