Von Verhandlungen, Chinas Irritationen und dem Zerfall der Macht

Von Verhandlungen, Chinas Irritationen und dem Zerfall der Macht


Welchen Sinn hätte es gemacht, wenn im April 1943 der Chef eines neutralen Staates den Versuch unternommen hätte, mit Adolf Hitler darüber zu sprechen, seinen Krieg gegen den Rest der Welt einzustellen?

Von Verhandlungen, Chinas Irritationen und dem Zerfall der Macht

Von Tomas Spahn

Wobei es damals kaum noch neutrale Staaten gab, denn entweder, die heute souveränen Staaten waren Kolonien oder sie waren von einer Kriegspartei mehr oder weniger besetzt oder davon abhängig. Denken wir uns die Fragte dennoch weiter.

Im April 1943 war der Deutschen Heeresleitung klar, dass der Krieg gegen die Sowjetunion gescheitert war. Mit dem Untergang der 6. Armee und ihrer Verbündeten in Stalingrad, wo am Ende von deutlich über einer Million Angreifern nach Jahren der Gefangenschaft nur 6.000 den Weg in die Heimat finden sollten, musste jedem mit klarem Verstand bewusst sein: Das Kriegsziel, welches beim Überfall auf die Sowjetunion ausgegeben worden war, war nicht mehr erreichbar. Also hätte es die Vernunft geboten, den fiktiven Vertreter der Neutralen mit offenen Armen zu empfangen und gemeinsam mit diesem irgendeinen Weg zu finden, die hoffnungslos verfahrene Situation irgendwie halbwegs gesichtswahrend zum Guten zu kehren.

Doch nicht erst heute – schon damals hätte jedem bewusst sein müssen, dass der größte Feldherr aller Zeiten einer solchen Vernunft nicht zugänglich war. Ob bei klarem Verstand oder nicht – Adolf Hitler hatte sich zu sehr in sein selbst erdachtes Weltbild hineingesteigert, um von dem einmal eingeschlagenen Weg abzulassen. Selbst wenn ihm alle Führer der Welt Straffreiheit und eine luxussichernde Pension bis zum natürlichen Lebensende geboten hätten, um den von ihm herbeigeführten Horror zu beenden – wenn er überhaupt den Neutralen empfangen hätte, dann nur, um sich von den Gegnern deren Kapitulation überreichen zu lassen. Nichts anderes kam infrage – nichts anderes hätte er gelten lassen.

Es gibt keine Friedensgespräche in der Ukraine

Ähnlich verhält es sich mittlerweile mit Wladimir Putin. Die von manchen Medien realitätsfremd als „Friedensgespräche“ betitelten Kontakte zwischen einer drittrangigen Garde aus Moskau und Vertretern der ukrainischen Regierung dienen aus Putins Sicht lediglich der Erwartung, dass die von ihm als Faschisten diffamierte Führung des widerrechtlich überfallenen Landes endlich die weiße Fahne der Unterwerfung hießen möge. Waffenstillstand, gar Friede? Undenkbar! Das wissen die Unterhändler des mittlerweile in selbstgewählter Isolation lebenden KGB-Offiziers in Moskau – das wissen die Unterhändler des zum Volkshelden avancierten Präsidenten der Ukraine. Trotzdem trifft man sich, wohl wissend, dass es hier nur um Ablenkung geht.

Einen „Verhandlungsfrieden“, den es allein schon deshalb nicht geben kann, weil er völkerrechtswidrig durch ein kriminelles Regime herbeigebombt worden wäre und Putin bereits 2014 bestehende Verträge rücksichtslos abgeräumt hatte, gäbe es bestenfalls dann, wenn Russlands Armee die Soldaten ausgehen. Weil sie entweder die Truppe verlassen, wenn es ihnen ihr Gewissen verbietet, Frauen und Kinder des „Brudervolkes“ zu ermorden – oder wenn schlicht der Nachschub fehlt, weil zu viele gepresste Wehrpflichtige am Widerstand der Ukrainer zugrunde gehen.

Dennoch geschieht das, was in den Medien „verhandeln“ genannt wird. Weil manch einer der irrigen und spätestens jetzt widerlegten These aufgesessen ist, dass der, wer spreche, nicht schieße. Dabei sollte jeder verstanden haben: Das Credo der weichgespülten Diplomatie, wonach jeder Konflikt durch Gespräche friedlich zu lösen sei, wurde von Putin ebenso beerdigt wie die herbeigeträumte Vision eines ewig währenden Friedens zumindest in Europa.

