Die Illusion der deutschen Juden, `normale´ Bürger werden zu können

Die Illusion der deutschen Juden, `normale´ Bürger werden zu können


`Ich würde gerne eine Jüdin sein, wie ich eine Frau bin. Beides sollte normal sein.´[1]

Die Illusion der deutschen Juden, `normale´ Bürger werden zu können

Von Dr. Manfred Gerstenfeld

Ein weiteres Zitat ist realistischer: „Es ist nicht erlaubt hier Wurzeln zu schlagen, aber man kann sich ein Nest schaffen.“[2] Beides sind Zitate deutscher Juden zu ihrem Land. Sie wurden für einen Bericht der Soziologin Julia Bernstein von der Frankfurter University of Applied Sciences befragt.

Die zweiteilige Studie mit dem Titel Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland wurde von der Universität Bielefeld veröffentlicht, die eine lange Geschichte des Studiums des Antisemitismus und anderer Diskriminierungen hat. Der Studienbericht beinhaltet viele Einsichten in die weit vom Normalen entfernte Realität, in der deutsche Juden leben. Nur ein paar wenige können hier erwähnt werden.

Für ihre Analyse befragte Bernstein in Deutschland lebende, hier sowie in Russland und Israel geborene jüdische Personen, außerdem Sozialarbeiter und Experten.[3] Bernstein zitiert die Experten, die sagen, dass Antisemitismus im Land seit 2014 zugenommen hat. Darüber hinaus hat sich das Wesen des Antisemitismus insofern geändert, als er innerhalb der deutschen Gesellschaft offener zum Ausdruck gebracht wird und in einer Reihe von Gruppen akzeptabel ist. Mit Israel verbundener Antisemitismus, getarnt als legitime Kritik am Land, ist weit verbreitet. Manche Experten stellen fest, dass öffentliche Bekundungen aus dem Jahr 2014 wie „Juden ins Gas“ vor zehn Jahren unvorstellbar waren.[4]

Alle jüdischen Befragten hatten Angst vor der Zunahme des Antisemitismus durch islamistische Radikalisierung und die Zuwanderung von Flüchtlingen. Die meisten Befragten erwähnten auch andere Gruppen – insbesondere Deutsche mit Bildung und aus der Mittelklasse. Kurz gesagt: Der deutsche Antisemitismus ist in den letzten Jahren innerhalb des Mainstreams des Landes normalisiert worden. Als Ergebnis davon sind die meisten der befragten Juden extrem vorsichtig und zeigen in der Öffentlichkeit keine Zeichen jüdischer Identität. Alle Befragten erwähnten zudem Verzerrung in den Medien, die zu antiisraelischem Antisemitismus führt.

Der Wendungen „Jude“, „jüdische Identität“ und „jüdische Präsenz in Deutschland“ werden nicht als neutrale Begriffe betrachtet. Das gefährdet jüdische Teilhabe an der Gesellschaft und die Zugehörigkeit zu ihr sowie die Kommunikation zwischen Juden und Nichtjuden. Mit anderen Worten: Die Befragten hatten das Gefühl, dass diese Situation die Normalität des jüdischen Lebens gefährdet. Die jüdischen Befragten hatten außerdem das Gefühl, dass sie die Einhaltung jüdischer Gesetze wie Kaschrut, Schabbat und Beschneidung rechtfertigen zu müssen. Für die meisten von ihnen ist es wichtig offen über ihre Herkunft und Identität zu sprechen und nicht gezwungen zu werden ihre jüdischen Traditionen „versteckt“ zu praktizieren.

Die meisten Befragten haben die Sorge, dass sie nicht ausreichend beschützt werden, wenn sie antisemitischen Angriffen ausgesetzt werden. Die meisten der Befragten sind sich ihrer Zukunft in Deutschland nicht sicher. Sollte der Antisemitismus weiter zunehmen, schließen sie Auswanderung nicht aus. Die Kinder einiger der Befragten sind bereits nach Israel gezogen. Diejenigen, die als Juden erkennbar sind, teilten regelmäßige oder fast tägliche antisemitische Erfahrungen mit, oft begangen von Muslimen.[5]

Ein zusätzliches erwähntes Thema ist, dass Juden Angst haben Dinge zu tun, die in die Stereotype von Juden unter Nichtjuden passen könnten.[6] Eine weitere wichtige Beobachtung ist, dass Feindschaft gegenüber Ausländern und Antisemitismus miteinander in Verbindung stehen.

