Die Siedlerin - eine jüdische Stimme aus Judäa berichtet: Realität und Reaktionen

Die Siedlerin - eine jüdische Stimme aus Judäa berichtet:

Realität und Reaktionen


Eine junge Bewohnerin des israelischen Landesteils Judäa berichtet von Erlebtem und aus ihrem Leben - ein anderer Blick auf die Ereignisse, als von den Mainstream-Medien erviert wird.

Realität und Reaktionen

Es ist schon gruselig, muss ich zugeben.

Vier Jahre bin ich in Israel, und erst ein Jahr lang erlebe ich die Realität der “besetzen Gebiete” hautnah, und habe einen solch radikalen Wandel meines Lebensalltags mitmachen müssen – einen solchen hätte ich mir nicht erträumen lassen. Für die meisten Israelis ist “Intifada” kein neuer Begriff, und auch Terrorattacken sind Teil ihrer Geschichte. Das Land und seine Leute haben in den letzten 67 Jahren außergewöhnlich viele Extremsituationen und reale Gefahren durchgehen müssen. Ich allerdings komme aus einer Welt mit einem relativ “heilen” Selbstverständnis, aus einem Deutschland und Europa, welches die Bedrohung islamistischen Terrors noch nicht gekannt hatte. Zum Beispiel hätte ich mir niemals ausmalen können, in einem Land zu leben, in welchem die Polizei oder der Notfalldienst per Internet die Einwohner über Abwehrmethoden von Messerattacken informiert. Über Raketenangriffe. Brandbombenattentate. In einem Land, in dem ein  Bürgermeister die Mitbürger auffordert, Waffen bei sich zu tragen. Wo Menschen Steinblöcke auf vorbeifahrende Autos werfen. Und wo eine Wellblechhütte auf einem Hügel einen internationalen Skandal hervorruft.

Und nun, da ich hier lebe, bleibt mir nichts anderes übrig, als das oben Aufgezählte und noch weitere “irre” Elemente des Alltags in meinem Leben zu akzeptieren, ohne sich zu wundern, übermäßig zu beschweren oder Alarm zu schlagen. Ich dachte, Raketenbeschuss auf Städte sei etwas Unfassbares? Es gibt Tunnel. Tunnel seien inakzeptabel? Es kann auch Krieg geben. Krieg ist ein Notstand? Und was sagt man zu Messerstechereien auf der Straße? Entsetzlich? Es gibt auch Schüsse aus vorbeifahrenden Autos. Sprachlos? Man kann jemanden auch an der Halterstelle über den Haufen fahren und dazu Videoanleitungen zum besseren Gelingen im Internet verbreiten.

Und dennoch wohne ich hier, und würde keinen Gedanken an eine Flucht verschwenden. Stattdessen beobachte ich die Art und Weise, wie meine Mitbürger und meine Umgebung mit der vorliegenden Situation umgehen.

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Mädchen mit Torarolle bei der Demo in Jerusalem. Foto: Efrat KislevMädchen mit Torarolle bei der Demo in Jerusalem. Foto: Efrat Kislev

Trotz oder gerade wegen der großen Enttäuschung, welche die nationalreligiös geprägte Gesellschaft gegenüber der von ihr gewählten Regierung fühlt, gibt es politischen Aktivismus. Nicht nur seitens der offiziellen Vertreter der jeweiligen Interessen, sondern bei den regulären Bürgern. So erschienen zu einer in der israelischen Presse als “rechte” Demonstration katalogisierten Veranstaltung am 05.10.15 vor der Residenz des Premierministers in Jerusalem (Paris Square) mehrere Tausend Israelis, um gegen die Terrorwelle und die Bedrohungen zu protestieren. Die Demo fiel auf den Abschluss des “Tora-Freudenfestes”. Aus allen Ecken der “Siedlerwelt”, von Tal Menashe im Norden Samarias bis Yatir an der “Grünen Linie” im Süden, organisierte man Busse mit Teilnehmerwilligen. Es kamen meist junge Teilnehmer, Familien, Kinder aus Jugendbewegungen, Schulabgänger, und auch ältere Menschen. Sie hörten Rednern aus der politischen Sphäre zu (darunter auch zwei Ministern aus der Regierungspartei des Likud), hörten den Aufruf zur Tatkraft von Terroropfer Adva Bitton, protestierten, tanzten, sangen. Deutsche zentrale Medien berichteten über die Demo nicht.

