Von der Indosemitischen Theorie und von der Theorie des Neomarrismus

Von der Indosemitischen Theorie und von der Theorie des Neomarrismus


Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels und des Landes durch insgesamt sechs römische Legionen im ersten Jüdischen Aufstand 67-70 u. Zt. wurde zur absoluten Zäsur der antiken Welt.

Von der Indosemitischen Theorie und von der Theorie des Neomarrismus

Von Dr. Boris Altschüler

Mit den nach Europa zurückgekehrten Legionären kamen nicht nur neue Sklaven nach Germanien, sondern auch massiv die Sprache und die hebräische Schrift. So entstand offensichtlich die erste germanische kursive Runenschrift in Skandinavien und Mitteleuropa – die Futhark. Aramäisch und Hebräisch wurden neben Griechisch und Latein zu den verbreiteten Umgangssprachen in Europa und v.a. zu dem Bestandteil der «barbarischen» Sprachen der Antike und des frühen Mittelalters.

Riesige Einwanderungswellen in die Gebiete des Imperium Romanum führten zwangsweise zu der Großen Völkerwanderung,  einem vielschichtigen und besonders zwei Jahrhunderte lang dauernden Vorgang (375–568), der eine tief greifende Neuordnung nicht nur der germanischen und romanischen Bevölkerungsgruppen zur Folge hatte, sondern auch der sich neuformenden Anfängen der slawischen Welt. Diese Umgestaltung prägte die politisch-sozialen und kulturell-religiösen Strukturen Europas bis ins Spätmittelalter. Auch hier standen die jüdischen und jüdisch geprägten Reiche Europas, wie der Khasarische (Chasarische) Kaganat in der Großen Steppe Eurasiens und der Awarische Kaganat in Mitteleuropa Pate. Man spricht oft von den Barbaren, wobei die Untersuchung dieses Wortes eine hebräische Etymologie zu haben scheint :  ×‘ר.(bar/var), was «der Sohn» bedeutet.

Die monumentale Geschichte des jüdischen Volkes, wie sie im Alten Testament festgehalten wurde, ist zu einem Kompass für die Menschheit geworden. Die Völker des Altertums und der Antike sahen für sich in der Heiligen Schrift ein Muster zur Schaffung von neuen Nationen des Monotheismus. Mit der zunehmend verbreiteten Bekanntschaft vom Alten und später auch dem Neuen Testament wuchs das Interesse für die Sprachen Hebräisch und Aramäisch.

Auf dem anatolischen Plateau, in Medien, unter den skythischen Nomaden lebten schon lange die Israeliten. Es waren die Nachfahren der Zehn «verschollenen» Stämme Israels, die nach der Zerstörung des Nordreiches Israel in die assyrische Gefangenschaft gerieten. Als Kaukasus wurde damals – in den archaischen Zeiten v.a. eine riesige Region auf dem Hochplateau nördlich der Linie, die das Taurusgebirge mit Elburs-Bergen im Norden des Iran verbindet  –  bezeichnet. Dorthin an den Oberlauf von Tigris und Ephrat, wurden die Israeliten Ende des VIII. Jh. v.d.Zt. deportiert. Davon sprach der Prophet Jermijahu/Jeremia :  «Werfet Panier auf im Lande, blaset die Posaunen unter den Heiden, heiliget die Heiden wider sie; rufet wider sie die Königreiche Ararat, Meni und Askenas; bestellet Hauptleute wider sie; bringet Rosse herauf wie flatternde Käfer!» (Jer. 51 : 27). In Medien vermischten sich die Israeliten mit den Skythen, später mit den Sarmaten und übernahmen deren Ethnonyme. Hiesige Hirten und Krieger, die offensichtlich eine indoeuropäische Sprache, dem Anatolisch verwendeten, wurden in den assyrischen Quellen als Asguza, Askuza, Aschkeza, Aschkuza, Iskeza, Isgeza, aber auch in den altgriechischen Quellen als Skusai (οι Σκύθες) bezeichnet. Ein Teil der Turkologen definiert sie ihrerseits als Ogusen. Das hebräische Pendant dieses Namens lautet Aschkenas. Das Anatolisch (Alt-Hettitisch) war einst noch vor der christlichen Zeit in Anatolien (v.a. in der heutigen Türkei) weit verbreitet und ist die älteste indoeuropäische Sprache.

Eine toponymische Untermauerung dieser historischen Überlieferung lieferte zuletzt auf seiner Webseite der israelisch-amerikanische Genetiker Eran Elhaik, zu Zt. an der University of Sheffield (UK),  als er im Norden der türkisch-iranischen Grenze auf beiden Seiten des anatolischen Plateaus einige Siedlungen mit den alten Toponymen wie IÅŸkenaz, EÅŸkenez, AÅŸhanas und Aschuz identifizierte.

In den Annalen des assyrischen Königs Essarhaddon (VII. Jh. v. d. Zt.) wurden die «widerspenstigen Gutii» als eine große Armee von König Ishpakay aus dem Lande Ashkuzay beschrieben. Das Land Ashkuzay ist offensichtlich das biblische «Reich Aschkenas» in den Prophezeihungen Jeremias. Von dem babylonischen Chronisten Beros (IV.-III. Jh. v. d. Zt.) wurden Gutii als Meder beschrieben.

Mit dem biblischen Begriff «Aschkenas» bezeichnet die Thora den Sohn von Gomer und Enkel von Japhet wie auch den Ort und Siedlungsbereich der Nachkommen von Aschkenas auf dem heutigen Taurusplateau Anatoliens und Kurdistans, seit dem Frühmittelalter im Kaukasus und in den pontischen Steppen Russlands und seit über 1000 Jahren in Deutschland wie auch als Bezeichnung in der deutsch-jüdischen Literatur. Am Ende des XX. Jh. bildeten die Aschkenasen einen großen Teil der Juden (ca. 80% weltweit), ihr Anteil an der jüdischen US-Bevölkerung war sogar noch höher. Zu den aschkenasischen Forschungen gehören Arbeiten von verschiedenen Autoren und Publizisten über die Geschichte, Sprachen und Soziologie der europäischen, «aschkenasischen» Juden, aber auch die Untersuchung der Ethnogenesen praktisch aller europäischen Völker und Nationen, die schon in archaischen und antiken Zeiten wie auch im Mittelalter enge Kontakte und gemeinsame lexische Felder mit den Israeliten hatten.

Die Migration des Topo- und Ethnonyms Aschkenas illustriert sein Auftauchen in Mitteleuropa im Hochmittelalter  im XII.-XIII. Jh. im Rheinland. Dort entstand die jüdische religiös-mystische und asketische Bewegung Chassidei Aschkenas. Die Theologie dieser Bewegung wurde durch frühe Kabbalisten und besonders durch die Werke von R. Saadia Gaon beeinflusst. Ein schillernder Repräsentant der Chassidim war R. Yehuda Ha-Chassid aus Regensburg mit seinem Werk Sefer Chassidim. Wegen der Verfolgungen wanderten im frühen XIII. Jh. viele der Chassidei Aschkenas nach Spanien aus, wo dann im XIV. Jh. die Bewegung aufgehört hatte zu existieren.

Der amerikanische Archäologe John Philip Cohane und sein Freund, der bekannte Linguist, Orientalist und Semitologe Cyrus Herzl Gordon (1908–2001)  - beide arbeiteten an der University of Pennsylvania – waren der Meinung, dass viele geographische Namen Amerikas einen semitischen Ursprung haben. Cohane veröffentlichte 1968 sein Buch The Indestructible Irish (Die unverwüstlichen Iren), in dem er die These von der «mediterranen Herkunft» der Kelten Englands, Irlands, Schottlands und Wales und deren semitischen Ursprünge aufstellte. Aktuell konnte zuletzt ein Team von irischen Genetikern und Archäologen im Fachblatt PNAS online nicht die Inzucht von Insulanern, sondern deren Vermischung mit den Völkern des Vorderen Orients, Schwarzmeerraumes und der russischen Steppe nachweisen.

Später siedelte Cohane, der irische Vorfahren hatte und zu einem Erfolgsautor wurde, nach Irland über. Dort war er weiterhin als Autor tätig und verfasste u.a. mehrere Bücher zu Themen der Etymologie-Forschung und seiner Lehre vom «Diffusionismus». Im Wesentlichen gilt er als Verfechter der Vorstellung einer semitischen Urkultur der Menschheit. Der große Cyrus Herzl Gordon, der einige seiner Theorien unterstützte, schrieb das Vorwort zu dessen Programmbuch  «The Key...» Dort behauptet der Autor, dass es bereits lange vor den Zeiten der Ägypter, Griechen, Phönizier und Karthager zwei bedeutende, weltweite Migrationen semitischer Völkerschaften gegeben habe. Einiges von diesen Theorien wurde in letzter Zeit in seriöser Publikation über die Ursprünge der präkolumbischen Kultur vom deutschen Dokumentarfilmer, Autor und seit 1981 Universitätsprofessor für Kulturwissenschaften an   den Universitäten Göttingen und ab 1994 Hildesheim Hans Giffhorn nachgewiesen. Giffhorn fand überzeugende Argumente und Indizien für die Herkunft der südamerikanischen Peru-Indianer Chachapoya aus dem antiken keltisch-karthagischen Kulturraum und den semitischen Transfer nach Amerika (2013).

Hölzerne Gräber-Katakomben der asiatischen Skythen, die in den eisigen Bergen von Altai und Pazyryk auf einer Höhe von 2.000 m gefunden wurden, sind in Tradition der semitischen und jüdischen Beerdigungen in Eretz Israel hergerichtet und bieten eine einzigartige Möglichkeit gut erhaltene Gräber und Kunst von asiatischen Skythen zu erkunden. Träger dieser Kultur lebten in den angrenzenden Gebieten von Kasachstan, der Republik Altai und der Mongolei. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Publikation des aserbaidschanischen Autors, des Turkologen Elschad Alili, über die protoaschkenasische Erwähnung des Ethnonyms/Antroponyms «Aschkenas» in Aserbaidschan des VII. Jh. Außerdem hat sich der  Autor auch mit zwei orchon-jenisseischen Inschriften auf zwei Grabsteinen aus der Gegend Iche-Askhete (Mongolei) befasst. Diese handeln von  dem Begriff «asÄŸanaz er», der von Sergej Jefimowitsch Malow (1880–1957), einer der führenden sowjetischen Turkologen, als Anthroponym und als «der Mann AsÄŸanaz» übersetzte. Der deutsch-russische Wissenschaftler Wassili Wassiljewitsch Radlow (Wilhelm Friedrich Radlow, 1837-1918), der wegen turkologischen Forschungen in der zweiten Hälfte des XIX. Jh. nach Russland übersiedelte und sein Leben mit diesem Land verband, betrachtete den Ausdruck «der Mann AsÄŸanaz» als ein Ethnonym.

Die Spuren der «verschollenen» Stämme Israels finden sich nicht nur in der Mongolei, sondern auch in der Mandschurei und sogar in Japan und Korea – überall dort, wo Gebräuche, Riten, die Architektur des Jerusalemer Tempels, die Runeninschriften oder Varianten der israelitischen epigraphischen Schriftzeichen gefunden wurden (Joseph Eidelberg, 2005). Nach der japanischen Tradition und entsprechend der Japanese-Jewish Common Ancestor Theory erschien auf den Inseln vor etwa 1700 Jahren während der Herrschaft des Kaisers Yusuke-O ein Kollektiv von 3.600 Menschen, die sich Izrai nannten.

