Jenseits der Definition: Die riesige Peripherie des Antisemitismus

Jenseits der Definition: Die riesige Peripherie des Antisemitismus


Die Annahme einer Arbeitsdefinition für Antisemitismus durch die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) [1] im Mai 2016 war ein wichtiges Ereignis für die Entlarvung dieses uralten Judenhasses.

Jenseits der Definition: Die riesige Peripherie des Antisemitismus

von Dr. Manfred Gerstenfeld

 

Um akzeptiert zu werden, brauchte die IHRA die Zustimmung der 31 Mitgliedsstaaten der Organisation, von denen 24 der EU angehören. Man kann jetzt Äußerungen und Veröffentlichungen einer Person oder Organisation auf Antisemitismus hin analysieren, indem man sie mit der Definition und den Bespielen für Antisemitismus vergleicht, die in dem IHRA-Dokument angeführt werden.[2]

 

Man kann die Definition zum Beispiel auf die regelmäßigen antisemitischen Verunglimpfungen der Lady Jenny Tonge anwenden. Tonge ist ein parteiloses Mitglied des britischen Oberhauses und war davor Unterhaus-Abgeordnete der Liberalen Partei. Im Verlauf der Jahre hat sie die Israel-Lobby der Verschwörungen bezichtigt,[3] Israel für Selbstmord-Bombenanschläge im Irak verantwortlich gemacht[4] sowie den Umgang mit Palästinensern durch Israel als die Wurzel des weltweiten Terrorismus“ bezeichnet.[5] Tonge hat zudem gesagt: „Israel wird nicht auf ewig hier bleiben.“[6] Weitere ihrer Äußerungen schließen ein, dass die Juden „sich ihrer selbst schämen sollten“, weil sie Israel nicht aufhalten.[7] All dies sind antisemitische Verleumdungen, die in den Beispielen für Antisemitismus enthalten sind, die die IHRA-Definition begleiten.

 

Analysiert man Tonges Äußerungen, so erkennt man allerdings, dass die Antisemitismus-Definition wie jede andere auch ihre Grenzen hat. Das hat zwei wichtige Aspekte. Der erste besteht darin, dass die Definition nicht alle Beispiele für Antisemitismus anführen kann. Die Definition sagt zum Beispiel, dass es antisemitisch ist „Vergleiche zwischen der gegenwärtigen israelischen Politik und der der Nazis“ zu ziehen. Sie erwähnt aber beispielsweise nicht die Gleichsetzung von Israel mit ISIS. Diese islamische Terrororganisation ist aktuell ein Modell des absolut Bösen.

Jeremy Corbyn, der extremistische linke Parteichef der britischen Labour Party, hat während der offiziellen Präsentation des Chakrabarti-Berichts zu Antisemitismus, Islamophobie und Rassismus in der Labour Party indirekt einen solchen Vergleich gezogen.[8] Es ist nicht klar, ob Corbyns Ausführungen der Antisemitismus-Definition entsprechen. Allerdings bezeichnete Lord Jonathan Sacks, der ehemalige Oberrabbiner Großbritanniens, Corbyns Äußerung zurecht als „Dämonisierung ersten Ranges“.[9]

 

Der zweite Aspekt außerhalb der IHRA-Definition betrifft eine große Zahl weiterer Handlungen und Äußerungen an ihrer Peripherie. Zum Beispiel bracht Lady Tonge den palästinensisch-muslimischen Kleriker Raed Saleh ins britische Parlament. Dieser hat die Ritualmordlüge propagiert, dass Juden das Blut von Nichtjuden benutzen, um ihr Sabbat-Brot zu backen.[10]

 

Will man wichtige organisatorische Brutstätten peripher antisemitischen Handelns finden, die die in der IHRA-Definition enthaltenen Kernelemente ergänzen, dann ist die britische Labour Party hervorragend dafür geeignet. Das gilt besonders unter Corbyn, auch wenn es sie bereits vor seiner Wahl gab. Ken Livingstone hieß, als er Bürgermeister von London war, 2005 den in Ägypten geborenen und in Qatar lebenden Yusuf Al-Qaradawi willkommen. Dieser führende sunnitische Kleriker billigt Selbstmord-Bombenanschläge und hat sowohl antisemitische als auch homophobe Ansichten.[11] Antisemiten zu Vorträgen einzuladen gehört nicht zur Antisemitismus-Definition der IHRA oder anderer, ist aber ein regelmäßig auftretendes Phänomen. Als Alex Chalmers im Februar wegen des dort weit verbreiteten Antisemitismus vom Posten des Vorsitzenden des Oxford Union Labour Club (OULC) zurücktrat, führte er unter anderem solche Einladungen als Grund für seine Rücktritt an.[12]

Es ist schwierig Taten und Äußerungen Corbyns zu finden, die eindeutig in der IHRA-Definition für Antisemitismus erwähnt werden. Dennoch ist er ein prominenter Legitimierer von Antisemiten. Der ausufernde Skandal wegen Antisemitismus in der Labour Party ist zu einem beträchtlichen Maß mit seinen Aktivitäten im Umfeld des Antisemitismus verbunden.