Protest auf der Autobahn 398 Richtung Teko'a. Foto: Ulrich J.BeckerProtest auf der Autobahn 398 Richtung Teko’a. Foto: Ulrich J.Becker

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Spontane Zusammenkünfte, wie der Protest gegen Steinwürfe auf die Autobahn bei Teko’a am 07.10.15, nachdem eine jüdische Fahrerin von Arabern am selben Tag beinahe gelyncht worden ist (siehe Facebook-Meldung), fanden und finden weiterhin statt. Vor allem kursieren Flyer, Aufrufe zu Protestevents, Bitten um Gebete für die Verletzten der täglichen Attentate über Whatsapp. Whatsapp muss das beliebteste Kommunikationsmedium in Israel sein. Interessant wäre zu wissen, wie stark seine Popularität infolge der momentanen Situation zugenommen hat – und wie viele Chats von den Shin Bet-Agenten tatsächlich abgefangen werden, um “unliebsame” Zusammenkünfte zu vereiteln  und Aktivisten auszuspionieren.

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Schon seit Wochen sitzt Yossi Dagan im Zelt vor der Residenz des Premierministers Netanyahu im Zentrum Jerusalems und protestiert durch seine Anwesenheit gegen den wachsenden Terror und die seines  Erachtens mangelhafte Reaktion darauf innerhalb der Region, welche er verwaltet. Yossi ist der stellvertretendeVorsitzende des Judäa- und Samaria-Rates (YESHA), und er ist bekannt als einer, dem die Angelegenheiten seiner Mitbürger am Herzen liegen. Zusammen mit Yossi haben sich dorthin auch mehrere andere Bezirksvorsitzende begeben, so unser Vorsitzender Davidi Perl aus Gush Etzion, der sein Büro “vorübergehend” vor das

Yossi Dagan auf der Demo am 05.10.15Yossi Dagan auf der Demo am 05.10.15

Haus des Premierministers verlegt hat. Seine Kollegen und er haben eine lange Liste von Forderungen an den Premierminister. Hin und wieder berichten sie von Treffen mit diesem, er scheint bereit sein, sie anzuhören, aber von Einigungen hört man nicht. Die Forderungen betreffen verschiedene Sicherheitsaspekte – vor allem die notwendigen finanziellen Mittel für Maßnahmen, die die Einwohnersicherheit in Judäa und Samaria stärken sollen. Andere wirken globaler – ein Verlangen nach hartem Durchgreifen gegenüber Terroristen und ihrer sozialen Umgebung. Und dann noch die lauteste Forderung von allen, die auch die letzte Demo angeführt hat – “Bauen gegen Terror”. “Die gebührende zionistische Antwort gegenüber den Morden ist das Bauen und Niederlassen im Land Israel” ist seit längerer Zeit ein Standart-Leitsatz der Siedlerbewegung. Die einen sagen, eine effektive Sicherung und Vergrößerung der jüdischen Präsenz vor Ort, gerade im Hinblick auf die Übergriffe vor Ort, würde an die Attentäter und ihre Anstifter ein Signal von Stärke senden – ohne sich dabei im Nahkampf oder durch militärische Maßnahmen die “Finger schmutzig zu machen”.  Andere aus derselben Bewegung sehen dies als politischen Missbrauch an, sehen die Notwendigkeit der Sicherheit nicht mit dem Bau von Häusern erfüllt, und weigern sich, den Aufrufen der Bezirksräte zu folgen.

Wo liegt die Autobahn 398?Wo liegt die Autobahn 398?

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So wie Natan (Name geändert) aus Teko´a. Ein Mann mit Kontakten, Draht zu den Einwohnern und dem Interesse daran, die Autobahn 398 zwischen Jerusalem und Teko’a für Juden sicher zu machen. Nachdem neulich erneut eine Fahrerin von einem Mob auf der Straße angegriffen worden ist, erstellte er eine Liste aus Freiwilligen mit Waffenschein, die von nun an zusätzlich zur Armee und Polizei auf der Straße patroullieren würden, um im richtigen Moment zur Stelle zu sein, sollte die Armee vor Ort nicht genügend Präsenz zeigen.