Der israelische und russisch-ukrainische Linguist Vladimir Isaakowitsch Schneider aus Beer-Shewa (Israel) vertrat 1998 in seinem Buch «Die Spur der Zehn» (engl. Ausgabe Traces Of The Ten, 2002)  diese These, die auch in seiner anderen Publikation des vergleichenden Wörterbuches «Das Siegel von Aschur» (Печать Ашура, Беэр-Шева 2013)  dargelegt und untermauert wurde. Diese These besagt, dass die Sprachen der Völker Europas und Nordasiens – der Germanen, Slawen, Türken und der Anderen – verblüffende Verbindungen im Wortschatz, Grammatik, Phonetik und Schrift mit semitischen Sprachen, vor allem mit dem Aramäisch und Hebräisch, zeigen. Aus mehreren Gründen wurde die Vorstellung von einem gemeinsamen Ursprung dieser Sprachfamilien vom Autor zurückgewiesen. Es bleibt festzustellen, dass die Völker Europas und Nordasiens auf dem anatolischen Plateau eine lange Periode der Zweisprachigkeit erlebten und ihre zweite Sprache semitischen Ursprungs war. Diese Sprache war in vielerlei Hinsicht eine gemischte hebräisch-aramäische Sprache, die die Juden der Zehn Stämme Israels, die durch die assyrische Gefangenschaft verlorengingen, sprachen. Die Geschichte des relativ kleinen Kollektivs der Samariter ist  gut bekannt. Angeblich hatten die «verschollenen» Semiten keinen Kontakt mit den Völkern des Nordens, und von ihnen blieb nichts in der semitischen Sprachenspur. Daher ist es notwendig weitere semitischsprechende Menschen, die aus der Region des Nahen Ostens als Eroberer nach Europa und Nordasien kamen, zu suchen. Diese Leute, die einen  engen Zusammenhalt hatten unter einer strammen Verwaltung standen, müssten zahlreich gewesen sein. Nur in solch einem Fall konnten die alten Germanen, Slawen, Türken und die anderen Völker zweisprachig bleiben, und nur die Juden der «verschollenen» (assimilierten, aufgelösten) Stämme Israels konnten den eroberten  Völkern ihre gemischte semitische Sprache (die Sprache der Barbaren) weitergeben.

Den Ursprung der seit vor über Jahrtausenden stattgefundenen Wanderungen der biblischen Israeliten lag v.a. in den Auseinandersetzungen zwischen den Monotheisten aus dem südlichen Reich Iuda (griech. Judäa) und dem nördlichen Reich Israel mit seinen synkrätischen paganischen, polytheistischen und pantheistischen Bräuchen. Eine weitere wichtige Ursache lag in den Eroberungskriegen der damaligen Weltmächte.

Im Knossos auf der Insel Kreta, 5 km südlich von Heraklion,  gruben Archäologen eine der ersten Städte Europas mit dem legendären minoischen Palast des Königs aus, dessen Name für diese alte europäische Kultur als Bezeichnung blieb. Diese Kultur  brachten auf die Insel semitische Kolonisten, die Israeliten und Kanaaniter, später semitische «Seevölker» aus den Gebieten des heutigen Israel und Kleinasiens. Die Forschungen zeigen, dass in der Alten Welt der antike Kanaan und Kreta enge Beziehungen hatten, besonders mit den Israeliten aus dem Nordreich, die heidnische Götter fürchteten. Kein Wunder, dass auch die Thora von «Galiläa der Heiden» spricht (Jes. 9 : 1.2). Es gibt übrigens Überlegungen neben Judäa und Israel auch Phönizien als eine sozial-politische und sprachlich-geographische dazu gehörende Einheit zu betrachten. In den 1960er bot Cyrus Herzl Gordon  die Theorie des Ursprungs der griechisch-semitischen Minoischen Kultur vom gemeinsamen uralten semitischen Ursprung an. Daraufhin publizierte der Schüler von Gordon,  Michael Astour, seine monumentale und umfassende Arbeit Helleno-Semitica :  An Ethnic and Cultural Study in West Semitic Impact on Mycenaean Greece (1965).

Die Hauptarbeit des englischen Linguisten, Sinologen und Spezialisten für die Entwicklung der chinesischen Sprache sowie der Sprachen des Nahen Ostens, Martin Bernal (1937-2013), ist sein Werk Black Athena :  The Afroasiatic Roots of Classical Civilization. Der Autor veröffentlichte in drei Bänden (1987, 1991 und 2006) seine Theorie und Hypothese, die besagt, dass die Kultur und Zivilisation des antiken Griechenlands und der anderen alten Kulturen von den Phöniziern und Ägyptern transferiert wurde. In «Black Athena» versuchte Bernal die kulturellen Einflüsse auf der sprachlichen Ebene zu demonstrieren. So sah er die Ursprünge der Entstehung der westlichen Zivilisation in Asien und Afrika und nicht wie bisher angenommen in Europa. Nach Bernal gibt es zwei Theorien über den Ursprung der griechischen Zivilisation :  das «arische» und das «phönizische» Modell. Nach dem arischen Modell wurde Griechenland aus dem Nordwesten besiedelt, wo Einwanderer aus Mitteleuropa kamen. Wegen Mangel an Beweisen verwarf Bernal das arische Modell. Er zitierte ausgiebig griechische Historiker, die die Ansichten der Zeitgenossen Sokrates, Platon, Aristoteles teilten, um zu zeigen, dass Griechenland von den Phöniziern kolonisiert wurde. Bernal nahm an, dass Einwanderer aus dem Norden die Phönizier trafen und sich mit denen vermischten.

Darüber hinaus versuchte er politisch korrekt zu beweisen, dass die Ägypter und Phönizier meist aus Afrika und nicht aus dem Mittelmeerraum kamen. Unter Arier versteht er die Träger der frühen indogermanischen Sprachen. Die häufigste Annahme ist derzeit die, dass es auf dem Balkan indigene Völker gab, und darum suchen Linguisten nach Sprachspuren des vorindogermanischen Substrats des antiken Griechenlands. Die minoische Kultur gilt zwar als vorindogermanisch, wurde aber von Cyrus Herzl Gordon als semitisch bezeichnet. Übrigens sind die Anfänge der frühkikladischen Kultur der Hellas wie auch der Kulturen der Spätbronzezeit Zyperns meist als vorindogermanisch zu betrachten. Die vorherrschende Meinung ist, dass Protogriechen aus der Vermischung der einheimischen Bevölkerung mit den indoeuropäischen Einwanderern und deren Sprachen nach und nach unter dem Einfluss von lokalen Sprachen das Griechisch geformt haben, um sich zu einem Sprachisolat zu entwickeln. Besonders gut entwickelte sich diese Sprache im 2. Jahrtausend v.u.Zt. als der phönizisch-semitische Einfluss am effektivsten war.

Nach Irma Iwanowna Haynman (1983) fanden Massenumsiedlungen der Juden an die nördliche Schwarzmeerküste wahrscheinlich noch vor der Fertigstellung der endgültigen Fassung des Alten Testaments statt. Nach ihrer Meinung ist damit verbunden das Aufkommen des semitischen Begriffes ראש/ Ros/ Rus. Diese Besonderheit kann man in der Thora zurückverfolgen.

Mit den Begriffen «Rosch» oder «Ros» wurden bestimmte Menschen in der griechischen Umschrift des Alten Testaments zweimal erwähnt :

1). Der Begriff Rus – Rus´ - Russland, der sich auf eine Nation oder ein Staat

überträgt, konnte damit aus zwei hebräischen Wörtern mit überschneidender Bedeutung abgeleitet werden רשׁעה–רשׁע / rasha – rashiya.

2).ראש. – Ein Volk (der Sohn Benjamins), der in der nördlichen Schwarzmeerküste lebt. Der Name selbst, der mit einer Abwertung verbunden ist, ermöglicht es zu verstehen, warum der Prophet Ezekiel diese Menschen zusammen mit anderen, nicht verwandten, Kollektiven als potenzielle «Feinde Israels» betrachtete.

3). רשע.  – ein «Abtrünniger», ein «Bösewicht» und ein «Feind Israels» (Jes. 13 : 11 – über Babylon).

In ihrer überzeugenden Arbeit war Irma Haynman in der Lage, den Begriff der russischen Historiographie «Das Alte Rus´» als das Erbe der handelsmilitärischen Organisation in der Tradition von jüdisch-hellenistischen Bruderschaften – Fias (Fias / θίασος, Thiasos – .übers. Versammlung oder Prozession) des Bosporenreiches zu erklären. Seine Bezeichnung erhielt solch eine Organisation von dem hebräischen Wort «×¨×©××¢×”Ö¼» - «×¨×©××¢» / rasha – rashiya (Rus´), mit der man zu den Zeiten der Maccabeer (II. Jh. v. d. Zt.) hellenistische Juden bezeichnete, die das Judentum ablehnten und zum Polytheismus zurückkehrten. Im letzteren Fall bezeichnete man so die Nachbarvölker, die im Gebiet des Schwarzmeeres lebten – die Skythen, die Kimmerer, die Armenier und viele andere. Ähnliche Schlussfolgerungen kann man in den Arbeiten des russisch-amerikanischen Historikers Efim Makarovskij finden.

Das Morphem rus erscheint als separates Wort in vielen Sprachen. Die uralte grundlegende Bedeutung dieses Morphems ist also «Schädel», «Kopf» und «Land» wahrscheinlich noch in Nostratischen Sprachen. Das gleiche Morphem mit Affixen, Postfixen und Suffixen, sog. Zirkumfixen diente für Wörterbildungen in vielen Sprachen als Kopf/ rus/ rosch/  ×¨××©. So bezeichnete man oft die Anführer, den Stammesfürsten oder den Prinzen. Wir sehen auf diesem Beispiel die Ergebnisse eines frühen Kompromisses zwischen Europa und dem Nahen Osten, zwischen der jüdisch-phönizischen Sprache und dem indoeuropäischen Modell. Die Titulaturen von ros/ rus existierten noch in den Zeiten Babylons und innerhalb der Grenzen des Partherreiches bis zum XI. Jh. und schufen damit eine wichtige Grundlage für Topo- und Ethnonymen Europas und Eurasiens :  wie z.B. die Etrusker, Russland, Rostov am Don, Rostock in Deutschland, Roslagen in Schweden usw. Nicht umsonst wies der große Assyriologe des XX. Jh. Cyrus H. Gordon bei vielen Beispielen der alten Bi- und Trilingua direkt auf das wichtige Interaktions-Merkmal von indoeuropäischen und semitischen Sprachen.

2.

