Putins Krieg um die Idee eines russischen Universalstaats

Putins Krieg um die Idee eines russischen Universalstaats


Teil 2 - Russland in der Tradition des Völkermords

Putins Krieg um die Idee eines russischen Universalstaats

Von Tomas Spahn

Der von Lenin eingeleitete Prozess der Nationalisierung ohne Nationalstaat endete abrupt, als Josef Stalin, selbst Georgier und kein Russe, als uneingeschränkter Diktator in menschenverachtender Weise sowohl die zaristisch-imperiale Universalstaatsidee als auch den Absolutismus der Alleinherrschaft zum Herrschaftsprinzip der Räteunion machte. Im Zuge der von ihm im Sinne der kommunistischen Kollektivismusvorstellungen betriebenen Entbürgerlichung der ehemals russischen und nun sowjetischen Territorien wurde seit 1929 die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft durchgesetzt. Sie presste in der Konsequenz die freien Bauern zurück in eine neuzeitliche Form der Leibeigenschaft – nur dass der Herr nicht mehr in seinen Gutspalast, sondern in einem staatlichen Bürogebäude in Moskau saß.

Stalins Holodomor

1932 kam es zu dem, was als Holodomor (Tod durch Hunger) in den ukrainischen Geschichtsbüchern steht und was der Deutsche Bundestag am 30. November 2022 als Völkermord anerkannt hat. Nach Zwangskollektivierung und zentraler Abschöpfung der ukrainischen Getreidelager durch Moskau – maßgeblich, um durch deren Verkauf Devisen ins Land zu holen, mit denen die Industrialisierung des Agrarstaats finanziert wurde – starben allein in der Ukraine nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen drei und vier Millionen Menschen an Hunger. Nach russischer Lesart war dieser Massenmord eine unbeabsichtigte Folge der undurchdacht durchgeführten Zwangskollektivierung. Ukrainische und westliche Wissenschaftler gehen davon aus, dass damit nicht nur das unabhängige Bauerntum – darunter auch die Kulaken in Russland – vernichtet werden sollte, sondern dass Stalin gezielt die ukrainische Identität vernichten wollte.

Moskau erreichte damit das genaue Gegenteil. Nach diesem erneuten Vorgehen zulasten von Menschen mit ukrainischer Identität stieß die Vorstellung eines unabhängigen Staates für eine unabhängige, ukrainische Nation auf zunehmend breitere Unterstützung, weshalb bei der Besetzung der Ukrainischen SSR durch die Wehrmacht die Deutschen anfangs vielfach als Befreier begrüßt wurden. Nach 1941 wiederholte sich in gewisser Weise das Drama des Ersten Weltkriegs sowohl auf dem ukrainischen Schlachtfeld als auch mit Personen wie Stepan Bandera, der in der Ukraine als Nationalheld gefeiert wird, während er in Moskau als Inbegriff eines ukrainischen Nationalfaschisten gilt.

Der Zusammenbruch des russisches Weltimperiums

Das siegreiche Sowjetreich des Georgiers ließ nach 1945 kein erneutes Aufflackern nationalukrainischer Bestrebungen zu. Stalins Nachfolger Nikita Chruschtschow, im ukrainischen Donbas mit an Moskau orientierter, kleinrussischer Identität aufgewachsen und in russischer Tradition von der Idee des imperialen Universalstaats geprägt, hatte kein Problem damit, die 1774 den Osmanen abgepresste und 1783 als „für ewige Zeiten“ Bestandteil von Russland annektierte Krim 1954 der Ukrainischen SSR anzugliedern. Eine Maßnahme, die vermutlich der weiteren Sowjetisierung der Krim durch die bereits vor dem Krieg begonnene Ansiedlung von Festlandsukrainern zur Bekämpfung krimtatarischer Autonomiebestrebungen dienen sollte. Da im sowjetischen Universalstaat die Ukraine selbst unverbrüchlicher Teil des Imperiums war und für ewig bleiben würde, hatte die formelle Angliederung an die Sozialistische Räterepublik, in der Menschen mit ukrainischer Identität neben welchen mit kleinrussischer und daher nach Moskau ausgerichteter Identität lebten, scheinbar keine realpolitischen Konsequenzen.

Diese sollten sich dann jedoch ergeben, als nach 1989/90 der Zusammenbruch des Sowjetimperiums nicht mehr aufzuhalten war. Neben jenen Nationen, die sich bereits 1918 aus dem Russischen Reich verabschiedet hatten und nach 1945 erneut in den Universalstaat eingemeindet worden waren, und jenen, die mit pro-forma-Autonomie den gegen Westeuropa gerichteten Gürtel russisch beherrschter Satellitenstaaten bildeten, nutzen auch zahlreiche Völker und Nationalidentitäten, die seit 1922 und bereits unter den Zaren Teile des russischen Imperiums gewesen waren, die Chance, sich in die Eigenstaatlichkeit zu verabschieden.