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Man macht auch Witze. Bildüberschrift: "Ich gehe grad' mal den Müll runterbringen", Quelle: FacebookMan macht auch Witze. Bildüberschrift: “Ich gehe grad’ mal den Müll runterbringen”, Quelle: Facebook

Derweilen versendet unsereRegionalverwaltung im Namen von Davidi Perl erneut warnende Emails, diesmal mit direkten Anweisungen, wie man sich im Falle eines Angriffs verhalten sollte. Aufgelistet werden Tipps nach Art des Angriffs.  Schwierig für mich, nachzuvollziehen oder zu akzeptieren, was solche Anweisungen tatsächlich bedeuten – dass wir uns in einer Kampfzone befinden, dass kriegsähnliche Zustände herrschen, und das im ganzen Land und nicht etwa an den Grenzen allein. Und das nennt sich heute Alltag. Das soll man vereinen mit einem Gang in den Supermarkt, einem Ausflug in die Natur, der Fahrt zur Arbeit oder zur Uni. Wie schwer muss es erst für einen Außenstehenden sein, nachzuvollziehen, was hier geschieht?…

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Sportverein "Israeli Combat Experience" in Gush EtzionSportverein “Israeli Combat Experience” in Gush Etzion

Ein Bekannter von mir bietet seit Neuestem Selbstverteidigungskurse zum ermäßigten Preis an. Das Angebot werde ich mir anschauen, Und auch das mit dem Waffenschein sollte man sich vielleicht überlegen. Denn in den letzten Tagen ist die israelische Presse voll von Berichten von Zivilisten, welche durch eine Waffe, die sie bei sich trugen, das Leben von Terroropfern retten konnten. Bevor die Sicherheitskräfte sich eingemischt hatten.

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Dem gegenüber stehen auch wütende Israelis aus den Siedlungen und auch aus anderen Städten, die ihre Wut über das Geschehen in Taten verwandeln; heute (09.10) bewarfen Siedler laut YNET die Autobahn nach Shchem (Nablus) in Samaria mit Steinblöcken. Dabei wurden arabische Fahrer verletzt und Autoscheiben zerschmettert. Ebenso wurde die Einfahrt nach Shchem blockiert. In Netanya wurden drei Araber von Einwohnern angegriffen und einer davon verprügelt; laut YNET soll einer von ihnen “Allahu Akbar” gerufen haben (der übliche Ruf vor Terrorangriffen), der Kontext ist allerdings unklar. In Dimona, einer Stadt, in welcher neben Juden auch Beduinen mit israelischem Pass leben, verletzte ein jüdischer Mann mit einem Messer vier Beduinen, zwei davon offenbar schwer. Die Familie des einen weigerte sich, die Tat ausführlich zu kommentieren, um die Atmosphäre “nicht aufzuheizen”(Zitat).


Was kann ich sagen? Das Fazit ist noch lange nicht gesprochen, für Bilanzen ist es noch zu früh. Welche Forderungen der “Siedlerbewegung” werden erfüllt werden, welche davon haben keinen Anteil an der Entscheidung der Regierungsweise zu ihrer Verhaltensweise gegenüber dem feindlichen Terror? Ich weiß es nicht, und kann leider keine Prognosen anstellen. Heutzutage kann ich nicht einmal sagen, dass das “Bau-Credo” der Siedlerbewegung für Judäa und Samaria einen Fortschritt für diese einbringt, wenn es keine offizielle Verstaatlichung von ganz Judäa und Samaria mit sich führt.  Eine Verstaatlichung – Annexion – Eingliederung dieser Regionen würde zumindest schon einmal die Hoffnung der Gegenseite ersticken, die Juden von diesem Fleck Land vertreiben und das Land unter sich aufteilen zu können. Eine Hoffnung, die jeder mit sich führt, der israelische Juden angreift und terrorisiert. Diese Hoffnung wird genährt von der Propaganda der eigenen arabischen Führungskräfte, welche sie seit 1921 und bis heute führen. Sie wird aber auch genährt von der israelischen Gesellschaft, welches nicht eindeutig bereit ist, zu sagen, was sie als ihr Land erachtet,und was nicht. Das Ergebnis dieses Mangels an Entschlossenheit, Unklarheit über die eigenen Ziele und Wünsche ist der fast 50-jährige Status Quo der Militärherrschaft in Judäa und Samaria – und alles, was daraus folgt – unter anderem jede der bisherigen Gewaltaufstände der Araber in Israel. Vieles hat sich die israelische Politik und Gesellschaft selbst zuzuschreiben – allerdings in anderer Weise, als es heute in der Medienwelt dargestellt wird.

Die Frage ist, gerade in solchen brenzligen Tagen – werden wir die Gelegenheit nutzen, und wenn ja – wie?

 

Die Siedlerin - eine jüdische Stimme aus Judäa

 

Lesen Sie hierzu auch:

 

Zu juristischen/völkerrechtlichen Aspekten:

 

„Israeli Apartheid?“-Woche bei haOlam.de:

 


Autor: joerg
Bild Quelle:


Montag, 12 Oktober 2015

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