 

Zu den bekanntesten antisemitischen Handlungen Corbyns gehört, dass er Hamas und Hisbollah als seine „Freunde“ bezeichnete. Monate lang wurde von vielen starker Druck auf ihn ausgeübt, bevor er schließlich eingestand, dass dies ein Fehler war.[13] Er hat zudem Hetzer wie Livingstone und Seamus Milne auf ranghohe Posten in der Partei befördert. Solche Taten sind weitere Beispiele für Aktivitäten, die zur Peripherie der Definition gehören.

Als MP Paul Flynn eine doppelte Loyalität eines früheren jüdischen englischen Botschafters in Israel andeutete,[14] befand sich seine Äußerung eindeutig innerhalb der IHRA-Definition für Antisemitismus. Dies ist im Beispiel enthalten, „jüdische Staatsbürger zu beschuldigen Israel gegenüber loyaler zu sein oder den vermeintlichen Vorrang von Juden weltweit gegenüber den Interessen ihrer eigenen Staaten“. Als aber Corbyn Flynn vor kurzem in sein Schattenkabinett berief,[15] was das ein Akt in der Peripherie des Antisemitismus.

 

Zu schweigen, wenn eine wichtige antisemitische Verleumdung geäußert wird, ist eine weitere Handlung in der Peripherie des Antisemitismus. Corbyn machte dies, als er die jüdische Abgeordnete Ruth Smeeth nicht in Schutz nahm, die von einem Labour-Mitglied bei der Präsentation des Chakrabarti-Berichts beschuldigt wurde Teil einer Verschwörung zu sein. Ein klassischer Fall ereignete sich 2003, als der griechische Linksextreme Mikis Theodorakis, ein bekannter Komponist, auf einer Pressekonferenz sagte, die Juden seien die Wurzel des Bösen der Welt. Zwei griechische Minister waren anwesend und schwiegen dazu.[16]

 

Juden zu beschuldigen Antisemitismus zu verursachen, eine typische Stereotypisierungstaktik, ist ebenfalls nicht Teil der IHRA-Definition. Gemäß einer Studie von Fondapol antworteten siebzehn Prozent der französischen Öffentlichkeit, dass die Juden in erheblichem Maß für Antisemitismus verantwortlich sind. Bei den französischen Muslimen lag dieser Anteil mit 31 Prozent weit höher.[17]

 

Noch eine weitere Aktivität in der Peripherie des Antisemitismus ist die Veröffentlichung von Berichten, die große Teile antisemitischen Verhaltens beschönigen. Ein Beispiel ist der gerade veröffentlichte Chakrabarti-Bericht. Noch schlimmer ist die Unterdrückung solcher Berichte. Solche Unterdrückung gab es durch die Labour National Executive Community beim kompletten Text des Royall-Berichts zu Antisemitismus in der OULC. Dieser Bericht konnte erst Monate später durchsickern.[18] Dasselbe geschah mit einem Bericht zu antisemitischer Gewalt und Ansichten in Europa, den das Center for Research and Anti-Semitism (CRA) erstellte. Damals wurde er vom Europäischen Beobachtungszentrum zu Rassismus und Ausländerfeindlichkeit (EUMC) unterdrückt, das ihn bestellt hatte. Auch dieser sickerte später durch.[19]

 

Man wird weitere internationale Organisationen drängen müssen der IHRA-Definition zuzustimmen. Gleichzeitig muss man erkennen, dass es viele weitere Phänomene außerhalb der direkten Grenzen der Definition gibt, die tiefgehende Untersuchungen verdienen.

 

[1] Internationale Holocaust-Erinnerungsallianz

[2]http://www.holocaustremembrance.com/sites/default/files/press_release_document_antisemitism.pdf

[3] http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/politics/5366870.stm

[4] http://www.independent.co.uk/voices/letters/letters-big-bens-fatigue-481463.html

[5] http://www.jpost.com/International/British-politician-Israel-is-the-root-cause-of-terrorism

[6] http://www.bbc.com/news/uk-politics-17218291

[7] http://www.thejc.com/news/uk-news/25560/hundreds-rally-attack-israel-over-gaza-operation

[8] http://www.bbc.com/news/uk-politics-36672022

[9] http://jewishnews.timesofisrael.com/lord-sacks-corbyns-israel-demonisation-of-the-highest-order

[10] https://ukmediawatch.org/2013/10/09/guardian-publishes-letter-by-jenny-tonge-on-the-issue-of-antisemitism/

[11] news.bbc.co.uk/2/hi/4165691.stm

[12] http://www.thejc.com/images/Report_OUC_Final.pdf

[13] http://theguardian.com/politics/2016/jul/04/jeremy-corbyn-says-he-regrets-calling-hamas-and-hezbollah-friends

[14] http://www.bbc.com/news/uk-politics-15991739

[15] http://www.telegraph.co.uk/news/2016/07/01/labour-veteran-paul-flynn-81-becomes-oldest-mp-to-serve-on-the-f/

[16] Herb Keinon: Greece repudiates Theodorakis’ anti-Semitism. The Jerusalem Post, 14. November, 2003.

[17] Brice Teinturier/Etienne Mercier: Perceptions et attentes de la population juive. Fondation de Judaïsme Français, IPSOS Public Affairs, 2015. [frz.] 2834.

[18] http://www.thejc.com/news/uk-news/161468/baroness-royall-report-reveals-oxford-labour-students-engaged-antisemitism

[19] http://www.israelnationalnews.com/Articles/Article.aspx/15697

 

 

Erstveröffentlicht bei Heplev


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Dienstag, 30 August 2016