Während der an seiner Alkoholkrankheit gescheiterte Demokrat Boris Jelzin sich vom russischen Universalstaat verabschiedete und einen Prozess, den das Habsburger Reich bereits nach 1918 erleben musste, akzeptierte, klammerte sich die vom Geheimdienst KGB dominierte Gruppe der Großrussen um den Leningrader Wladimir Putin an dem anachronistischen Universalstaatsgedanken fest. Nachvollziehbar dabei ist, dass Putins Weltbild jenen innersowjetisch-internationalistischen Zeitraum nach Lenins Usurpation bis zur Machtergreifung durch Stalin zwar nicht ausblendet, jedoch als eine Phase des Verrats an Russland betrachtet. Tatsächlich ist jener gescheiterte Versuch Lenins, durch eine Stärkung nationaler Identitäten eine großrussisch-zaristische Restauration zu verhindern, aus Putins Sicht Verrat an Russland. Vielmehr müssen im Rahmen der Großrussland-Ideologie alle separatistisch-nationalen Bestrebungen auf dem Boden des früheren, großrussischen Universalstaats als unmittelbarer Angriff auf Russland gewertet werden. Putins Satz, wonach der Zusammenbruch der Sowjetunion die größte globale Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen sei, muss jedem Nicht-Großrussen als absurd erscheinen – für ihn jedoch ist dieser Satz gesprochene Wirklichkeit und Phantomschmerz zugleich.

Putin in der Tradition des anti-ukrainischen Genozids

Der Überfall auf die Ukraine, der faktisch 2014 begann und das Ziel, das aus Moskauer Sicht unverbrüchlich mit Russland verknüpfte Territorium der Kleinrussen zurückzuholen, bereits damals fest im Auge hatte, legitimiert sich aus Moskauer Sicht in dieser Vermengung des universellen Staates mit einem internationalistisch behaupteten Antinationalismus, der sich paradoxerweise aus einem rassistisch-russischen Nationalismus speist.

So, wie der Holodomor 1932, ob mit Vorsatz oder als geduldeter und verantworteter Nebeneffekt, Millionen von Ukrainern tötete, weil sie mit ihrer ukrainischen Nationalidentität gegen den großrussischen Universalstaat standen, so rechtfertigt die heutige russische Führung den genozidalen Angriff auf die Zivilbevölkerung der Ukraine durch die Zerstörung der Infrastruktur mit genau derselben Ideologie. War es 1932 der gezielt herbeigeführte oder wissentlich in Kauf genommene Hunger, der allein schon angesichts der Opferzahlen die Einordnung als Völkermord rechtfertigt, so soll es 2022 die Kälte sein, die die ukrainische Nationalstaatsidee erst in die Knie zwingt, um sie dann unter Moskauer Herrschaft zu vernichten. Die aus russischen Quellen bestätigten Zwangsadoptionen ukrainischer Kinder durch russische Familien dokumentieren dabei das Vorgehen:  Wer an die Stelle seiner ukrainischen Identität eine russische setzt oder sich setzen lassen kann, darf im russischen Universalstaat weiterleben. Wer dazu nicht bereit ist, darf durch Russland um seine reale Existenz gebracht werden.

Der schizophrene Blick auf die Wirklichkeit

Sergej Lawrow, Außenminister Moskaus, erklärte erst am 1. Dezember einmal mehr, dass es sich bei dem Terrorüberfall eben nicht um einen herkömmlichen Streit um irgendwelche Territorialansprüche oder Rohstofflager handelt. Die Zerstörung der ukrainischen Infrastruktur, die die Bevölkerung der Ukraine dem Kältetod aussetzen soll, rechtfertigte er mit der Behauptung, diese Infrastruktur stütze „die Kampfkraft der ukrainischen Streitkräfte und der nationalistischen Bataillone“.  Die allein diesem einen Satz innewohnende Schizophrenie wird dem als intelligent geltenden Mann nicht einmal mehr bewusst, wenn er gleichzeitig von „nationalistischen Bataillonen“ und „ukrainischen Streitkräften“ spricht. Rechtfertigen in großrussischer Sicht besagte erdachte Bataillone den Überfall, weil sie als Nationalfaschisten gebrandmarkt werden, kann der Angriff auf die Streitkräfte nur dadurch gerechtfertigt sein, dass sie ebenfalls als Bataillone der nationalukrainischen Identität zugeordnet werden. In der Kreml-Ideologie gibt es dazwischen keinen Unterschied – und so diskreditiert sich Lawrow selbst, wenn er mit „ukrainischen Streitkräften“ einen souveränen Nationalstaat Ukraine als Völkerrechtssubjekt akzeptiert, den zu überfallen Russland nicht einmal in seiner imperialen Universalstaatsidee eine legitimierende Begründung findet, solange dieser Staat nicht selbst Russland angegriffen hat.