All das aber ficht die Verantwortlichen nicht an. Sie pilgern, gleich ob telefonisch oder in realer Person, nach Moskau, um den Kriegsverbrecher im Kreml zur Aufgabe seiner Wahnvorstellungen eines hegemonialen Russlands zu bewegen. Sie laden, wie der türkische Autokrat Erdogan, führende Vertreter der sogenannten Konfliktparteien auf vorgeblich neutralem Boden zum Gespräch, an dessen Ende der Aggressor lediglich jene Lügen wiederholt, mit denen er seinen Überfall meint rechtfertigen zu müssen – und die er offensichtlich selbst glaubt. Selbst Russlands Außenminister, sonst als Realist geschätzt, wirkt mittlerweile der Wirklichkeit entrückt.

Wolodymyr Selenskyj wiederum bringt im Gegenzug Jerusalem als Ort eines Treffens zwischen ihm und Wladimir Putin ins Gespräch – ebenfalls wohl wissend, dass dieses Gespräch nie zustande kommen wird, weil damit der Mann aus Leningrad den von ihm als „drogensüchtigen Nazi“ verunglimpften ukrainischen Juden als ebenbürtiges Staatsoberhaupt anerkennte und zudem die noch sicheren Mauern des Kreml verlassen müsste.

Die Rolle des Xi Jinping

Die Diplomatie – oder besser das, was als solche bezeichnet wird – spielt Pingpong. Wer schlägt auf, wer zurück, wer landet einen Treffer. Eine zunehmend unglückliche Rolle spielt dabei die Führung in Peking. Xi Jinping, der durchaus mehr Sympathien für den Mann in Moskau als für den Präsidenten in Washington hegt, sitzt zwischen den Mühlsteinen. Angeblich soll er von Putin im Vorfeld über den Überfall informiert gewesen sein und darum gebeten haben, damit bis zum Ende der Olympischen Winterspiele zu warten. Träfe dieses zu, dann wäre der rote Mandarin klammheimlicher Verbündeter des Russen, denn es hätte in seiner Hand gelegen, den Überfall durch rechtzeitige Veröffentlichung zumindest zu erschweren.

Für eine solche Situation spricht das Verhalten der Rotchinesen im UN-Sicherheitsrat. Die Volksrepublik weigerte sich, den russischen Überfall zu verurteilen, versuchte stattdessen, sich in eine fragwürdige Neutralität zu retten. Jetzt, drei Wochen nach Beginn der Invasion, versucht sich Peking herauszureden. In der „Washington Pot“ veröffentlichte Qin Gang, VRC-Botschafter in Washington, einen Artikel, in dem „Behauptungen, dass China davon wusste, diesen Krieg duldete oder stillschweigend unterstützte“ aufgestellt werden, nichts als Desinformationen seien. Er begründet dieses mit der Feststellung, dass zum Zeitpunkt des Überfalls mehr als 6.000 Chinesen in der Ukraine gewesen seien und die VRC zudem der größte Handelspartner jeweils beider Länder sei. „Wenn China von dieser unmittelbar bevorstehenden Krise gewusst hätte, hätten wir unser Bestes versucht, sie zu verhindern“, schließt Qin.

Das klingt im ersten Moment plausibel – lässt aber die Frage unbeantwortet, ob Xi gleich China ist. Denn selbstverständlich wird der chinesische KP-Chef eine solche Information, sollte er sie von Putin erhalten haben und stillschweigend mit dem Ziel übereinstimmen, nicht an die große Glocke hängen – ja nicht einmal sein näheres Umfeld darüber informieren. Ein Leak wäre eine Katastrophe und hätte für Xi einen unheilbaren Gesichtsverlust zu Folge haben müssen. Schlimmeres kann einem Chinesen kaum geschehen.

Weshalb Xi an Putins Seite stand

Zudem steht außerfrage, dass Xi klammheimlich mit den Ambitionen Putins übereinstimmte. Da ist zum einen die gemeinsame Abneigung gegen die USA und deren Vormachtstellung nebst westlicher Demokratie. Mehr noch aber sind es Pekings territoriale Ambitionen, die Putins Ukraine-Logik im Kopf des KPCh-Chefs nachvollziehbar machen.

Die Republik China auf der vorgelagerten Insel Taiwan ist dabei nur ein Objekt der imperialen Begierde, nach dem Xi die Finger ausstreckt. Die Einvernahme Tibets, der Konflikt mit den Uiguren, der Vertragsbruch gegen Hongkong – all das basiert auf demselben tribalistischen Anspruch einer vorgeblich natürlichen Überlegenheit der eigenen Ethnie, gepaart mit einem kollektivistisch organisierten Führungsbild. So, wie Ukrainer für Putin Russen sein müssen, sind für Xi Tibeter Chinesen. Wobei nicht nur Putin über seine aktuellen Landesgrenzen hinausdenkt.

