Brüssel und die Folgen - Eine kurze Betrachtung

Brüssel und die Folgen - Eine kurze Betrachtung


Kurz vor seiner Rückführung in die Türkei, nachdem man ihn und etliche andere vor dem Ertrinken gerettet hatte, verschaffte sich der junge Mann noch einmal trotzig Gehör. “Wir werden“, so die knappe, kämpferische Botschaft, “immer wieder kommen.“

Brüssel und die Folgen - Eine kurze Betrachtung

von Shanto Tradic

 

Verzweifelt klang das nicht. Eher vorwurfsvoll. Und entschlossen. Immerhin. Ein Wort des Dankes ging dem Empörer natürlich nicht über die Lippen. Deutlich wurde vielmehr: Der will wirklich zu uns, um jeden Preis, aber mögen tut er deswegen noch lange keinen einzigen derer, die er so zur Aufnahme seiner Person ´zwangsverpflichtet´. Was er sagte, klang in meinen Ohren wie eine dieser Drohungen, die man sonst nur unter vorgehaltener Hand ausspricht, um dem Gegenüber damit Angst einzujagen. Eine Warnung also – und nicht die letzte. Trotzdem, Sie können es sich denken, präsentierte ihn der Beitrag als Opfer.

 

Seit Montag fürchten sich noch ein wenig mehr von uns vor Opfern wie ihm, denn er hat das passende Alter, und mag die Beteuerung, doch bloß ein ´ganz normales Leben´ führen zu wollen, auch immer wieder auf Anhieb einleuchten: Geklärt und ad acta gelegt ist damit noch gar nichts. ´Ein ganz normales Leben führen´ – wie viele scheitern daran, immer wieder, und was dann? Stopp – so weit sind wir ja noch gar nicht. Ich mache trotzdem mal genau an dieser Stelle weiter, später schreiben es die Experten dann wieder ab.

 

Die Beteuerung, ein ganz normales Leben führen zu wollen, kann nur allzu leicht gegen eine andere eingetauscht werden. Denn die Zeiten ändern sich, und wenn endlich schief geht, was eigentlich glatt laufen sollte, dann könnte sich auch das ganz normale Leben in den ganz normalen Wahnsinn verwandeln. Einer, der jetzt also die belgische Hauptstadt heimgesucht hat. Und schon fragen die Schlausten unter den schlaumeiernden Schlaufüchsen: Was ist da bloß wieder schief gelaufen? Solchen Leuten würde ich gern die passende Antwort persönlich einbläuen: Fragt doch mal das Opfer – traut euch doch, die richtigen Fragen zu stellen. Wann fangt ihr damit endlich an?

 

Feste Überzeugungen setzen einen festen Charakter voraus. Soll heißen: Immer wieder kommen zu wollen, egal, wie andere dazu stehen, deutet nicht auf Festigkeit, zeigt vielmehr schon eine fatale Sturheit an: Jene, die den anderen gar nicht erst zur Kenntnis nimmt und daher auch kein Problem mehr damit hat, ihn bei nächster Gelegenheit ganz von der Bildfläche zu fegen. Eine gewagte These? Leider nur die Wahrheit, die vielbeschworene.

Ich weiß nicht mehr, ob sie den zornigen Jüngling im Morgenmagazin oder bei Hansi Fischer in der Mittagsausgabe vor die Kamera gebeten haben, aber ab sofort verbietet sich natürlich rundheraus, aufgrund solcher Aussagen den fiesen, rechtsruckelnden Generalverdacht zu äußern, der dich selbst sofort unter selbigen stellt.

 

Warum eigentlich? Fast sämtliche derer, die in Madrid und London, in Paris oder Brüssel wahllos Zivilisten massakrierten, entstammen dem Zuwandermilieu. Sie bekennen sich zum Islam. Und sie hassen den Westen, der ihnen mehr Freiheiten einräumt als sie ertragen können. Sie lehnen unsere Gesetze ab, die aber jeder von Ihnen später bei den Verhandlungen ganz selbstverständlich für sich einfordert: um vor einer Willkür geschützt zu werden, die sie in blasphemischer Verblendung zuvor auf die Spitze trieben. Sie profitieren überhaupt ein Leben lang von den Errungenschaften eines Kulturkreises, den sie verachten, weil sie einfach nicht mit den begleitenden Widersprüchen zurande kommen. Weil sie schlicht alles daran überfordert, denn nichts ist so einfach und endgültig, wie sie es sich wünschen – wie es im Heiligen Buch steht. Für sie stellt sich unsere Kultur in der Tat als eine Art Kreis dar: ein Teufelskreis, aus dem sie ausbrechen, weil ein gewisser Schwindel dem eigenen Kreislauf schadet.