Während der Reformation sahen Martin Luther und seine Anhänger im Alten Testament und in der bloßen Existenz der Juden die Ursache ihres eigenen Unglücks, ihrer persönlichen Tragödie und der Unfähigkeit der Erlösung. Im Gegenteil zu der eliminierenden lutherischen Judophobie («tötet die Juden, brennet Synagogas») schafften die Schweizer Protestanten Ulrich Zwingli und Johannes (Jean) Calvin wie auch ihre englischen, später amerikanischen Anhänger, besonders die Puritaner, eine gegenteilige Haltung – ein gewisses Gefühl der Affinität, eines gemeinsamen Ziels und die Hoffnung auf die Errettung. Das rationale Denken der britischen Protestanten suchte eine rationale Erklärung für die Existenz der Juden. Wenn die Juden durch alle Prüfungen ihrer Geschichte gingen und am Ende nicht das Vertrauen in die Richtigkeit ihres Weges, der Richtigkeit ihrer Sicht auf das Leben und die Wahrheit Gottes verlieren und trotz aller Versuche ihr Glauben zu zerstören überlebten – dann hatten sie Recht. Daher sollten jüdische Propheten, ihre Könige und Richter wie auch ihre Geschichte sorgfältig untersucht werden, weil in der Geschichte der Juden die Wahrheit sein müsste, und am Ende verdienen die Juden selbst Respekt. Das Echo dieser Gedanken verfolgt man in der  Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, die am 2. Juli 1776 proklamiert wurde. Danach sind die Amerikaner vom Schöpfer selbst mit gewissen unveräußerlichen Rechten bedacht worden, worunter das Wichtigste das Leben, die Freiheit und das Bestreben nach Glückseligkeit ist (Life, Liberty and the pursuit of Happiness). 

Zu einem gewissen Grad wurde das Alte Testament zu einer Mode. Die Kinder der protestantischen Familien bekamen oft alttestamentarische Namen – Israel, Joshua, Daniel, Isaak, Sarah, Rebecca, Rachel, Hannah usw. Auch neue Siedlungen in den USA wurden mit den Toponymen des Alten Testaments in Verbindung gebracht. So entstanden in Neuengland zahlreiche Siedlungen wie Bethlehem, Jerusalem, Salem, Zion und Sinai. Solche Entwicklungen spielten eine große Rolle in der Entstehung der «protestantischen Ethik» (Max Weber). Aus diesen Positionen heraus könnte man die Werke von Werner Sombart (Die Juden und das Wirtschaftsleben, 1911) auch als eine späte Reaktion auf British-Israelism in Deutschland betrachten. Die gebildeten Menschen damaliger Zeit hielten die Beherrschung der hebräischen, griechischen und lateinischen Sprachen als Pflicht. Diese dreiteilige Basis des kulturellen Erbes kann man in der Poesie von John Milton nachfühlen. Noch viele Jahre nach der Eröffnung der University of Harvard im XVII. Jh. sprachen seine Absolventen die Diplom-Abschiedsrede in Hebräisch. Das Emblem von der Yale University beinhaltet Slogans auf Hebräisch und Latein.

Aufgrund eines solchen Ansatzes folgte eine wichtige Konsequenz :  die hebräische Sprache und die Studien des Alten Testaments wurden in allen mittleren und höheren britischen und vor allem in amerikanischen Schulen für Jungen und junge Männer eingeführt. Darum überrascht es nicht, dass die meisten der Gründungsväter der USA Hebräisch lesen konnten und ständig Referenzen aus dem Alten Testament in ihren Reden und Schriften nutzten. Flüchtige Phrasen aus der «Hebräischen Bibel», Anspielungen, Allegorien und die jüdische Geschichte begannen schnell in die englische Sprache einzudringen. Sie wurden allgemein anerkannt und wurden auf allen Ebenen der Gesellschaft verstanden.

Der britische Rechtsanwalt und Orientalist John Sadler (1615-1674) veröffentlichte 1649 anonym sein Buch «Rights of the Kingdom» (Rechte des Königreichs), das die hebräischen Gesetze und die Rechtsprechung von Moses, David und Salomo mit zeitgenössischen englischen verglich. Es war die erste Publikation zum Thema Anglo-Israelismus, auch British-Israelism genannt. Die British-Israelisten bezogen sich u.a. auf die Meinung von prominenten Wissenschaftlern dieser Epoche, wie Joseph Justus Scaliger (1540-1609) aus dem XVI. Jh., der Hebräisch als ursprüngliche Matrix der Sprachen der Welt betrachtete. Praisegod Barebone und andere Mitglieder des sog. «kleinen Parlaments» von Oliver Cromwell brachten 1653 die britischen Gesetze in Einklang mit den israelitischen. Die Anhänger dieser pietätischen Bewegung etymologisieren selbst den Begriff «Britisch» durch Hebräisch als ein Lexem. Brit – eine Union und -isch – die Person, – :  zusammen sollte es die Bezeichnung einer Person der Vereinigung oder des Bundes bilden. Der Anglo-Israelismus  ist eine in Großbritannien, aber z. Zt. vorwiegend in den USA verbreitete, theologische Lehre, nach der die Briten und andere nordeuropäische Völker von den Zehn verlorenen Stämmen  Israels abstammen.

Im XIX. Jh. nach mehreren Wellen der Erweckungsbewegungen übernahm die Staffel des Anglo-Israelismus die amerikanische mormonische Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (The Church of Jesus Christ of Latter-day Saints). Nach mormonischer Überlieferung nahm der amerikanische Prophet Joseph Smith jr. 1827 die goldenen Platten an sich und fertigte von ihnen eine Übersetzung, die als das Buch Mormon bekannt ist. Drei Jahre später gründete Smith die erste mormonische Religionsgemeinschaft. Nach den Vorstellungen dieser Kirche ging sie aus einer direkten göttlichen Offenbarung an Joseph Smith hervor.  Am 27. Juni 1844 wurde Smith als Untersuchungshäftling in einem Gefängnis in Carthage von einer aufgebrachten Menschenmenge getötet. Damit war er der erste US-amerikanische Präsidentschaftskandidat, der während des Wahlkampfs ermordet wurde. Die mormonischen Wissenschaftler, Historiker und Archäologen widmen sich bis heute leidenschaftlich dem Problem der Wanderungen der Zehn «verschollenen» Stämme Israels.

Vor nicht allzu langer Zeit wurde der amerikanische Journalist, Reisender, Abenteurer und Gründer der Kirche der «Internationalen Gemeinde Jesu Christi, Kirche des zweiten Advents» Douglas Eugene («Gene») Savoy (1927-2007) durch die Entdeckungen in Peru weltbekannt. Nach seiner theologischen Lehre hat das zweite Kommen Christi bereits stattgefunden. Er war der festen Überzeugung, dass der wiedergekommene Christus sein toter Sohn Jamil war. In den Expeditionen durch den peruanischen Regenwald und den Dschungel Amazoniens entdeckte er mehr als 40 „verlorene Städte“ und prähistorische Siedlungen, darunter die legendäre Incastadt Vilcabamba, und fand  steinerne  phönizische Inschriften unweit der Siedlung Gran Vilaya in Peru (600 km nördlich von der Hauptstadt Lima). Savoy identifizierte außerdem die Nachfahren des Indianer-Volkes der Chachapoya und diente später sogar dem Cineasten George Lucas als Vorlage für die erfolgreiche Indiana-Jones-Filmreihe (bekannt als «real Indiana Jones»).

3.

Nach den Religionskriegen und am Ende des Dreßigjährigen Krieges (1618-1648) fing eine politische, wissenschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung in Europa und Nordamerika an, die man als Zeitalter der Aufklärung bezeichnet. Zum Programm der historischen europäisch-nordamerikanischen Aufklärung im XVII. und XVIII. Jh. gehört die Berufung auf die Vernunft als universelle Urteilsinstanz, eine Hinwendung zu den Naturwissenschaften in der philosophischen Erkenntnistheorie, und in Religionsfragen das Plädoyer für Toleranz gegenüber anderen Glauben. In Moral- und Rechtsphilosophie war es die Orientierung am Naturrecht. Der Begriff Aufklärung wurde in Deutschland durch Immanuel Kant geprägt.

In der Mitte des XVII. Jh. erschienen einige Theorien europäischer Linguisten, Wissenschaftler und Vordenker, die einen starken Einfluss auf die damalige Linguistik und die Öffentlichkeit ausübten. Bis zur dieser Zeit waren Menschen der Meinung, dass Hebräisch die Ursprache des Menschen sei. Diese Annahme stützte sich auf biblische Hintergründe. Der niederländische Linguist Marcus Zuërius van Boxhorn (1612 oder 1602 – 1653) sprach 1647 über die wichtigste Verbindung zwischen mehreren europäischen und asiatischen Sprachen. An der Universität Leiden beschäftigte man sich schon vor Boxhorn mit der genetischen Verwandtschaft von Sprachen und Sprachgruppen. Interessant ist, dass schon 1575 der Professor für Hebräisch in Leiden Franciscus Raphelengius seine Schüler über die Ähnlichkeiten von Persisch und den germanischen Sprachen unterrichtete, was auf eine genetische Verwandtschaft dieser Sprachen hinweisen könnte. Van Boxhorn sah insbesondere in seiner indo-skythischen Theorie die Beziehung zwischen der deutschen, der illyrischen, griechischen und italischen Sprachen auf einer Seite und Persisch auf der anderen. Später kamen dazu auch slawische, keltische und baltische Sprachen. Da Boxhorn die Ursprache als ein Nachlass der Skythen ansah, bezeichnete er diese hypothetische Sprache als Skythische. Moderner Neomarrismus spricht für eine semitisch-jüdische Abstammung von Skythen und Saken.

Der US-amerikanischer Archäologe und Anthropologe am Hartwick College David W. Anthony und seine Frau, auch eine Archäologin Dorcas Brown, haben sich beide auf die vergleichende Archäologie in Zusammenhang mit verwandten Disziplinen, vor allem mit der Anthropologie und Linguistik, konzentriert. Anthony untersuchte die nordamerikanischen präkolumbianischen Kulturen wie auch die proto-indoeuropäischen Steppenkulturen (letztere in enger Zusammenarbeit mit einer Reihe von Archäologen in Russland und der Ukraine). Anthony versuchte die Geschichte der Pferdezucht und des Instituts von Bündnissen der militärischen Krieger-«Hunden» in den Steppen Kasachstans und insbesondere in der nördlichen Schwarzmeerregion mit dem Aufkommen von der Proto-Indoeuropäischen Sprache zu verknüpfen. Nach seiner Hypothese unternahmen die überlegenen indogermanischen Reiter durch die Verwendung von Pferden und Wagen umfangreiche Eroberungen im Osten und Westen, was zu einer schnellen Verbreitung ihrer Sprache und der ethnischen Zugehörigkeit zu den Indogermanern beitrug. Besonders Altai und Kaukasus sind zu den Ethnogenesezentren der Reitervölker der Skythen und ihren Erben in der Antike und dem frühen Mittelalter geworden. So wird van Boxhorns Vermutung überraschenderweise durch Anthonys indo-skythische Hypothese bestätigt.

