Versuch einer deutschen Charakterstudie

Versuch einer deutschen Charakterstudie


Ich habe eine alte Schulfreundin, die ich aufgrund ihrer politischen Ideen für eine prototypische Repräsentantin des alternativen Kleinbürgertums halte. Aber weil ich mich weder mit dem Kleinbürgerlichen noch dem Alternativen sonderlich auskenne, müssen Sie entscheiden, ob ich mit meinem Urteil richtigliege, liebe Leserinnen und Leser.

Versuch einer deutschen Charakterstudie

von Ramiro Fulano

 

Bei meiner Bekannten handelt es sich um eine fünfzigjährige, alleinstehende Person weiblichen Geschlechts, die in einem der momentan angesagten Trendviertel lebt, in einer schlichten Altbauwohnung (ohne Katzen). Nennen wir sie mal Johanna.

 

Johanna lebte bereits in ihrer Schlichtwohnung, bevor das Viertel trendig wurde. Sie lebte dort sogar schon, bevor ihre Wohnung zu Beginn der achtziger Jahre modernisiert wurde. Sprich: Bevor Johanna und die anderen Mieter eigene Badezimmer bekamen; zuvor befand sich die Toilette auf der halben Treppe und zum Waschen musste die Zinkwanne in der Küche genügen.

 

Natürlich ist Johanna nicht die einzige Vertreterin ihrer Art. Sonst wäre sie kein typisches, und erst recht kein prototypisches Exemplar einer absurderweise noch immer relativ tonangebenden sozialen Gemengelage.

Es handelt sich um Personen, die in die noch immer angesagten Innenstadtlagen zogen, als sie bereits deutliche Verslumungstendenzen zeigten – die Menschen und „ihre“ Häuser. Ich kannte diese Viertel, bevor sie schick wurden. Dort wohnte – wie es im Mittelstand selbstgefällig hieß – „die andere Hälfte“.

 

Was an diesen kaputtgewohnten und heruntergewirtschafteten Bruchbuden anziehend war, verstand wahrscheinlich nur, wer sich selbst für kaputt und heruntergewirtschaftet hielt. Tatsächlich muss die Wahl der Wohnung nicht dem Sachzwang überlassen bleiben, denn den kann man sich aussuchen. Und wenn man das nicht kann, aber möchte, muss man sich eben etwas fleißiger und/oder geschickter anstellen, liebe Linke.

Doch zurück zu Johanna. Als sie Anfang der achtziger Jahre ins inzwischen angesagte Trendviertel zog, gehörte sie bereits nicht mehr zu den Pionieren. Sie wähnte sich zwar progressiv, aber sie war nicht sehr mutig. Demzufolge hatten sich die frühen Vögel bereits die Rosinen rausgepickt und üppige Sanierungen und Fördermittel von der öffentlichen Hand bekommen, damit es ihnen in ihren Zweihundertquadratmeter-Lofts im Winter nicht zu zugig wurde.

 

Das war der Beginn der linksalternativen Umverteilung von unten nach oben. Selbstverständlich auf Kosten Dritter, denn die Öffentlichkeit hatte gefälligst dankbar zu sein für Oberstudiendirektorinnen jederlei Geschlechts, die den Schulkindern beibrachten: „Macht kaputt, was Euch kaputt macht!“

 

An diesem Kult des Kaputten und Morbiden, der sich in den Achtziger Jahren in West-Deutschland ausbreitete, wie ein Novembernebel, war nichts zufällig. Zum einen wurde damals gerade die Ölkrise samt anschließender Rezession eingepreist (der Anfang eines sozialen und wirtschaftlichen Abstiegs, der in der Lehman-Pleite kulminierte). Zum anderen fühlte sich das linksalternative Milieu zu einer gründlichen Inspektion der deutschen Geschichte ertüchtigt – mit dem Ziel, sich selbst zu deren wichtigstem Opfer zu küren.

 

Denn merke: Das Opfer hat immer recht und dem Opfer ist alles erlaubt. Das sind die beiden Grundregeln der Selbstermächtigungsideologie des linksalternativen Establishments und so funktioniert dessen Politik seit über fünfzig Jahren.

 

Auch Johanna entdeckte bald, wie bequem es ist, sich für Dinge schuldig zu fühlen, zu denen sie nichts kann. Denn das entbindet einen aus linksalternativer Perspektive aus der Pflicht, konkrete Verantwortung zu übernehmen, praktisch tätig zu werden und die Dinge zum Besseren zu wenden.

Oder in Johannas eigenen Worten ausgedrückt: „Ich wähle doch die Grünen – dann muss ich nicht für Greenpeace spenden.“

 

Natürlich wähnt Johanna, sie sei zweierlei: politisch. Und ökologisch. Deshalb lässt sie sich ihr Mineralwasser aus dem tiefsten Frankreich herankutschieren. Denn wenn es um den eigenen Urin geht, ist die CO2-Bilanz plötzlich egal. Und sie ist politisch, denn als sie damit noch ihren Freundinnen imponieren konnte, war sie Feministin.

