Eine rein ethische Frage? Tyrannenmord

Eine rein ethische Frage?

Tyrannenmord


Die menschliche Geschichte kennt kein Ziel. Wir Menschen wissen nicht, was uns in Zukunft erwartet. Erst im Nachhinein können wir die Zukunft betrachten, wenn diese bereits Vergangenheit ist. Die Bewertung geschichtlicher Ereignisse ändert sich im Laufe der Zeit in Abhängigkeit der gerade (vor)herrschenden Ideologie.

Tyrannenmord

von Dr. Nathan Warszawski

 

Der durchschnittliche homo vulgaris geht davon aus, dass die Gegenwart, die er bewusst erlebt, die einzig gültige Basis für die Zukunft ist. So werden nach dem Zweiten Weltkrieg immer mehr diktatorisch regierte Staaten Europas demokratisch, zuletzt sogar – als die Sowjetunion zusammenbricht – einige sowjetische Republiken. Doch ist es gewagt zu schließen, dass eines Tages alle Staaten dieses Planeten Demokratien sein werden. Wir kennen nicht die Wahrscheinlichkeit, wie heutige Demokratien sich zu Diktaturen „rückentwickeln“.

 

Demokratie und Diktatur widersprechen sich in der Theorie, nicht in der Praxis. Es gibt unendlich viele Übergangsformen und Formen der Demokratie und der Diktatur, die sich außerdem im Laufe der Zeit verändern. So kann die Franco-Diktatur Spaniens nicht mit der Nordkoreas verglichen werden. Selbst Mussolini und Putin erscheinen neben den nordkoreanischen Kims wie lupenreine Demokraten.

 

Das Wesen der Demokratie besteht aus Schlagworten. Freiheit und Gleichheit stammen aus Frankreich. Die Brüderlichkeit – heute: Sozialsysteme – gehört nicht unbedingt zur Demokratie. Deutschland steuert das Recht bei, was mit der französischen Gleichheit liiert ist. Gemeint ist, dass es in der Demokratie ein (geschriebenes) Recht gibt, welches für alle Bürger gilt, auch für die Herrschenden. Somit schließt die Existenz eines Diktators die Demokratie aus, weil für ihn praktisch und theoretisch ein besseres Recht gilt als für den Normalbürger. In der Praxis werden die demokratischen Herrschenden vom Recht bevorzugt, keinesfalls in der Theorie.

 

Das deutsche Schlagwort „Einigkeit“ gehört nicht zur Demokratie. Die „Einigkeit“ Deutschlands ist geschichtlich bedingt, weil das Land meist zersplittert und bis vor kurzem geteilt gewesen ist. Wahlen gehören ebenfalls nicht zur Demokratie. Großbritannien ist eine Demokratie, dessen oberster Vertreter nicht gewählt wird. Im Übrigen haben sich Wahlen sowohl in Demokratien, wie in Diktaturen durchgesetzt. Wahlfälschungen gibt es in beiden Systemen, häufiger in der Diktatur, aber auch im demokratischen Österreich.

 

Stellen wir uns vor, dass der deutsche Bundespräsident Gauck, der der oberste Repräsentant der Bundesrepublik Deutschland ist und über so gut wie keine politische Macht verfügen darf, mit Hilfe einiger Freunde die Bundeskanzlerin Merkel entmachtet und sich auf ihre Stelle als Kopf der Regierung katapultiert. Als überzeugte Demokraten fällt es uns schwer, so etwas vorzustellen, ja ein solcher Vorgang erscheint uns absurd, gar pervers. Nehmen wir weiterhin an, dass die Regierungsminister und alle Parteien des Bundestages dieses absurde Spiel aus Eigennutz mitmachen. Nur die Polizei erklärt öffentlich, dass das Vorgehen Gaucks ein Bruch der Verfassung ist. Gauck wird auf Veranlassung eines unbekannten Polizeipräsidenten entmachtet und ins Gefängnis gesteckt. Da Regierung und Parlament sich dem widersetzen, sperrt die Polizei das Regierungsviertel in Berlin ab und blockiert die Zugangswege.

 

Die Polizei hat jedoch nicht bedacht, dass Gauck beim Wahlvolk viel beliebter als Merkel ist. Viele ansonsten ruhige Bürger und Mitglieder der AfD beginnen in der Öffentlichkeit zu randalieren und Polizisten zu bedrohen, die sie für die Verhaftung Gaucks verantwortlich machen. Nach wenigen Stunden wird Gauck unter dem Jubel der Massen, der Rechten und der Politiker aus dem Gefängnis befreit. Der unbekannte Polizeipräsident wird verhaftet. Sofort gratulieren alle Staatschefs der Welt dem Präsidenten Gauck, dass er einen Putsch ohne Blutvergießen überstanden hat und die Demokratie in Deutschland gerettet ist.

 

Ist die Geschichte unverständlich? Betrachten wir die Ereignisse in der Türkei. „Gauck“ ersetzen wir durch „Erdoğan“ und den unbekannten Polizeipräsident durch einen wenig bekannten General. Wir erkennen sofort, dass die heutige Türkei keine Demokratie sein kann und alle Staatschefs der Welt mit Ausnahme des Ägypters as-Sisi die Demokratie verraten haben.

 

Nun möchte ich meine linke Hand ins Feuer legen, dass unser Gauck solche Schweinereien nicht begehen wird. Der Türkische Präsident, der schon früher und erst recht jetzt ein Diktator ist, hat jedoch genau diese Verbrechen begangen. Nehmen wir an, die putschenden Generäle hätten die Möglichkeit gehabt, den Diktator Erdoğan während des kurzen Putsches umzubringen. Wäre dies ethisch gerechtfertigt gewesen?

 

Ich bitte die Leser, sich diese Frage heimlich zu beantworten. Die Veröffentlichung der Antworten hat schlimme Konsequenzen zur Folge. Schon ein Schmähgedicht auf den türkischen Diktator kann eine Freiheitsstrafe im ach so demokratischen Deutschland nach sich ziehen.

 

Erschienen unter

 

https://www.fischundfleisch.com/anti3anti/tyrannenmord-nach-schiller-23244

 

Aktuelle Türkei Rundschau ATR

 

 

Numeri 24 : 9


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Mittwoch, 20 Juli 2016