Marcus Zuërius van Boxhorn war der Meinung, dass die Verwandtschaft von Sprachen an systematischen grammatischen Übereinstimmungen belegbar sein müsse und nicht nur auf Grund von ähnlich aussehenden Wortformen postuliert werden sollten. Er war der Begründer der Methodik zur Untersuchung der Sprache, die wir heute als komparative Methode oder Komparatistik bezeichnen. Ein Jahrhundert nachdem Boxhorn seine Theorie postuliert hatte, fand der Franzose Gaston-Laurent Cœurdoux die grammatikalische Evidenz für die Verwandtschaft von Sanskrit mit der Indo-Skythischen bzw. Indoeuropäischen Sprache. Er fand 1771 Kognaten des Verbs «sein» im Sanskrit und Latein, die für eine Verwandtschaft sprachen. Inspiriert durch die Schriften von Lord Monboddo beschäftigte sich auch Sir William Jones (1746-1794) mit der Indoeuropäischen Theorie, die seitdem zu dem Grundstein der Indogermanistik des XIX. Jh. zählt. Für sich errang Jones mit der Aussage über die Verwandtschaft von Sanskrit zu Griechisch und Latein viel Ruhm, was auch mit seinem hohen Ansehen in der britischen Kolonialregierung und seinem Status in der Asiatischen Gesellschaft in Zusammenhang stand, obwohl Jones selbst keine Studien zu dieser Verwandtschaft anstellte. Dass Jones´ Theorie sich auf van Boxhorns Erkenntnis stützte, erwähnte er nie.

Zu Beginn des XIX. Jhs nach der Entdeckung der indogermanischen Sprachengemeinsamkeiten durch den Engländer Sir William Jones erschienen die Arbeiten vom Deutschen Franz Bopp (1791-1867) und dem Dänen Rasmus Christian Rusk (1787-1832), und es entstand die indogermanische, bzw. indoeuropäische Sprachwissenschaft. Zu einem entscheidenden Faktor dieser Forschungen wurde das Studium des Sanskrits, vor allem in den Werken von William Jones, Friedrich Schlegel, Wilhelm von Humboldt und Franz Bopp – letzterer fungiert als Begründer und zentrale Figur der modernen deutschen Indogermanistik. Der Begriff Historisch Vergleichende Sprachwissenschaft wird heute oft als Synonym für Indogermanistik verwendet.

Im letzten Drittel des XVIII. Jh. verschob sich das Augenmerk der deutschen Autoren und Denker von der Frühzeit auf die Literatur des Hochmittelalters (J.G. Herder). Mit der Grammatik der deutschen Sprache beschäftigten sich F.G. Fulda und J.C. Adelung. Während der Zeit der Romantik griff man v.a. die Ansätze Herders an, aber benutzte auch andere Grundlagen, z.B. die von Wilhelm von Humboldt. Zu dieser Zeit wurden literarische Zeugnisse des Mittelalters als Wirken eines Volksgeistes betrachtet (A. von Arnim und Clemens Brentano), übersetzt (Tieck), aufbereitet (A.W. und F. Schlegel, F. Bouterwerk, L. Uhland) und editiert (F.H. von der Hagen). Anfang des XIX. Jh., besonders nach den napoleonischen Kriegen, kamen dazu J. und W. Grimm und K. Lachmann, deren Ruhm auch Franz Bopp forderte.

Die grandiosen Erfolge der deutschen Linguistik dieser Zeit hatten eine enorme gesellschaftliche Resonanz in ganz Europa. Deutsche Philosophen, Denker und Journalisten, aber auch Anthropologen  machten weiterführende Schlussfolgerungen aus den Erfolgen der Sprachwissenschaften. Besonders die Begrifflichkeit der arischen Sprachen wurde kritiklos erweitert und auf Ethnogenesen, Soziologie, Philosophie und Politik übertragen. Dazu kam, dass die deutsche Romantik sich vom kulturellen und gesellschaftlichen Prozess praktisch ausgeschlossen hatte. Die typische Stimmung war melancholisch mit einer Flucht aus der Realität, dem sog. Eskapismus, und Auszug aus dem öffentlichen Leben. Deutsche Philosophen, wie z.B. Johann Gottlieb Fichte, die für ein nationales Erwachen und eine Rückkehr zu konservativen Werten auch während der französischen Besetzung der napoleonischen Kriege eintrat, propagierten zur gleichen Zeit antisemitisch aufgereihte Argumente. Trotz der Tatsache, dass zu Beginn des XIX. Jh. viele jüdische Intellektuelle (Karl Marx), Musiker (Felix Mendelssohn-Bartholdy) und Dichter (E.T. Hofmann, Heinrich Heine) getauft und durch den Einfluss deutscher politischer Romantik geprägt wurden, sprach man sie für die Probleme Deutschlands in der Neuzeit schuldig. Im Einklang mit den Schlussfolgerungen der Sitzungen der einflussreichen «Berliner Tischgesellschaft» oder durch die Werke von Clemens Brentano waren die Juden an allem schuld. So wurde die Ideologie des europäischen Antisemitismus und die Legende von einer jüdisch-freimaurerischen Verschwörung geboren und in die deutschen Geisteswissenschaften eingepflanzt. Später kamen dazu der Pasquill  vom Komponisten Richard Wagner (1850) und die Gründung der «Antisemitischen Liga» durch den linken Journalisten, Anarchisten und ebenfalls Autor von judophoben Pasquillen Wilhelm Marr (1880). Den Paradigmenwechsel von Religion zu Rasse verdeutlichte er durch die Einführung des Begriffs «Antisemitismus» in den zeitgenössischen politisch-gesellschaftlichen Diskurs.

4.

Die Etymologie der europäischen Ethnogenese-Prozesse bezieht sich v.a. auf die ersten Deportationen der zehn israelitisch-kanaanitischen Stämme Eretz Israels aus dem nördlichen Palästina, die schon vor fast drei Tausend Jahren stattgefunden hatten. Die historisch-lexische Hypothese der Aschkenasen-Forschung bezieht sich auf die  sogenannte Indosemitische Theorie, die also seit über 200 Jahren durch die Arbeiten des deutschen Bibliothekars, Lexikographs und Germanisten Johann Christoph Adelung (1732-1806) mit seinem Werk Mithridates, oder allgemeine Sprachenkunde (Berlin 1806) und nachher des Ägyptologen, Semitologen und Sprachwissenschaftlers Karl Richard Lepsius (1810-1884) anfing. Lepsius entwickelte diese Idee  wissenschaftlich in den Arbeiten über alte indosemitische Sprachkontakte :  Über die Anordnung und Verwandtschaft des Semitischen, Indischen, Äthiopischen, Alt-Persischen und Alt-Ägyptischen Alphabets und Über den Ursprung und die Verwandtschaft der Zahlwörter in der Indogermanischen, Semitischen und der Koptischen Sprache
(Berlin 1836). Nach Carleton T. Hodge (1998), einem führenden Spezialisten für afroasiatische Sprachen, gehört die Setzung einer genetischen Verbindung zwischen indogermanischen und semitischen Sprachfamilien mindestens so weit wie es Richard Lepsius 1836 feststellte.

Die indo-semitische Hypothese behauptet, dass es eine genetische Beziehung zwischen indogermanischen und semitischen Sprachfamilien besteht. Es bedeutet, dass die indogermanischen und semitischen Sprachgruppierungen von einer prähistorischen Vorfahrensprache stammen, als nur diese beiden vorhanden waren. Diese wissenschaftliche Meinung wurde nie von Mainstream-Linguisten angenommen, dafür aber gehören zu den Anhängern dieser Theorie einige sehr bedeutende Wissenschaftler. Diese Theorie ist ein Bestandteil der Indogermanischen Forschungen und stützt sich heute u.a. auch auf Publikationen russischsprachiger Autoren auf dem  Gebiet des sog. Neomarrismus, das aus den Ideen eines unscharf formulierten Œuvres des Schöpfers der «Japhetschen Theorie»  des großen russischen und sowjetischen Archäologen, Historiker, Linguisten und Philologen des XX. Jh. Nikolaj Marr (1865-1934) sich ableitet. Die russische philologische Forschung entdeckt heute wieder das Interesse an seinen Arbeiten über primäre Japhetsche (Japhetitische) Grundlagen vieler europäischer Sprachen.

Als wichtigste psychosoziale Gemeinsamkeit aller Zwölf Stämme, neben der Lehre der Thora, den Beschneidungen von Männern und dem koscheren Essen blieb die aramäisch-hebräische Sprache, das erste Buchstaben-Alphabet und die erste lineare kursive Buchstabenschrift der Welt – Judeo-Kanaanitisch/ Judeo-Phönizisch. Einige der vergleichenden Linguisten bezeichnen diese Sprache heute gemäß der o.g. Theorien, inkl. der Theorie des linguistischen Monogenesis vom italienischen Wissenschaftler Alfredo Trombetti (1866-1929) aus dem vergangenen Jahrhundert (1905) über eine hypothetische Ur-Weltsprache (eine Protosprache, auch Proto-Weltsprache oder Proto-World genannt). Die Hypothese von Trombetti fand später ihre Begründung und die Nachweise in der Arbeit des sowjetischen Linguisten und Accentologen, den Gründervater der vergleichenden, komparativen Nostratischen Sprachwissenschaft in der UdSSR, Vladislav Markovich Illič-Svityč (1934-1966), aus der Mitte des XX. Jh. Später wurden diese Ideen in Arbeiten von Aharon Dolgopolsky weiter entwickelt. 

Der Begriff «indo-semitisch» selber wurde zuerst von Graziadio Ascoli (1829-1907) verwendet, der nach Prüfung vieler Elemente im Jahre 1864 erklärte, dass diese Sprachfamilien genetisch verwandt seien. Allerdings verweigerte A. Schleicher die Anerkennung solch einer Beziehung. Der deutsche Assyriologe Friedrich Delitzsch (1850-1922), Sohn des lutherischen Alttestamentlers, bekannten Hebraisten und Aktivisten der Judenmission Franz Delitzsch, beendete 1873 sein Studium der orientalischen und semitischen Sprachen in Berlin mit einer bedeutenden Arbeit über eine indogermanisch-semitische Wurzelverwandtschaft (Studien über indogermanisch-semitische Wurzelverwandtschaft, 1873). Friedrich Delitzsch positionierte sich als Kritiker des Alten Testaments und propagierte die «arische Herkunft» Jesu Christi. Carl Abel (1837–1906), ein deutscher komparativer Philologe aus Berlin, veröffentlichte 1886 sein ägyptisch-semitisch-indoeuropäisches Wörterbuch. Obwohl seitdem dieser Begriff von mehreren Gelehrten (z. B. Adams und Mallory 2006) verwendet wurde, gibt es zur Zeit immer noch keine allgemein akzeptierte Bezeichnung für eine solche Gruppierung. Im Deutschen lautet sie indogermanisch-semitisch. Der Begriff «indo-germanisch-semitisch» wurde von Delitzsch (1873) und später Pedersen (1908) verwendet – bei ihnen ist indogermanisch ein Synonym für «indoeuropäisch». Der österreichische Linguist Friedrich Müller (1834–1898) argumentierte in der Mitte des XIX. Jh., dass die semitischen Sprachen zu einer großen Gruppe von afrikanischen Sprachen gehören, die er als Hamitische bezeichnete. Als Folge bedeutete dies eine größere Sprachengruppierung :  Indo-europäisch-hamito-semitisch. Doch das Konzept der Hamitischen Sprachen war zutiefst fehlerhaft, weil es sich in großen Teilen auf rassischen statt sprachlichen Kriterien stützte.