 

Das Blöde daran scheint zu sein, dass Johanna nie weiß, wen sie wählen soll. Das lässt sie sich nämlich jedes Mal von einer Freundin sagen. Meist kommen die Grünen dabei raus, weil die so „anders“ und „nicht so wie alle anderen“ sind. Zudem versteht Johanna (wie die meisten Grünen) den Unterschied zwischen Erst- und Zweitstimme nicht. Zum Glück, sonst würden die Sozis in den Grünen-Hochburgen ihre Mandate direkt gewinnen.

 

Vor allem aber hält sich Johanna für politisch, weil sie die TAZ liest und alles glaubt, was die schreibt. Das kann sie von mir aus gerne machen, aber ich würde mir an ihrer Stelle nicht so verdammt viel darauf einbilden, dass ich ein Blatt konsumiere, das 99% der Leute nicht mal mit der Feuerzange anfassen würden. Aber Johanna denkt: Wer die TAZ liest, weiß Bescheid. Dabei weiß so jemand eigentlich nur, was in der TAZ steht, oder?

 

Ich finde Meinungsvielfalt spannend. Johanna hingegen kämpft für die aus ihrer Sicht richtige Weltanschauung und wenn sie mit ihrer TAZ-Lektüre fertig ist, gibt sie ihre alte Zeitung ganz missionarisch einer Nachbarin, die aus Johannas Sicht auch noch etwas Volksaufklärung und Propaganda gebrauchen kann. Darauf bildet sich Johanna dann auch noch mal eine Menge ein.

 

Doch zurück zu Johannas „politischen“ Ideen. Als es mal eines Tages um Politik im Nahen Osten ging, reagierte sie auffallend empört und mit einer ganz untypischen Rage darauf, „dass Israel von seiner Übermacht Gebrauch macht“. Und als ich zu bedenken gab, dass die Juden sonst längst tot wären, hat sie mich angeguckt, wie eine Kuh, wenn‘s donnert. Auf dieses recht naheliegende, aus der realexistierenden Wirklichkeit abgeleitete Argument kommt man nämlich nicht, wenn man die TAZ liest.

 

Ich gönne allen ihren politischen Wahn. Das Lustige ist bloß, dass man im linksalternativen Milieu gerade dann als besonders intelligent und progressiv gilt, wenn man die Weisheit mit der Schale gefressen hat und möglichst viele Plattitüden ohne die geringste intellektuelle oder moralische Kraftanstrengung wiederherauswürgen kann.

 

Man ist dort „politisch“, obwohl man nicht mal weiß, wen man wählen soll. Man ist dort „solidarisch“, wenn man weiß, wie man sich aus der Verantwortung stiehlt. Man ist „internationalistisch“, obwohl man nur Fußball guckt, wenn Deutschland spielt. Man ist ein „Europäer“ (gemeint ist die EU), weil man seit Jahrzehnten auf dieselbe Mittelmeer-Insel reist. Bei den Original-Spießern wäre es eine Familienpension im Schwarzwald, liebe Linksalternative.

 

Man ist „ökologisch“, obwohl man sich jede Flasche Mineralwasser tausend Kilometer weit mit dem Lastwagen herankarren lässt. Man ist „nicht religiös“, aber lutscht gerne auf anthroposophischem Traubenzucker herum. Man ist „emanzipiert“, und kann nicht mal seine Geldgeschäfte selbst erledigen. Aber vor allem bildet man sich jede Menge darauf ein, dass man sich trotz seiner Rückständigkeit so gut in die Tasche zu lügen versteht.

 

Man kann sich deshalb sogar für „demokratisch“ halten, liebe Linke. Man sollte dann aber bitte im Interesse der eigenen Restglaubwürdigkeit darauf verzichten, so zu tun, als ob das Spaß macht, was man tagaus tagein treibt. Weil man nämlich nichts Anderes als tristes, linksalternatives Einheitsbunt produziert, wenn alle auf dieselbe Art „anders“ sein sollen.

 

Auf Johanna trifft genau das zu (und vermutlich sogar noch mehr). Ich selbst habe sie im Laufe der Jahre so kennengelernt. Sie zeigt alle diese Symptome. Meine Frage: Ist sie eine prototypische Repräsentantin des linksalternativen Kleinbürgertums? Rhetorische Frage, oder nicht?

 

Letzten Endes ist es so: In der selben Bruchbude in Innenstadtlage, in der bereits Kaisers Lieschen die Linsensuppe misslang, steht jetzt eine Johanna und rührt in ihrem Hirsebrei aus ökologisch kontrolliertem Anbau. Sie haben einander wirklich verdient, die Menschen und „ihre“ Häuser.

 

Und das soll nun Fortschritt sein.

 

 

Foto: Gartenzwerg für den Vorgarten (Foto: von Lesekreis (Eigenes Werk) [CC0], via Wikimedia Commons)


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Sonntag, 09 April 2017