Putin formuliert einen imperialistischen Beherrschungsanspruch. Dieser umfasst das US-amerikanische Alaska, weil dort einst russische Forscher die zaristische Fahne aufgestellt hatten, bevor Zar Alexander es für ein gefühltes Ei mit Butterbrot an Washington verkaufte. Er umfasst halb Europa, weil der Schlächter Stalin einst die Hälfte des vordem nicht-russischen Kontinents seinem Sowjetimperium einverleibt hatte. Er umfasst Zentralasien und den Kaukasus, weil im 18. und 19. Jahrhundert russische Eroberer die dortigen Völker unterwarfen und imperiale Konkurrenten vertrieben.

Ähnlich Xi. Taiwan, welches so gut wie nie Teil eines chinesischen Kontinentalreichs gewesen ist, gilt als Kernland. Doch die pan-chinesischen Ansprüche reichen weiter. Die Mongolei, aus der zu früheren Zeiten Fremdherrscher über die Chinesen kamen, gilt aus dieser Tatsache heraus ebenfalls als chinesisches Anspruchsgebiet. Ebenso die ostsibirischen Lande, die Russlands Zaren im 19. Jahrhundert den schwächelnden Chinesen abgepresst hatten. Aber selbst die postsowjetischen Länder Zentralasiens sind im Weltbild des „Reichs der Mitte“ chinesisch – weil ihre Mehrheitsbevölkerungen dem sino-tibetischen Menschenschlag angehören.

Mit einem schnellen Sieg hätte Xi keine Probleme gehabt

Der Chinese wird insofern keinerlei Einwände gegen den russischen Überfall gehabt haben – unabhängig davon, ob er davon im Vorfeld informiert war oder davon überrascht wurde. Dabei spielen nicht nur mehr oder weniger klammheimliche Sympathien mit Putin und Antipathien gegenüber den USA eine Rolle. Verschleißt sich Moskau im Westen des Großreichs, schwächt es sich im Osten. Chinesen gelten als Menschen, die in Generationen denken. Und sie beobachten die demografische Entwicklung ihrer Nachbarn sehr genau.

Der russische Osten, der in den Augen Pekings chinesischer Lebensraum ist, leidet seit Jahren an personeller Auszehrung. Ethnische Russen zieht es in die Ballungszentren jenseits des Ural – Chinesen sickern über die Grenze nach und wirken so daran, dass Russisch-Sibirien immer chinesischer wird. Orientiert sich Moskau nach Westen; vertreibt Putin die Ukrainer Richtung Atlantik, um russische Neusiedler aus den überfüllten Zentren in den zerstörten Gebieten Landnahme betreiben zu lassen, kann dieses angesichts der schwindenden Gesamtbevölkerung Russland nur in Pekings Interesse sein.

Sollte – was trotz Dementi wahrscheinlich ist – Putin Xi informiert haben, wird der Mann aus Moskau zudem die Märchen vermittelt haben, an die er selbst glaubt. Dass in der Ukraine die Russen verfolgt würden – was Xi ziemlich egal sein dürfte. Dass die NATO ständig weiter nach Osten vorrückt – was Xi schon so egal nicht mehr gewesen sein wird. Vor allem aber: Dass die russische Armee das von üblen Faschisten gequälte Land innerhalb weniger Stunden „befreien“ und Russland dann den unmittelbaren Zugriff vor allem auf die Kornkammer Europas haben wird. Das ist ein Aspekt, der für Xi durchaus von Bedeutung ist – ein befreundeter russischer Despot, der in der Freundes-Meistbegünstigungsklausel Nahrung an das Milliardenvolk am Gelben Fluss liefert, welche sonst über den US-gesteuerten Weltmarkt zu den Bedingungen des Kapitalismus teuer einzukaufen wäre.

Xi wird Putins Selbstdarstellung geglaubt und insofern für sein Land keine ernsthaften Konsequenzen befürchtet haben. Ein schneller Schlag gegen die Ukraine – die VRC ist außen vor, gibt sich neutral und erkennt das Ergebnis an. Doch es sollte anders kommen – und Peking in Erklärungsnot geraten.