Joseph Greenberg (1915-2001) zeigte 1950, dass die Hamitische Gruppierung eine Umarbeitung benötigte, weil es sich nur bei einigen der Sprachen um semitische Gruppierungen handelte. Also nannte er diese stark modifizierte Gruppierung Afroasiatisch. Damit wurde die Indo-Europäisch-Hamitisch-Semitische Gruppe durch die Indo-Europäisch-Afroasiatische ersetzt. In den 1980er Jahren begannen einige Linguisten, insbesondere Joseph Greenberg und der Russe Sergei Anatoljewitsch Starostin (1953–2005),  indogermanische im Vergleich zu der afroasiatischen Sprachenfamilie als deutlich zu identifizieren. Diese Sprachenfamilie war nicht indoeuropäisch und deutete auf eine frühere Gruppierung, aus der die indogermanische abstammen würde. Solch eine Gruppierung nannte Greenberg Eurasiatisch. Diese Ansicht wurde von mehreren Nostratikern, darunter Allan Bomhard (2008), angenommen.

Weitere Arbeiten von Linguisten des XX. Jh., die das Problem gründlich mit afro-asiatischen und semitischen Daten erforscht haben, umfassen die Publikationen von H. Möller, A. Cuny (in einer Reihe von Quellen aus dem Jahr 1912 bis 1946, die alle von Bomhard verwendet wurden), L. Brunner, C. Hodge, S. Levin, A. Dolgopol´skij, V.M. Illič-Svityč und K. Koskinen.

Einige der vergleichenden Linguisten bezeichnen diese Sprache heute, gemäß der o.g. Theorien, inkl. der Theorie der linguistischen Monogenesis von Alfredo Trombetti aus dem vergangenen Jahrhundert (1905), als eine (semitische?) Ur-Weltsprache. Trombetti war Professor an der Universität von Bologna, Mitglied der italienischen Akademie und vertrat die o.g. Idee. Neben den klassischen Linien der Linguistik, die in den Sprachforschungen sich an den historischen Formen der Sprachen angrenzten, wies er durch seine Ideen aufgrund positivistischen Faktoren neue Wege hin und sah die Möglichkeit der Wiederherstellung einer hypothetischen Protosprache. Diese Meinung vertrat der sowjetische Wissenschaftler Vladislav Illič-Svityč in seinen Nostratischen Forschungen, die er später in den 1960er Jahren nachwies. In der Nostratischen Konzeption von Illič-Svityč wurden auch die Kritiken an den Konzepten und Modellen von Bopp und Trombetti verarbeitet.

Schon 1903 fanden diese Ansichten ihren Ausdruck zum ersten Mal in den Publikationen des Gründers der Nostratischen Theorie :   des dänischen Linguisten Holger Pedersen (1867-1953). Mit diesem Begriff bezeichnet man gemeinsame hypothetische Vorgängersprachen, von denen alle Sprachen, auch alle modernen Sprachen, alle Sprachfamilien und alle toten Sprachen abgeleitet sind (vom lateinischen noster – unsere). Die Basis der Indosemitischen Theorie beinhaltet das Postulat über die Einheit der kreativen Sprachprozesse in allen Weltsprachen. In diesem Sinne spielten alte semitische Sprachen, besonders Akkadisch, Aramäisch und das biblische Hebräisch, ähnlich dem indischen avestischen Sanskrit, eine wichtige Rolle in Forschungen. Besondere Verdienste auf diesem Gebiet gehören dem schon erwähnten sowjetischen Linguisten und Accentologen Vladislav Markovich Illič-Svityč (1934-1966), einem Paten der zeitgenössischen komparativen Nostratischen Linguistik, der in einer Autokatastrophe im Moskauer Gebiet ums Leben kam. Sein «Komparativer Wörterbuch der Nostratischen Sprache» wurde durch den Kollegen Vladimir Dybo vollendet. Vielleicht das bekannteste gemeinsame Merkmal der indogermanischen und semitischen Sprachen ist der Ablaut, was ein mehr oder weniger entwickeltes System der Vokalalternationen in Flexion und Wortbildung ist. Als Ablaut (auch Apophonie) wird oft ein Wechsel des Vokals innerhalb etymologisch zusammengehöriger Wörter oder Wortteile in den indogermanischen Sprachen bezeichnet. Dieses Phänomen erscheint selten in anderen Sprachgruppen und – ist zumindest weniger universal. Wladislaw M. Illič-Svityč und Aaron B. Dolgopolsky von der Universität Haifa führten um 1960 drei Viertel aller Sprachen der Weltbevölkerung auf sechs Sprachfamilien einer angenommenen «Nostratischen» Ursprache zurück. Diese unsere, Nostratische Sprache soll in der Jungsteinzeit vor ca. 12.000 Jahren gesprochen worden und die Mutter des Indoeuropäischen, Drawidischen (Südindien), Kartwelischen (Süd-Kaukasus), Uralischen (u.a. Finnisch), Altaischen (u.a. Türkisch, Mongolisch), Afro-Asiatischen (u.a. Hebräisch, Arabisch und Berbersprachen) sein.

Das wissenschaftliche Interesse an dem genannten Thema dauerte in der Fachliteratur bis zum Ende des XX. Jh. an; bis zu den interessanten Publikationen des Schweizer Altphilologen Linus Brunner (†1987) über die Geschichte der rätischen Sprachen (Die gemeinsamen Wurzeln des semitischen und indogermanischen Wortschatzes. Versuch einer Etymologie, 1969) und über den «Alpensemitismus». In den Jahren 1960-1980 beschäftigte Brunner sich gründlich mit der Forschung zum Thema «Räter und Semiten» und erschuf den Begriff «Alpensemitismus», welcher heute anerkannt ist. Mit seinen Forschungen und Publikationen über alte Inschriften auf schweizerischen Felsen und Klippen stellte er eine neue Hypothese über die Geschichte der Schweizer Sprachen auf, die annimmt, dass die Urräter ein semitisches Volk waren. Bereits in seiner ersten Arbeit zu diesem Thema, in der Reihe «Epigraphic Society Occasional Publications» (ESOP) in San Diego, USA, erörterte Brunner eine Reihe rätischer Wörter, die in den romanischen (bzw. rätoromanischen) Sprachen bewahrt blieben, und erklärte ihre semitische Etymologie. Trotz der Tatsache, dass Brunner in seinen Publikationen Vergleiche mit dem Hebräischen oft zu umgehen versuchte und seine Theorie oft durch Beispiele aus dem viel späteren Arabisch erklärte, verstand die patriotische akademische Öffentlichkeit der deutschsprachigen Schweiz den Wink und begann eine Hetze gegen den Wissenschaftler. Heute hat sich die Theorie und der Begriff Brunners fest in der schweizerischen und internationalen Linguistik etabliert.

5.

Die historisch-etymologische Analyse des Migrationsprozesses einer gigantischen semitischsprachigen Ethnie nach Ost-, Süd-Ost-, Nord- und Mitteleuropa, die im Laufe der Jahrtausende  mehrmals in viele Stämme und Völker Europas zerfiel, belegt, dass diese mit der Zeit verschwanden oder sich neu begründen konnten. Diese Methode erlaubt zuerst die Anfänge und Ursprünge der Ethnonymen, Toponymen, Hydronymen, Oronymen vieler europäischer Landschaften und Nationen wie auch Anthroponymen zu erklären, die alle in archaischen Zeiten ein gemeinsames lexisches Feld hatten und teilweise noch bis heute die wichtigen Fragmente der relikt-kanaanitischen und aramäisch-hebräischen Sprache behielten. Die Expansion der «Völkerwanderungen» der israelitischen Skythen, Sarmaten, Sueben, Goten, Franken, Alamannen (römische Autoren des III. Jh. bezeichneten sie als almani, hebr. für Witwer), Bavaren/Bajowaren (die «Männer aus Böhmen», die etymologisch nachweislich auch israelitische Einflüsse zeigen), Hunnen, Awaren, Khasaren, Bulgaren, Wikinger, Rus, Skandinaven, Finnen, Karelen, Balten und letztendlich der «Türken» aus dem Khasarischen und dem Awarischen Kaganaten bilden dazu einen beeindruckenden ethnolinguistischen Beweis. Es wundert nicht, dass man bei fast allen diesen Ethnogenesen eine israelitische Beteiligung als Spur verfolgen kann. Interessant ist darum die Information der Nestor-Chronik, in der davon direkt geschrieben wurde :  «ÐŸÑ€Ð¸ÑˆÐ»Ð¸ от скифов, то есть от хазар так называемые болгары» (Übersetzung B.A. :  Kamen von den Skythen, dass heißt von den Chasaren, die sogenannten Bulgaren).

Davon spricht übrigens auch das deutsche Nationalepos «Niebelungenlied» aus dem Anfang des XIII. Jh., das auf  Mittelhochdeutsch geschrieben wurde und über die Geschehnisse um etwa 450 u.Zt. berichtet. Im Kapitel «Wie Kriemhild und Etzel (Attila des Epos – B.A.) in Wien Hochzeit feierten» wird das damalige alleuropäische Fest beschrieben, wo u.a. die Reiter, Menschen aus Russland, Griechenland und aus dem Land Kiew, Polen, Walachei wie auch die brillante Bogenschützen-Petschenegen teilgenommen haben. Der anonyme Autor vom «Nibelungenlied» beschreibt die Stadt Tulln in Österreich, wo die Heldin des deutschen Epos Kriemhild «seltsame fremde Sitten» aus dem interaktiven Bereich der gigantischen Großen Steppe Eurasiens beobachtete. Die österreichische Stadt Tulln bildet übrigens einen ähnlichen Toponymen-Pendant in Russland — die Stadt Tula, was wahrscheinlich die Waffe, den Bogen bedeutet.

Der frühmittelalte Ethnonym Gote bedeutete im Mittelalter nicht selten auch den Juden. Interessant ist die Veröffentlichung (1882) des berühmten russischen Archäologen und Hebraisten Daniel Awraamowitsch Chwolson (1819-1911) über drei hebräische steinerne Inschriften aus Partenit, einem Dorf an der Südküste der Westkrim am Fuße von Ayu-Dag. Auf einer dieser Inschriften wird eine Menora mit dem hebräischen Text dargestellt :  «×”רפידיל הכוהן תנוח נפשו» (Herfidil Priester, da wird seine Seele ruhen). Diese Inschrift wurde mit hebräischer Quadratschrift beschrieben.

 

Der seiner Zeit anerkannte russisch-deutsche Historiker aus dem Anfang des XIX. Jh., ein korrespondierendes Mitglied der Russischen Akademie der  Wissenschaften, Professor für Geographie, Geschichte und Statistik, Theologe und Rektor der Universität Dorpat (heute Tartu, Estland), geboren in Westfalen, Johann Philipp Gustav von Ewers  (1781-1830), war einer der ersten Forscher, der einen klaren Zusammenhang zwischen der slawischen und semitisch-europäischen, jüdischen Ethnogenesen aus einer gemeinsamen Wurzel annahm und einen neuen, später durch russische Nationalisten verdammten, historischen Konzept der gemeinsamen Abstammung von russischen Juden und der Russen (1808, 1812, 1814) vorschlug. Dieses Konzept entstand ganz organisch aus der Geschichte der antiken Skythen und Sarmaten. In seinen Publikationen erwähnt er unter anderem die Existenz einer handgeschriebenen Chronik auf Hebräisch, die von russischen Kosaken geschrieben wurde. Nach Angaben des zeitgenössischen russischen Autors Albert Fjedorovitsch Studenzov (2006) waren in der Liste der 550 russischen Hydronymen 400 (70%) semitisch-kanaanitischen und vor allem hebräischen Ursprungs, der Rest wurde als russisch aus den letzten Jahrhunderten der Neuzeit verifiziert.