 

Wie dem auch sei: Die Mörder sind Muslime. Also gilt auch der Anfangsverdacht. Trotz aller Unschuldsvermutung. Basta. Das will freilich keiner von denen, die Schuld und Sühne immer bei den anderen verorten, hören. Das kommt nämlich schon einer Beleidigung gleich. Das trennt immerhin. Uns von denen. Und weil sich daran vermutlich nicht mehr viel ändern wird, werden wir wohl in diesem Leben nie mehr ganz zueinander finden können. Wir nicht. Die nicht. Nicht im Kleinen, nicht im Großen. Irgendwie divergiert zu hartnäckig, was doch angeblich miteinander versöhnt werden könne, viel Mühe und Ausdauer vorausgesetzt. Beides löst immer wieder in Luft auf. In Rauchschwaden.

 

Freilich: Wir gewöhnen uns auf recht eigene Weise daran, dass Integration scheitert. Die Rituale laufen per Autopilot. Knallt es, wie jetzt in Brüssel, fächeln wir den Pulverdampf mit viel Milde einfach fort. Mein Name ist Mensch. Also werden Schweigemärsche veranstaltet und öffentliche Plätze in Gedenkstätten verwandelt. Diese Teelichternden Müllhalden, auf denen schon nach Stunden ganze Haufen welker Blumen zu müffeln beginnen, erinnern weniger ans Osterfeuer, mehr an den üblen Schwefelgeruch mittelalterlicher Scheiterhaufen. Da ging schon einmal die Freiheit in Flammen auf. Im Schatten derselben finden wir heute, noch starr vor Schrecken, friedlich zueinander. Ohne Worte wechseln zu müssen. Und verlieren wir doch eins, dann darf es nur keinem weh tun. Dahinter kommt weniger eine Moral, mehr der Wunsch und Wille zum Vorschein, sich auch weiterhin gut fühlen zu können. Wir zweifeln, tiefinnerst, mit Recht daran, ob dies noch möglich sei. Das trotzig vorgetragene Ammenmärchen vom Miteinander ist eines, das den Schlaf der Gerechten einläutet, und es gründet doch nur auf dem Ego – dem beleidigten. Der täppische Trotz kaschiert die ständige Angst, und der Ruf nach Frieden und Freiheit verpufft, weil keiner bereit ist, das Nötige dafür zu tun.

 

Natürlich beteuern alle, dass solche Anschläge wie die von Brüssel schrecklich sind. Auch die Generalverdächtigen tun das ja. Wenn man nachhakt. Doch schon im Ansatz gehen, hört man nur genau genug hin, bereits hier die Meinungen dezent auseinander. Keiner will´s merken. Das gute Gefühl, längst in der Defensive, darf nicht leiden. Ein Angehöriger Abdeslams erklärte, er und seine Familie sähen ihn (den Massenmörder) lieber im Gefängnis statt im Sarg. Die meisten Europäer sehen es dieser Tage freilich noch viel lieber genau umgekehrt. Soll heißen: Sie sähen den richtwütigen Rechtgläubigen lieberohne Anschläge im Sarg – als nach ihnen im Knast. Sie trauen sich natürlich nicht, das so offen auszusprechen. Die Familie des Kolossalverbrechers hat aber gar kein Problem damit, lieber erst mal das eigene Fleisch und Blut retten wollen zu, Knast ist besser als Kiste, und von den Andern ist einmal mehr gar nicht die Rede. Und statt sich der ´schwarzen Schafe´ in ihrer lammfrommen Herde immerhin ein wenig zu schämen, muffen die weiß angepinselten lieber angriffslustig drauflos und verwahren sich gegen jede voreilige Beschuldigung, gegen jeden Verdacht – gegen jeden ungläubigen Zweifel an rechtgläubiger Erhabenheit. Mitleid mit den Opfern? Fehlanzeige. Sie würden das allerdings gleich wieder weit von sich weisen, würfe man es ihnen vor. Doch die genannte Aussage des Angehörigen ist und bleibt auf Anhieb ehrlich, authentisch – entlarvend.

 

Alles, was ich Ihnen bis hierhin im lockeren Plauderton erzähle, haben sie so oder ähnlich schon des Öfteren von mir gehört. Auch ich benutze, wie selbstverständlich, das ominöse WIR. Auch ich kann Ihnen keine Antwort darauf geben, wer im Zweifel mit dazu gehört. Und was die andern wirklich umtreibt. Vielleicht kennzeichnet genau das unser Dilemma. Frei nach Broder: Wir suchen immer ganz verzweifelt nach Antworten und verzweifeln tatsächlich, denn wir finden gar keine. Nichts, das UNS überzeugte. WIR wollen es einfach nicht wahr haben.