Deshalb wiederum zeigt sich die Absurdität der russischen Staatsidee in jenem abstrusen Konstrukt, das aus der vermeintlichen Verteidigung völkerrechtswidrig annektierter Gebiete gegen den rechtmäßigen Eigentümer einen Angriff auf den russischen Staat herbeifabuliert. Der Massenmörder und Völkermörder rechtfertig sein Handeln damit, dass sich sein Opfer gegen ihn zur Wehr setzt – ein Motiv, dass die russische Argumentation durchgängig begleitet, dadurch aber nicht an Absurdität verliert.

Russland ist zum Verlieren verdammt

Mit der russischen Staatslogik erklärt sich zudem, weshalb Verhandlungen mit Putin tatsächlich obsolet sind. Jeder mögliche Friedensschluss setzt voraus, dass die russische Führung von ihrer Staatsideologie Abstand nimmt und das Ende Russlands als Universalstaat akzeptiert. Solange das nicht geschieht, werden aus Moskauer Sicht Verhandlungen nur dann erfolgreich sein, wenn sich das Opfer bedingungslos unterwirft. Ein Waffenstillstand, von manchen Appeasern im Westen anempfohlen, dient bis auf Weiteres nur als Feuerpause zur Neustrukturierung der russischen Invasionsarmee.

Russland ist um Russlands Willen dazu verdammt, diesen von ihm initiierten Terrorangriff zu verlieren, weil es auf anderem Wege sein historisch überholtes Universalstaatsmodell nicht überwinden wird. Aus genau diesem Grunde sind gegenwärtig auch alle Überlegungen im Westen, ob und wie man mit Putins Russland zu einer friedlichen Lösung kommen könnte, unsinnig. Die russische Führung hat sich derart in ihr selbstgestricktes Weltbild versponnen, dass sie keinen Ausweg mehr findet. Sie ist aus ihrer Sicht ebenso zum Siegen verdammt, wie sie aus der Sicht der Zukunftsfähigkeit der russischen Menschen zum Verlieren verdammt sein muss.

Das bedeutet aber auch, dass sich das moderne Russland derzeit nahtlos in die Ahnenreihe mit den zaristischen und stalinistischen Tyrannen stellt. Putins Russland findet zum beabsichtigten Völkermord an den Ukrainern keine Alternative. Und das ausschließlich deshalb, weil die den europäischen Russen genetisch eng verwandten Ukrainer durch Russlands Handeln über die Jahrhunderte eine eigene, nationale Identität aufgebaut haben, die mit dem großrussischen Universalstaat nicht kompatibel ist.

Dabei ist dieser zaristische Universalstaat auch unter Putins Prägung selbst dann nicht mehr restaurierbar, wenn es tatsächlich gelingen sollte, die Ukraine territorial dem russischen Imperium einzugemeinden. Denn Russland mag zwar dann die Ukrainer in der Ukraine ausrotten – doch die ukrainische Identität wurde seit Beginn des Überfalls umso stärker mit jedem Schuss, der aus einem russischen Gewehr auf einen Ukrainer abgegeben wurde. Der ukrainische Partisanenkrieg gegen die russische Besatzung wäre ebenso unvermeidlich wie exilukrainische Zusammenschlüssen, die Russland von außen das Leben schwer machten.

Russland kann den Krieg nicht beenden

Gleichwohl wird Putins Russland seinen Feldfeldzug gegen die ukrainische Identität um des Erhalts seiner Universalstaatsidee willen fortsetzen, bis es entweder sein Etappenziel der Rückführung des ukrainischen Territoriums erreicht hat oder ihm die militärischen Kräfte ausgegangen sind und seine dann vermutlich neue Führung die Universalstaatsvorstellung überwindet. Der angedrohte und durch die Terrorangriffe auf die Infrastruktur versuchte Kältetod jener Menschen, die in der russischen Logik eigentlich kleinrussische Mitbürger unter aufgezwungener, faschistischer Gewaltherrschaft sind, soll dazu nun das Mittel sein, nachdem Russlands Armee auf dem Feld versagt hat.

Doch auch diesen Versuch der Vernichtung ihrer nationalen Identität werden die Ukrainer überstehen – weil ihre Nationalidentität mittlerweile stark genug ist, auch diesen Versuch, und sei er noch so menschenverachtend vollzogen, überstehen zu können. Und weil der Westen mehr und mehr die tatsächliche und ihm mental fremde Motivation des russischen Vorgehens verstanden hat und begreift, dass ein universalstaatliches Russland auch unabhängig von der Ukraine eine permanente Bedrohung seiner Nachbarn darstellen wird.

©2022 spahn

 


Autor: Redaktion
Bild Quelle: Kremlin.ru, CC BY 4.0 , via Wikimedia Commons


Montag, 05 Dezember 2022

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