Die Problematik des Ursprungs von Kiewer Rus`  ist eine der sich ständig wiederholenden und diskutierten in der russischen  Geschichtsschreibung und in den russischen Medien. Diese Diskussion hat nicht nachgelassen und ist von Zeit zu Zeit eskaliert. Neuere historische, textologische und philologische Untersuchungen zeigen, dass sehr wichtige und interessante Aspekte der Überlieferungen fehlen. Darum von besonderem Interesse die Familie und die Person des Täufers Russlands, Prinz Vladimir von Kiew (das «Rote Sonnlein» der russischen Epen) ist. In der Nestor-Chronik findet man unter der Datierung des Jahres 970 (6478 seit der Erschaffung der Welt), die folgende Passage :

«Ð˜ отказались Ярополк и Олег. Ð˜ сказал Добрыня :  «ÐŸÑ€Ð¾ÑÐ¸Ñ‚е Владимира». Владимир же был от Малуши — ключницы Ольгиной. Малуша же была сестра Добрыни; отец же им был Малк Любечанин, и приходился Добрыня дядей Владимиру. И сказали новгородцы Святославу :  «Ð”ай нам Владимира», Он же ответил им :  «Ð’от он вам». И взяли к себе новгородцы Владимира, и пошёл Владимир с Добрынею, своим дядей, в Новгород, а Святослав в Переяславец.»

Übersetzung (B.A.) :  «Und weigerten sich  — Jaropolk und Oleg. Und sagte Dobrynya :  «Bittet Vladimir». Vladimir war der von Maluscha — Olgas Haushälterin. Maluscha war eine Schwester Dobrynias; der Vater von ihnen war Malk Lyubetschanin und Dobrynia war Onkel Vladimirs. Und sagten die Novgoroder zu Swjatoslaw :  «Gib uns Vladimir». Der aber sagte zu ihnen :  «Hier ist er für Euch.» Und die Nowgoroder nahmen Wladimir zu sich und Vladimir mit Dobriyja, seinem Onkel, gingen  nach Nowgorod, aber Sviatoslav in Pereyaslavets.»

Der israelisch-ukrainische Linguist und Philologe Vladimir Shneider (1998) fand im Text der aufbewahrten Kopie von der Nestor-Chronik aus dem Kloster in Ustjug die authentische Schreibweise der Namen der Mutter des Fürsten Wladimir von Kiew als aramäisch-hebräische Malka. In anderen Abschriften dieser Chronik wird diese Malka russifizierend als Maluscha beschrieben. Interessanterweise wird seinerseits der Vater Maluschas als Malk Lyubetschanin genannt. Dies zeigt die aramäisch-hebräische Natur des Namens, der „Fürst“ oder „König“ bedeutet, und dass dies auch in die Berichte über die aramäisch-kanaanitische Sprache der Großen Eurasischen Steppe passt. Wir können davon ausgehen, dass die Liste von Ustjug aufgrund der Abgelegenheit des Klosters irgendwie den Korrekturen und der Vernichtung entkam und als Folge die Authentizität der Namen der jüdisch-semitischen Malka behielt. Offensichtlich rettete diese Abgelegenheit seine Archive vor der Aufmerksamkeit der Zensoren und der Vernichtung während der ersten blutigen Reform des russisch-orthodoxen Ritus (russ. Raskol), die durch den damaligen Patriarchen Nikon 1651 initiiert wurde. 

Darum bleibt die Annahme von Johann Ewers über die Ethnifikation Russlands, einschließlich der europäischen Juden, die auch vom sehr alten Volk Eurasien abstammen, bestehen. Dies geschah nach dem Auszug der alten Semiten des Nahen Ostens und später der Israeliten des Nordreiches, die anfangs durch Deportationen und mehrere Routen aus Medien/Kaukasus in die Russische Ebene und in Ost- und Mitteleuropa gelangten. Dabei mischten sie sich aktiv mit der einheimischen Bevölkerung des Alten Europa und nahmen teil an den direkten Beteiligungen in fast allen Ethnogenesen besonders während der Völkerwanderungszeit der Spätantike. Es ist darum kein Zufall, dass Paul Kriwaczek in seinem Buch «Yiddish Civilisation – the Rise and Fall of a Forgotten Nation» (2005) schreibt, dass man das aschkenasische Judentum nicht nur als sprachliche oder religiöse Minderheit betrachten sollte, sondern als eine der Gründernationen des modernen Europa. Und warscheinlich waren die Träger der semitischen Sprachen sogar zahlreicher als manche andere.

Nachweisbare positive Impulse und Ergebnisse in der Aschkenasen-Forschung verdankt man der jüdischen Repatriierung aus der ehemaligen Sowjetunion nach Israel, als viele russischsprachige Forscher – Amateure und Profis – anfingen, sich mit auffälligen Ähnlichkeiten der slawischen und hebräischen Wörter und Sprachen zu beschäftigen. Diese Arbeit wurde bereits Mitte des XIX. Jh. von Leon Mandelstam (1819-1889) begonnen, dem ersten jüdischen Wissenschaftler Russlands, dem «gelehrten Juden Russlands» am Ministerium für Volksbildung, der 1844 als Philologe promovierte. U.a. stellte Leon Mandelstam mehrere Ivrit-russische Wörterbücher zusammen, die den jüdischen Massen erlaubten, die russische Sprache zu lernen. Seine Freizeit widmete er der Schaffung eines vergleichenden Wörterbuchs von jüdischen Wortwurzeln, die in europäischen Sprachen, inkl. Russisch, eingegangen sind. Der berühmte russische Dichter Osip Mandelstam war ein Großneffe von Leon Mandelstam.

6.

Besonders die Neubetrachtung der Epoche vom «tatarisch-mongolischen Joch» warf viele Fragen auf. In der russischen Historiographie geht man heute davon aus, dass es die russischen Fürsten am Anfang der Geschichte im Kiewer Rus` waren, die als «Türken», Tataren und Mongolen dargestellt wurden. Daraufhin wuchs der Zweifel an den Mongolen aus den asiatischen Steppen. Alle russischen Geschichtskritiker sind sich heute einig :  die Goldene Horde der Mongolen, die das alte Russland mehr als 240 Jahre (1238/1240-1480) beherrscht haben sollte, konnte auf keinen Fall aus der heutigen Mongolei stammen. Das Land der Russen nannte man viele Jahrhunderte lang Tartarei oder die Große Tartarei und nicht Russland. Auch die Eroberung von China durch die Mandschu (1644) wurde als «tartarische Eroberung» von den Europäern genannt. Die Verwendung des Wortes Tartaren/Tataren in verschiedenen Kombinationen, wie z.B. die Tartaren des Fürsten soundso, die Tartaren des Zaren etc. haben die Russen A.T. Fomenko und G.V. Nossovski auf die Idee gebracht, dass die Tartaren keine ethnische, sondern eine militärische Bezeichnung im Spätmittelalter war. So soll eine berittene Armee, eine Gattung der Kavallerie, so genannt worden sein. Eine ganz andere Frage ist, ob die entsprechenden Kavalleristen überwiegend zu den türkischen und nicht den slawischen Völkern Russlands gehörten. Vermutlich waren die Tartaren dieser Zeit ethnisch heterogen oder, wie wir heute sagen multikulturell (Eugen Gabowitsch, 2001).  Letzte genetische Untersuchungen der tatarischen Ethnien Russlands haben praktisch keine Spuren der mongolischen und tatarischen Haplogruppen gezeigt. Dies unterstützt die Untersuchung des ukrainischen Autors Alexandr Zinuhov in seinem Buch «Tschingischan, der Sohn von Isaak von Kiev» (Чингисхан, сын Исаака Киевского, 2005) über eine ununterbrochene Präsenz der Juden, deren Nachfahren, deren kulturelles Erbe und deren Soziologie im Kaukasus, in der Krim und in den pontischen Steppen des Schwarzmeeres. Nach Zinuhov fand die Geburt der Ethnie der Tataro-Mongolen nicht in Asien, sondern zwischen Wolga und Don statt. Auch Gabowitsch ist der Meinung, dass das Tatar-Mongolische Joch nach Rus` vom Westen und nicht aus dem Osten kam.

7.

Besonders die Persönlichkeit und Autorität des russischen Wissenschaflers Nikolai Jakowlewitsch  Marr (1864-1934), des Autors von der Japhetschen Theorie, spielte eine große Rolle in den Sprachforschungen der UdSSR im XX. Jh. Nikolai Marr war Sohn eines schottischen Agronoms, den sein Schicksal in den Kaukasus brachte, und einer georgisch-gurischen Mutter. Die Ausbildung erhielt er auf der Fakultät für Orientalistik an der Universität St.-Petersburg, wo er seit 1900 eine Professur inne hatte und ziemlich konservative Ansichten vertrat. Bereits in seinem ersten wissenschaftlichen Artikel «Die Natur und Merkmale der georgischen Sprache», der 1888 in georgischer Sprache in der Zeitung «Iveria» veröffentlicht wurde, entdeckte Marr, daß die Sprache der Georgier zu der semitischen Makrofamilie gehört. Er wurde zu einer anerkannten Größe unter den Spezialisten für kaukasische, besonders kartvelische, Sprachen und über die Literatur Armeniens und Georgiens sowie für kaukasische Archäologie. Marr war ein Polyglott und sprach 40 Sprachen; seine Mitarbeiter behaupteten sogar, dass er in der Lage war, 160 Sprachen zu verwenden.

Das Interesse für kaukasische und kartvelische Sprachen hatte weitreichende Folgen für die spätere Entwicklung der Linguistik in der UdSSR. Der Russe Sergej Starostin postulierte und begründete1984 die Annahme einer gigantischen dene-kaukasischen Makrofamilie mit über 4 Milliarden Sprachenträger, die ihrerseits auf der Hypothese einer sino-kaukasischen Makrofamilie basiert.  In den 1920er Jahren hatte bereits der Amerikanist Edward Sapir die Verwandtschaft des Na-Dené mit dem ca. 20.000 Jahre alten Sinotibetischen beschrieben, aber nicht veröffentlicht. Starostin sprach von einer genetischen Beziehung des als Einheit aufgefassten Gruppierung mit Nordkaukasischen und dem sibirischen Jenisseischen und dem Sinotibetischen, die sich auf seinen Rekonstruktionen der jeweiligen Protosprachen  beruhten. Später wurde diese Makrofamilie um einige altorientalische Komponenten :  Hurritisch-Urartäisch, Hattisch und u.a. auch Sumerisch, das Baskische (1985) und schließlich durch Sergei L. Nikolajew 1988 um die nordamerikanischen Na-Dené-Sprachen zur Dene-kaukasischen Makrofamilie erweitert.