Peking in Erklärungsnot

Putins Gesichtsverlust gegenüber den „Freunden“ im Osten ist jetzt bereits total. Die angeblich so glorreiche russische Armee erweist sich außerstande, einen lang geplanten Blitzkrieg gegen ein militärisch unterentwickeltes Nachbarland zu realisieren. Wer bislang noch Angst gehabt haben sollte vor den konventionellen Fähigkeiten der russischen Armee – nun sitzt er da und schüttelt erstaunt den Kopf. Die chinesischen Generäle, die sich Fähigkeiten und Schwächen des künftigen Gegners bereits in gemeinsamen Manövern angeschaut haben, wissen jetzt: Putins Armee muss sie nicht schrecken. Der kostenintensive Verschleißkrieg, der die nur in der Staatspropaganda gut gefüllten Devisen- und Goldsäckel Moskaus über Gebühr belastet, wird ein weiteres tun, die militärischen Fähigkeiten Russlands nicht über Gebühr erstarken zu lassen. Damit also kann Xi gut leben und Putin gleichzeitig freundschaftlich ins Gesicht lächeln.

Zunehmend schwerer allerdings wird es für die rote Elite in Peking, mit der Reaktion des Westens zurecht zu kommen. Ein kleiner Krieg im fernen Westen, der Russland und die USA beschäftigt, ist durchaus im Sinne Xis. Doch die Wirtschaftssanktionen gegen Russland schlagen auch auf Peking durch. Die Weltwirtschaft leidet – und die westlichen Ökonomien begreifen nach Jahrzehnten des Selbstbetrugs, dass die gefeierte Globalisierung Abhängigkeiten schafft, die im Ernstfall zu Handlungs- und Funktionsunfähigkeit führen müssen.

Putin hat ungewollt das Ende der chinesischen Wirtschaftsexpansion eingeläutet. Die Werkbank der Welt wird in wesentlichen Bereichen Konkurrenz dort bekommen, wo bislang ihre finanzkräftigsten Käufer saßen. Der Pilgerzug der Kapitalisten ins kommunistische China, der von Anbeginn an ein Zug der Lemminge in die Selbstvernichtung gewesen ist, kehrt um. Das trifft die VRC langfristig härter als der vorübergehende Einbruch der Welthandelsströme angesichts der Corona-Panik.

Deshalb nun die immer noch vorsichtigen Absetzbewegungen Pekings von Putin. Was der chinesische Botschafter in Washington geschrieben hat, wird in ihrer Ursache eine fromme Lüge sein – doch sie offenbart die Wahrheit einer zunehmenden Angst vor Folgen, die Peking bei seiner klammheimlichen Unterstützung Putins nicht eingepreist hatte. Das bedeutet nicht, dass China nun offen die Fahne wechselt. Zu groß sind die Abhängigkeiten Pekings von Russlands Rohstoffen. Doch Xi wird Russland neu denken – und Putin wird dabei nur noch eine Randnotiz sein.

Auch Xi wird Putin nicht zur Vernunft bringen

Darauf zu setzen, dass China nun jedoch derjenige sein könnte, der Putin zur Vernunft und zum Einlenken bringt, dürfte dennoch unbegründeter Optimismus sein. Vieles deutet darauf hin, dass sich der KGB-Mann in seiner eigenen, großrussischen Welt hoffnungslos verfangen und sich in der Unzugänglichkeit seines Elfenbeinturms eingemauert hat. Die byzantinische Geschichte, in deren Tradition sich Russland seit dem Fall Konstantinopels sieht, hat wiederholt den Beweis erbracht, dass solche Elfenbeintürme auch dann noch Schaden anrichten können, wenn sie längst von jenen umstellt sind, die an des Herrschers Stuhl sägen. Ob und wann es so weit sein wird, dass jemand im Kreml die Reißleine zieht, ist nicht absehbar. Die Tatsache allerdings, dass eine gut durchgestylte Mitarbeiterin des Staatsfernsehens ungehindert fünf Sekunden lang eine Anti-Putin-Parole in die Wohnzimmer der indoktrinieren Russen tragen kann, während sich die angeblich überraschte Moderatorin sich nicht einmal umdreht zu dem, was hinter ihr geschieht; dass diese frühere Ehefrau eines Direktors des russischen Staatsfernsehens RT dann, nur mit einer symbolischen Strafe belegt, nach 14 Stunden immer noch topp-gestylt den Repressionsapparat des Systems verlassen kann – all das sind Signale, die darauf hindeuten, dass der Widerstand hinter den Kulissen längst viel weiter verbreitet ist, als manche glauben mögen.

Selenskyj hat Recht, wenn er auf Zeit setzt statt auf Verhandlungen. Putin mag in der Ukraine und zunehmend auch in Russland selbst noch manche Verheerung verantworten – doch er hat mittlerweile deutlich mehr verloren als nur einen Krieg.

©2022 spahn


Autor: Redaktion
Bild Quelle: Kremlin.ru, CC BY 4.0 , via Wikimedia Commons


Mittwoch, 16 März 2022

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