Die Präsenz des Antisemitismus in Schulen ist in Bernsteins Studie ein wichtiges Thema. Aggressive direkte Ausdrucksformen antisemitischen Hasses treten vor allem durch andere Schüler auf. Der Begriff „Scheißjude“ ist nur einer davon.[7]

Bernstein führt auch einige extreme Erfahrungen an. Ein Experte berichtet die Geschichte der Einladung einer Reporterin einer angesehenen deutschen Tageszeitung zu einem Pessah-Seder: „Sie nahm mich zu einem bestimmten Moment beiseite und fragte in verschwörerischem Ton: ‚Sagen Sie mir bitte, diese dunkelroten Punkte auf den Matzen, ist das nicht Blut von christlichen Kindern?‘ Ich warf sie hinaus.“[8]

Ein weiteres Extrem ist der Philosemitismus, der ebenfalls die Unfähigkeit zum Ausdruck bringt einen Juden als normales Individuum zu betrachten. Eine Frau erzählt von einem Deutschen, der sein Auto anhielt und rief, dass er die Juden liebt. Sie fügte hinzu: „Wir hatten Angst und wollten weglaufen. Es wurde klar, dass er uns umarmen wollte.“[9]

Von den Befragten werden viele Vorschläge gemacht, um die Lage zu verbessern und den Kampf gegen den Antisemitismus zu stärken. Mehrere könnten halbwegs effektiv sein, wenn sie ausgeführt werden.

Der erste Teil der Studie von Andreas Zick, Andreas Hövermann und Silke Jensen der Universität Bielefeld ist traditioneller. Während des Frühjahrs 2016 wurden 553 Juden gebeten einen Online-Fragebogen auszufüllen.[10] Das führte zu Ergebnissen, die oft mit denen einer aktuellen, großen Studie zu Antisemitismus in zwölf EU-Ländern von der FRA (Agentur für Grundrechte) übereinstimmen.[11] In der Einleitung des neuen Berichts sagten die Autoren, dass Antisemitismus Teil des Alltagslebens in Deutschland ist. Er drückt sich in Stereotypen aus, in allgemeiner Herabwürdigung von Juden und Judentum, in offenen wie subtilen antisemitischen Vorurteilen und Bildern in den Medien.[12]

Bezüglich der Klassifizierung, wo Antisemitismus auftritt, ist das Schüren von Hass in sozialen Medien führend im Feld der Bereiche, in denen große oder sehr große Probleme auftreten. Dem folgen in der Bedeutung dichtauf die verzerrte Darstellung Israels in den Medien sowie Holocaust-Umkehr, d.h. die Gleichsetzung des Tuns Israels mit dem des Nationalsozialismus und dem Holocaust. Nicht weit dahinter folgen Antisemitismus bei Demonstrationen, Antisemitismus in Diskussionen – zum Beispiel in Schulen, am Arbeitsplatz und anderen Orten – und verbale Beschimpfungen und Belästigung von Juden.[13]

Die zwangsläufige große Schlussfolgerung aus der Studie, auch wenn sie in dem Bericht nicht erwähnt wird, lautet, dass Normalität für jüdisches Leben in Deutschland nicht existiert. Dem kann man hinzufügen, dass in Deutschland lebende Juden vermutlich die Illusion aufgeben müssen, dass ihre Realität jemals „normal“ sein wird wie die der Mehrheit der Bürger.

[1] https://uni-bielefeld.de/ikg/daten/JuPe_Bericht_April2017.pdf, 44

[2] ebenda, S. 46

[3] ebenda, S. 41

[4] ebenda, S. 79

[5] ebenda, S. 79, 80

[6] ebenda, S. 80

[7] ebenda, S. 61

[8] ebenda, S. 45

[9] ebenda, S. 44

[10] ebenda, S. 4

[11] European Agency For Fundamental Rights: Experience and perceptions of antisemitism. Second survey on discrimination and hate crime against Jews in the EU. Luxemburg, 2018.

[12] https://uni-bielefeld.de/ikg/daten/JuPe_Bericht_April2017.pdf, S. 2.

[13] ebenda, S. 12

 

Heplev


Autor: Dr. Manfred Gerstenf
Bild Quelle:


Dienstag, 22 Januar 2019

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