 

Marr hinterließ Dokumentationen von den Ausgrabungen der uralten armenischen Hauptstadt Ani (hebräisch für Gott, – ani bedeutet Ich). Seit 1912 war Nikolaj Marr Mitglied der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften Russlands. Nach der Oktoberrevolution wurde er 1919-1934 zum Direktor der Akademie der Geschichte von materieller Kultur, des späteren Archäologie-Instituts der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. In seinen Bemühungen die Linguistik und Philologie aus marxistischen Positionen zu betrachten, begann er von 1928 an, seine Theorie mit dem Marxismus intensiv zusammen zu bringen und bot ein neues marxistisches Konzept der Sprachwissenschaft an. Als Grundlage dieser Theorie stand das Postulat über die Einheit der kreativen Sprachprozesse in allen Weltsprachen. Nach Marr bestehen alle Sprachen aus vier Elementen, – sal-, ber-, yon- und rosch – den eigentlichen sprachlichen Bausteinen. Dabei verneinte er die Existenz verschiedener Abstammungen von Sprachgruppierungen. Nach Marr sind Sprachfamilien nicht genetisch verwandt, sondern entstehen sekundär als Resultat einer Kreuzung.

Seine Theorie, die er später langatmig bemüht war aus Positionen des Klassenkampfes zu erklären, erregte die Aufmerksamkeit von Josef Stalin, und Marr wurde in der UdSSR vor dem Zweiten Weltkrieg als höchste Autorität in der Sprachwissenschaft angesehen. Nach dem Krieg wurde die kritische Polemik mit den Theorien von Marr als «schädlich» angesehen, mit allen üblichen dramatischen Folgen der sowjetischen Wirklichkeit. Seine Ansichten in der Linguistik übten Einfluss auf die Entwicklung von Archäologie und Ethnographie im riesigen Land. Die ethnischen Unterschiede verwechselte Marr mit den Klassenunterschieden, verneinte die Migration der Völker und meinte am Ende, dass die Anerkennung des marxistischen Prinzips der Einheit des historischen Prozesses zum Verzicht auf die Untersuchung lokaler ethnischer Besonderheiten führen sollte usw. Nikolaj Marr protegierte den jungen Historiker Michail Illarionovitsch Artamonov (1898-1972) und schlug ihm gleich ein neues Thema für Forschungen vor :  die Geschichte der Khasaren, in der Artamonov zu einer Koryphäe aufwuchs. In den 1910er und frühen 1920er Jahren äußerte Marr die Idee von der Existenz einer großen Japhetschen Makrofamilie, wohin neben den von ihm heißgeliebten georgischen und anderen kaukasischen Sprachen die alten Sprachen des Mittelmeers und des Nahen Ostens gehörten. Während der Sowjetzeit taufte er seine Japhetsche Theorie zu der «neuen Lehre der Sprache» um (Новое учение о языке – н.у.о я.1923). Die Linguisten erkennen heute an, dass die indogermanische Makrofamilie die alten Sprachen Asiens mit den alten Sprachen Europas in voller Übereinstimmung mit der Liste der Sprachen Japhets im Buch Genesis verbindet.

Der Kollege und Freund von Marr und deutsch-russischer Professor der Linguistik und Germanistik, Friedrich Braun (Фёдор Александрович Браун, 1862-1942), der nach der Oktoberrevolution nach Deutschland übersiedelte, veröffentlichte 1922 in Stuttgart in Form einer Broschüre seinen marristischen Aufsatz «Die Urbevölkerung Europas und die Herkunft der Germanen» als die erste Publikation über die vorindoeuropäische Besiedlung Eurasiens (in der Reihe «Japhetitische Studien für die Sprache und Kultur Eurasiens»). Die Veröffentlichung Brauns löste Interesse aus, aber nach der Publikation des Aufsatzes von N.Marr über die «Jafetsche Theorie», die durch Braun übersetzt wurde, waren alle weiteren Publikationen der Schriftenreihe eingestellt.

Das allgemeine Konzept des Marrismus (die Idee von Stadien, einige Positionen über die Verbindung zwischen Mythos und Sprache) wurden in erster Linie von den Väter der Sprachtypologie aus dem Anfang des XIX. Jh. :  die Deutschen Friedrich Schlegel und Wilhelm von Humboldt, oder aus einer späteren Zeit solche Literaturwissenschaftler und Anthropologen wie Alexander Veselovsky und Lucien Levy-Bruhl, die Linguisten und Kritiker junggrammatischer Richtung – in der Terminologie von Marr – «die Dissidenten des Indoeuropäismus» wie Hugo Schuchardt beeinflusst. Die linguistische Paläontologie, die Marr so beschäftigte, ist heute eine unterstützende historische Disziplin, die Spracheninformationen für die Gewinnung  der Daten über die Geschichte der Träger der Sprachen verwendet. Dazu gehört das Verhältnis der geographischen und zeitlichen Lokalisierung der Ethnogenese.

Nach dem Tod von Marr traten unter den Anhängern seiner Lehre Widerspruche auf, und die Beziehungen des Marrismus mit der traditionellen indoeuropäischen Sprachwissenschaft führte besonders 1949-1950 in eine Krise. Schon früher wiesen die Anhänger der Schule Marrs auf eine verhängnisvolle Verbindung der sprachwissenschaftlichen Indogermanistik mit politischen Rassen- und Nazismustheorien, die man bedingt als eine Art «Indogermanismus» bezeichnen kann.

16 Jahre nach dem Tod von Marr, 1950, trat Stalin in die Öffentlichkeit mit einer Artikelserie über die Theorien des Wissenschaftlers auf, die später in der Broschüre «Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft» veröffentlicht wurden. Es war die letzte Publikation des sowjetischen Diktators. Die vielen begeisterten internationalistischen Positionen in der Linguistik der 1920-1930er waren nicht mehr genehm, nach dem Sieg im 2. Weltkrieg wurde ein deutlicher nationalistischer Kurs in der sowjetischen Gesellschaft angelegt.

Der sowjetische Diktator, dessen Berater Arnold Chikobava war, verfasste 1950 während der finsteren Kampagne gegen die russisch-jüdische Intelligenzija, gegen «Kosmopoliten», eine Reihe von Artikeln mit scharfer Kritik an Marr. Als Folge wurden der Name und die Arbeiten von Nikolaj Marr aus dem akademischen Kanon ausgeschlossen. Der heutigen Generation der russischen Intellektuellen war sein Name und seine Arbeiten noch bis vor kurzem praktisch kaum oder nicht bekannt, aber in letzter Zeit beginnt sich in Form des Neomarrismus ein Interesse für sein wissenschaftliches Erbe zu zeigen. Das gilt auch für das Interesse über die Geschichte der semitisch-jüdischen Sprachen (Akkadisch, Aramäisch, Hebräisch, Yiddisch) in Europa und Eurasien.

Neben einigen vernünftigen Argumenten brachte Stalin ins Spiel auch sehr wirre Konzepte. So behauptete er im Gegensatz zu den Forschungen, dass die russische literarische Sprache auf dem Kursk-Orlovschen Dialekt aufgebaut sei. Außerdem kam er zu der Schlussfolgerung, dass die Sprache der Taubstummen der Intelligenz von Tieren sehr ähnlich sein sollte. Das löste einen Fluss von Briefen der vielen verschreckten sowjetischen Taubstummen in alle Zeitungen und in alle Instanzen aus, die um Erbarmen baten und versicherten, dass auch sie überzeugte Aufbauer des Sozialismus seien. Heute sind die Theorien von Marr aufgrund seiner immensen persönlichen Polyglottie, die er manchmal ohne Belege und aus dem Bauch heraus formulierte, unter dem Begriff Neomarrismus wieder populär. Sie lösen Interesse bei vielen russischen Autoren aus, die verschiedene Aspekte dieser Lehre verwenden. Z.B. publizierte der zeitgenössische russische Autor Albert Fedorowitsch Studenzov 2006 sein Buch, in dem er etymologisch mit Hilfe vieler altsemitisch-kanaanitischen Ethno-, Topo-, Hydro- und Oronymen Russlands die ethnolexischen Hypothesen von Nikolaj Marr und die Schlußvolgerungen von Vladimir Schneider über die semitischen Ursprünge der Sprache Russisch durch die Bespiele der Toponymik gründlich unterstützte und weiter entwickelte. So hat sich heute der Begriff Neomarrismus in einigen Publikationen etabliert.

8.

Die Studien der genetischen Vielfalt der Menschheit wurden seit fast hundert Jahren durchgeführt. Die Populationsgenetik studiert Genpools und sucht nach immer neuen Markern :  Blutgruppen, den mitochondrialen DNA, Y-Chromosomen und zur Zt. nach dem gesamten Genom. Diese neuen Genetik-Informationen wurden seit langem als eine von vielen Quellen verwendet, um die Migrationen der Menschen zu erklären. Heute ist die Analyse persönlicher DNA für jedermann zugänglich geworden – dies haben schon mehr als eine Million Menschen gemacht. Durch die Populationsgenetik kann jeder die Migrationen seiner Vorfahren in direkter genealogischer Linie (männlich und weiblich) durch Tausende von Jahren verfolgen. Dieser Zweig der Genetik bekam den Namen der genetischen Genealogie, obwohl in Russland öfter der Terminus «DNA-Genealogie» genutzt wird.

Die Schlüsselrolle in solchen Untersuchungen spielt die Geschichte zweier jüdischer Reiche Ost- und Mitteleuropas im Mittelalter :  des Khasarischen (Chasarischen) Kaganats in südrussischen Steppen und des Awarischen Kaganats in Zentral- und Mitteleuropa. Vom russischen Eismeer und dem Fluss Petschora bis zum afrikanischen Niger verbreitet sich das jüdische Erbe in Form von Topo-, Etno- und Hydronymen wie auch Kulturartefakten, wie Menora oder, viel öfter, als Davids Stern. MIndestens 1500  Topo- und Hydronymen Russlands kann man durch altsemitisch-kanaanitische Sprachen erklären. Eine Schweizer Studie aus 2002 stellte übrigens fest, dass jeder zehnte Deutsche jüdische Vorfahren hatte.

Professor der Linguistik an der Universität Tel Aviv Paul Wexler publizierte 1993 sein Werk (Wexler, Paul :  The Ashkenazic Jews :  A Slavo-Turkic People in Search of a Jewish Identity, Columbus, Ohio 1993), wo er etwas pathetisch verkündete, dass Jiddisch eine 15. slawische Sprache sei (manchmal jedoch sagte er, dass es die 14. ist). Seine Arbeit beinhaltet eine große Menge von Sprach- und Ethnographiematerialien, ist aber in Bezug auf bestimmte Aspekte der Geschichte und die Ethnogenese der europäischen Juden nicht zutreffend. Auf der Suche nach neuen Wegen sah er eine besondere sprachliche Affinität zu der slavischen Ethnie der Sorben/Wenden an der Lausitz. Die Slavismen der Sprache Yiddisch sind abhängig von den Regionen und zeigen statistisch relativ wenige Unterschiede. Grob gerechnet stimmt 75% seines Lexika aus dem Mittelhochdeutsch des XV. Jh., etwa 15% sind Aramäismen und Ivritismen und die lediglich verbliebenen 10% beinhalten Slavismen, Turkismen und Einflüsse von anderen Sprachen.