 

Gewiss: auch wir sind selbstgerecht. Dass überall dort, wo der Westen in schmutzige Kriege verwickelt ist, beinahe täglich Menschenleiber in Stücke gerissen werden, regt immer weniger auf. Ob es sich bei diesen Angriffen im einzelnen um sogenannte ´Kollateralschäden´ handelt oder ob da in voller Absicht zivile Ziel anvisiert wurden, ist eine Frage, der die Leute ängstlich ausweichen, denn sie kommen dahinter, dass es ihnen ab sofort selbst so (oder ähnlich) ergehen könnte.

 

Jede Tat hat ihre Hintergründe. Erklären kann man fast alles. Man darf auch vieles entschuldigen, aber irgendwie bringt der Hinweis auf Ursachen und Zusammenhänge keinen von uns mehr weiter. Daher die Ratlosigkeit all derer, denen die bewährten Rezepte ausgegangen sind, während die neuen mangels Erprobung noch verdächtig bleiben. Ob der Preis zu hoch ist? Ob sie zu bitter schmecken? Bestimmt. Wir lernen langsam dazu, obschon wir – angeblich besser informiert als alle Generationen vor uns – es längst besser wissen sollten oder könnten.

 

Es ist, um noch dieses Beispiel zu nennen, sattsam bekannt, dass palästinensischen Großfamilien im Anschluss an geglückte Selbstmordattentate gratuliert, nicht kondoliert wird. Wir empfinden das als geschmacklos, suhlen uns aber dennoch lieber in der Vorstellung, das hinter allem wieder die Verzweiflung steht, dass eben die unseligen Verhältnisse schuld dran sind, also: die Schuld. Und obschon wir schon in diesem Zusammenhang die begleitende Unschuld zu verlieren drohen, fällt uns immer noch schwer, das Gefühl der Schuld vom Wissen um Schuld zu trennen.

 

Verantwortung basiert nämlich auf Freiheit, die ich – nur ICH! – zu tragen habe. Daran wird sich nie etwas ändern. Wenn wir begreifen, dass Taten wie die von Brüssel jenseits der Ursachen und Hintergründe, die sie verstehbar machen, böse sind und bleiben, dann nähern wir uns endlich auch einem Verständnis von Schuld, das abzüglich der Versäumnisse, die wir uns oder andern zwecks Relativierung vorwerfen, der Wirklichkeit wieder etwas näher käme. Einer, der wir auf Schritt und Tritt ausweichen, bis sie uns endlich ganz eingeholt hat.

 

Das mag für spitzfindig halten, wer will. Dieser Tage gewinnen uralte Gewissheiten unerbittlich an Boden zurück. Begriffsgegensätze wie Gut und Böse, Falsch und Richtig platzen wie Gespenster in unsere konsumvergessene, total oberflächliche Scheinwelt und halten ihre Götzen in Atem.

 

Von Theodor Adorno stammt die Plattitüde, dass es kein richtiges Leben im falschen geben darf. Wie aber können wir, unter wechselnden Voraussetzungen, wirklich wissen, was richtig und was falsch bleibt? Seine Jünger meinten, dass er damit mehr den Sinn für das Richtige gemeint habe: den dürfe man sich immerhin nicht nehmen lassen. Das setzt dann aber doch eine gewisse Kenntnis ihres Widerspruchs voraus. Freiheit, was willst du mehr. Man darf das vielleicht als eine spät nachgereichte, in Resten frohe Botschaft der Aufklärung bezeichnen. Die ´frohe Botschaft´ des Islam wird im folgendem Hadith formuliert: “Der Islam begann fremd und wird wieder fremd, wie er begann.“

 

Dass sich das verliert, was aus dem Verlorenen schöpft, mag uns, die wir so gründlich säkularisiert der Welt und ihren Erscheinungen begegnen, irritieren; aber vielleicht verbirgt sich auch dahinter noch eine Hoffnung, ein Versprechen – für uns. Es wäre dann auch eines, dem wir, ob wir wollen oder nicht, ein wenig (oder mehr) nachhelfen müssen – so frei sollten, müssten wir schon sein.

 

Ich gedenke der Opfer und ihren Angehörigen.

 

RIP.

 

 

Erstveröffentlicht von Dr. Nathan Warszawski bei Numeri 24 : 9


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Freitag, 25 März 2016