Doron Behar aus der Universitätsklinik Rambam in Haifa, Israel, berichtete Im Jahr 2006 im Rahmen des Genographic Project über das Fragment einer genetischen Forschung, nach der die aschkenasischen Juden etwas umstritten von den vier Urmüttern, die wahrscheinlich vor rund 1000 Jahren in Europa lebten, abstammen. Ein Jahr später erschien ein Werk des amerikanischen Fachjournalisten Jon Entire, in dem eine Reihe von Ergebnissen von internationalen genetischen Studien aschkenasischer Juden zusammengefasst wurde. Die deutschen Leser interessierte damals leidenschaftlich eine Frage :  seit wann stammen die aschkenasischen Juden von deutschen Frauen ab?  Offensichtlich ist der Prozess der interethnischen Kontakte der Juden und Deutschen über 2000 Jahre alt, d.h. seit der Zeit der Wanderungen der jutungischen Skythen und Allemanen/Almanen. Etwa 40% der Vorfahren der aschkenasischen Juden könnten angeblich von mitteleuropäischen Frauen abstammen, die am Rhein zu der Zeit des Awarischen Reiches und Karl des Großen lebten. Diese Information hätte Parallelen zu der biblischen Geschichte von Ruth der Moabiterin.

In diesem Jahr hat sich der israelische Genetiker Eran Elhaik, der zur Zeit an der University of Sheffield, UK, 2016 mit einem Artikel «Localizing Ashkenazic Jews to primeval villages in the ancient Iranian lands of Ashkenaz» im Fachblatt «Genome Biology and Evolution» forschte, sich wieder zu Wort gemeldet. Dort schrieb er, dass durch ein Vergleich des Erbguts von 1287 Personen aus jüdischen und nichtjüdischen Populationen herausgefunden wurde, dass das Genom der aschkenasischen Juden zu großen Teilen mit dem kaukasischer Volksgruppen übereinstimme und nur zu einem geringeren Teil mit dem der nahöstlichen Völker. Es ist bekannt, dass die aschkenasischen Juden keinen gemeinsamen Haplotyp besitzen, sondern ein Mosaik. Trotzdem ist es möglich, die genetischen Spuren einer Verwandschaft  der Juden der Welt nachzuweisen. Viele Aschkenasen tragen sefardische Familiennamen :  Lurie/Luria, Malkiel, Rappaport usw. Elhaik glaubt die «Rheinland-Hypothese», die besagt, dass die Juden aus dem historischen Palästina vertrieben waren und sich irgendwann im Rheinland niedergelassen hätten, widerlegt zu haben. Nachher seien sie Anfang des XV. Jh. nach Osteuropa weitergezogen, wo sie die jiddische Sprache und Kultur begründeten. Die aschkenasischen Juden, so der gebürtige Israeli Elhaik, hätten ihre genetischen Wurzeln im Kaukasus und nicht im Nahen Osten. 

Als Widerspruch dazu stehen die Resultate einer Studie vom renommierten Humangenetiker Harry Ostrer. Der hatte vor einigen Jahren die DNA von 237 Aschkenasim, Sefardim und Mizrachim untersucht, die in New York, Seattle, Thessaloniki, Athen, Rom und Israel lebten. Dabei stellte sich heraus, dass Juden in genetischer Hinsicht ein «abgrenzbares Bevölkerungscluster» darstellen würden, so Ostrer. Zudem weise die genetische Spur auf gemeinsame Vorfahren vor 2000 Jahren im nahöstlichen Raum hin. Gemeinsamkeiten in der DNA gab es auch mit heutigen Palästinensern, Drusen und Beduinen in Israel. 

Die Kritiker Elhaiks weisen darauf hin, dass dessen Datenbasis viel zu dünn sei, um Ostrers Studie zu widerlegen.  Elhaik steht in einem Gelehrtenstreit in Israel und in der Welt auf der Seite der Revisionisten – des Linguisten Paul Wexler, des Archäologen Israel Finkelstein, zuletzt auch Historiker Shlomo Sand mit seinem umstrittenen Buch Die Erfindung des jüdischen Volkes (2008). Elhaik wiederholt unkritisch viele Postulate, besonders die Wexlers, was andererseits eine scharfe Kritik der Opponenten auslöste.

Es ist bekannt, dass genetisch gesehen unter den Juden fast alle Haplotypen verbreitet sind, die für den Nahen Osten und auch einige, die für Europäer charakteristisch sind :  nämlich J1c, J2a, E1b1b1, R1b1a2, G2c, T1, R1a1-z93, Q1b. Dies sind Haplotypen, die sich Juden bereits aus dem Nahen Osten, aber auch durch die Wanderungen nach einer Reihe von «Bottlenecks» erworben haben. Außerdem kann man davon ausgehen, dass die Mitglieder der Zehn «verschollenen» Stämme aus dem Nordreich Israels a priori unterschiedliche genetische Merkmale hatten. Dabei wurden einige der Allelen I2a2, R1a1-Z280, wie J2a als Ausprägungsformen der Gene von Juden in den Regionen Süd- und Mitteleuropas erworben. Es ist darum wichtig zu betonen, dass die Juden deutlich unterschiedliche Haplotypen wie Allelen besitzen bzw. die Zweige der Haplotypen. Dennoch haben sie ihre eigenen spezifischen Merkmale und die gleichen Haplotypen wie die Völker des Nahen Ostens und Mittelmeerraums. Diese können gut identifiziert werden, um einen phylogenetischen Baum zu rekonstruieren. Das besagt, dass seit dem Mittelalter die jüdische aschkenasische Diaspora in der Mitte Europas im genetischen Sinn stabil genug blieb.

Seit den Eroberungen des Nordreiches Israel durch den assyrischen König Sargon in 722-710 v.d.Zt., der damals diesen Staat eroberte und seine Bevölkerung nach Medien deportierte, hörte Israel auf der politischen Karte der Welt als Staat bis 1948 zu existieren. Dafür blieb das national-religiöse Konzept von Israel und der Traum von der Einheit aller Stämme in dem historischen Gedächtnis der Juden der Welt lebendig. Das Alte Israel verschwand, aber auf dem anatolischen Plateau erschien das jüdisch-skythische Königreich Aschkenas, die kleineren semitischen und synkrätischen Reiche des Mittleren Ostens (Adiabene), Arabiens (Himyar), Nordafrikas (Karthago), wo ein jüdisch-phönizischer Zusammenschluss blühte, die Khasarischen und die Awarischen Kaganate in der Großen Steppe und in Mittel- und Zentraleuropa. Das Studium der Sprache beinhaltet heute auch zwangsläufig eine Reihe von verwandten Grenzgebieten der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Daher  kann sich ein Linguist, der «nicht ohne Phantasie ist» (Edward Sapir), nicht in seinem traditionellen Bereich absondern.

Übrigens, auf Nachfrage der Tageszeitung Haaretz modifizierte Elhaik seine Chasaren-These denn auch gleich wieder. «Das Genom der europäischen Juden ist ein Flickenteppich aus antiken Volksgruppen wie judaisierten Chasaren, griechisch-römischen Juden, mesopotamischen Juden und Bewohnern Judäas», so der Forscher.

Sehr kritisch waren die Kommentare führender israelischer Wissenschaftler. In einem Interview mit JTA nannte der weltbekannte Demograph des jüdischen Volkes von der Hebrew University of Jerusalem, Sergio Della Pergola die Studie, «eines der größten Gerüchte des XXI. Jahrhunderts». Der Demograph bezieht sich auf eine extrem kleine Zahl der untersuchten Population und die fehlenden Daten der genetischen Analysen von Sephardim, die die Ergebnisse der Untersuchung beeinträchtigten. Der Professor für die Geschichte des sowjetischen und osteuropäischen Judentums an der Hebräischen Universität Shaul Stampfer schrieb in einer E-Mail an die Agentur JTA über die  Studie von Elhayk :  «Das ist in der Tat Unsinn».

Della Pergola sagte auch, dass «eine ernsthafte Studie für die offensichtliche genetische Ähnlichkeit zwischen Sephardim und Aschkenasim heute zu behaupten erlaubt, dass die polnischen Juden den irakischen Juden genetisch mehr ähnlich sind als nichtjüdische Polen.» Er betonte noch einmal energisch eine «große genetische Ähnlichkeit» zwischen aschkenasischen Juden und den Juden Roms, die aus dem Lande Israel und später aus den Mittelmeerländern gekommen waren. «Die Erklärung Elhayk über den Ursprung der europäischen Juden kann in keiner Weise auf die Juden von Rom übertragen werden. Daher ist seine Erklärung nicht wahr» – sagte Della Pergola. Er ging aber weiter und nannte die Studie Elhayk eine Fälschung. Weiterhin fügte er hinzu, dass ein Team von Wissenschaftlern eine Schlussfolgerung nur auf der Grundlage der Daten gezogen hätte, die ihre Theorie unterstützten. Die neueste Studie Elhayk fällt diesmal tatsächlich völlig aus der Reihe der anerkannten Hypothesen.

Fazit.

Nach der Argumentation Joseph Greenbergs ist die relevante Frage nicht die, ob die Indoeuropäische Sprachfamilie mit der Afroasiatischen verwandt ist, sondern wie es zu dieser Vewandschaft kam. Bilden die beiden den gültigen Knoten in einem Sprachenstammbaum, oder waren sie nur entfernt verwandt – mit vielen anderen Sprachen dazwischen? Seit der 1980er Jahren akzeptieren Anhänger der Nostratischen Hypothese eine Beziehung zwischen indoeuropäischen und afroasiatischen Sprachfamilien. Einige Forscher haben damit begonnen aus der Sicht, dass die indoeuropäische und afroasiatische Sprachfamilien eine besonders enge Beziehung teilen, sich kritisch von diesem Postulat weg zu bewegen, um zu prüfen ob es eine Verwandschaft auf einer höheren und älteren Ebene gibt.

Die Indo-semitische Hypothese hat damit einen Paradigmenwechsel erfahren :  von Publikationen Adelungs und besonders Lepsius 1836 durch die Mitte des XX. Jh. als die Frage gestellt wurde, ob indogermanische und semitische Sprachfamilien verwandt sind. Der Versuch, diese Frage durch einen direkten Vergleich zu beantworten, scheint naiv zu sein. Die entsprechenden Einheiten des Vergleiches  von den Eurasiatischen und Afroasiatischen Sprachfamilien sprechen für die Rolle der unmittelbaren Vorläufer der indoeuropäischen (kontrovers) und semitischen (unumstritten) Gruppierungen. Dieses überarbeitete Schema hat noch einen langen Weg bis zur Vollendung, sollte es um allgemeine Akzeptanz der Weltsprachgemeinschaft gehen.

Die Indosemitische Theorie und die neomarristischen Forschungen wirken ungeheuer politisierend und sorgen in der Wissenschaft und in gesellschaftlichen Ausstrahlungen für zahlreiche neue Diskussionen.

 

Foto: Titus-Bogen in Rom


Autor: Dr. Boris Altschüle
Bild Quelle: Screenshot Wikimedia


Montag, 09 Dezember 2019

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