Die eine Sache, über die kein Israeli reden will

Die eine Sache, über die kein Israeli reden will


Der entscheidende Faktor in der nächsten Wahl – und der Grund für Benjamin Netanyahus Langlebigkeit als Regierungschef – ist verdrängte Erinnerung

Die eine Sache, über die kein Israeli reden will

Von Matti Friedman, The New York Times

Versucht man Israels Wahl am 17. September zu verstehen, die zweite innerhalb von sechs Monaten, dann kann man sich schnell in Einzelheiten verlaufen – Korruptionsvorwürfe, Koalitionsgerangel, Gezänk zwischen Links und Rechts. Aber die beste Erklärung könnte ein kleiner Film sein, den Sie wahrscheinlich nicht sehen werden; er handelt von etwas, über das die Leute hier lieber nicht sprechen.

Die Eröffnungsszene von „Born in Jerusalem and Still Alive“ (In Jerusalem geboren und immer noch am Leben), der gerade den ersten Preis des Jerusalem Film Festival gewann, fängt die Hauptfigur ein, wie er eine Grimasse zieht, als er eine wortgewandte Fremdenführerin hört, die ihrer Gruppe die Innenstadt von Jerusalem als „wunderschön“ beschreibt, das „Zentrum des Nachtlebens und des Essens für die junge Generation“. sie Ronen, ein ernster Mann Ende dreißig, unterbricht.

„Glauben Sie ihr nicht“, sagt der den Touristen in hebräisch gefärbtem Englisch. „Sehen Sie diesen Markt? Vor fünfzehn Jahren war das Kriegsgebiet. Direkt neben meiner Oberschule gab es einen Terroranschlag. Neben der Universität dort gab es einen Terroranschlag. Als ich das erste Mal Sex hatte, gab es einen Terroranschlag.“ Eine der Terroristinnen schlängelt sich interessiert zu ihm durch. „Ja“, sagt Ronen ihr, „wir mussten anhalten“.

Kein Einzelereignis hat Israels Bevölkerung und Politik so geformt wie die Welle der Selbstmord-Bombenanschläge, die Palästinenser in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts verübten. Ein Großteil dessen, was Sie hier 2019 sehen, ist die Folge dieser Zeit und jede Wahl seitdem ist in ihrem Schatten erfolgt. Die Anschläge, bei denen hunderte israelischer Zivilisten getötet wurden, beendete die Hoffnung auf einen Verhandlungsfrieden und vernichtete die Linke, die an der Macht war, als die Welle einsetzte. Jegliches Mitgefühl, das die Mehrheit der Israelis gegenüber den Palästinensern empfand, verflog.

Mehr als jede andere Entwicklung erklärt diese Periode die Dauerhaftigkeit des Benjamin Netanyahu, die Außenseiter zu begreifen sich manchmal schwer tun. Einfach ausgedrückt: In dem Jahrzehnt, bevor Netanyahu 2009 an die Macht kam, begleitete uns an öffentlichen Orten Todesangst. Es bestand das Risiko, dass dein Kind im Bus von der Schule nach Hause in die Luft gejagt wurde. Im Jahrzehnt seitdem hat das aufgehört. Neben dieser Tatsache verblassen alle anderen Dinge. Welche Anerkennung auch immer dem Premierminister dafür gebührt, für viele Wähler reicht das als Grund aus, um ihn am 17. September an der Macht zu halten.

Angesichts der zentralen Bedeutung dieser Jahre ist es erstaunlich, wie selten sie tatsächlich in Gesprächen aufkommt. Entlang der Jaffa Road, der am härtesten getroffenen Straße (und dem Handlungsort von „Born in Jerusalem“) sind die Spuren fast unsichtbar geworden. Die Pizzeria Sbarro, wo 2001 ein palästinensischer Selbstmordbomber 15 Menschen tötete, darunter 7 Kinder und einen Schwangere, ist heute eine Bäckerei mit anderem Namen. Sie befindet sich ein paar Schritte entfernt von der Stelle, an der ich diese Zeilen schreibe und ist voller Kunden, von denen viele wahrscheinlich nicht wissen, was dort geschah.

Darum geht es in „Born in Jerusalem“. Nicht um Politik, sondern das Verdrängen der persönlichen Erinnerung, die es uns gestattet hat weiterzumachen, während es ein verunsicherndes Gefühl fehlender Zeit hinterließ.

In einer weiteren Szene des Films diskutieren Ronen und die Frau, für die er sich interessiert, Asia aus Jerusalem, über diese Jahre, die sie nur als „die Zeit der Anschläge“ bezeichnen kann. Es erlaubt ihm auf das Seltsamste dieser Zeit zu deuten, das darin besteht, dass sie keinen Namen hat. Die Palästinenser nennen sie die „zweite Intifada“ und die Israelis umschreiben sie als „die Situation“.

Sie wird nicht offiziell als Krieg betrachtet, obwohl dabei mehr Israelis starben als im Sechstage-Krieg von 1967. Und niemand kann genau sagen, wann sie begann oder endete. Die Anschläge nahmen Mitte der 1990-er Jahre zu, als Israel einen Friedenshandel verfolgte und Land abgab, aber das Schlimmste kam zwischen 2000 und 2004. Obwohl andere Formen der Gewalt fortbestehen, gab es den letzten israelischen Todesfall durch einen palästinensischen Selbstmord-Bomber im Jahr 2008.

Das Verdrängen der Erinnerung hat der Palästinenserführung geholfen so zu tun als sei nichts davon je geschehen und wenige der Auslands-Journalisten, die heute aus dem Land berichten, waren damals hier. Warum haben moderate Israelis Angst aus der Westbank abzuziehen? Warum ist die einst dominante Linke zu einem mageren parlamentarischen Rest geworden? Warum gibt es eine Sperranlage? Warum wird das Wort „Frieden“ sarkastisch betont, während das Wort „Sicherheit“ eine Art übernatürliches Gewicht besitzt? Wenn Sie damals nicht in Israel waren und Zugang zum nationalen Unterbewusstsein haben, wird die Antwort schwer nachvollziehbar sein.

Der Ronen im Film ist das Alter Ego von Yososi Atia (39), der ihn spielt und das Drehbuch zum Film schrieb sowie mit Regie führte. Atia durchlebte diese Jahre, wie ich, als College-Student. Seine Filmfigur kann das Schweigen nicht ertragen oder das Gefühl, dass er verrückt ist sich zu erinnern, also fängt er an eigene Führungen durch das Herz der Stadt zu geben: Die Pizzeria Sbarro, den Ort, wo zwei Bomber sich gemeinsam am Zionsplatz sprengten, den Gemüsemarkt, der immer wieder getroffen wurde.

Er gibt Touristen alte Nokia-Handys und lässt sie eines der Schlüsselrituale der Zeit simulieren: die Anrufe, die wir nach Anschlägen tätigten, um unseren Familien zu sagten, dass es uns gut geht. Es ist unklar, ob das als Bildung für die Leute gemeint ist, die er herumführt oder als Therapie für sich selbst. Er erklärt die merkwürdigen sozialen Berechnungen, die einem Anschlag folgten: Wenn gerade acht Menschen, sagen wir: in einem Bus, getötet wurden, könntest du an dem Abend mit einem Freund einen trinken gehen? (Ja.) Was wäre, wenn es zwölf in einem Café waren? Könntest du zu einem Date gehen? (Nein.) Ronen hat doch tatsächlich eine Grafik dazu.

Ich erinnere mich an diese Zwickmühlen der Terror-Etikette, genauso daran dass ich an einer Bushaltestelle stand und hörte, wie ein Selbstmord-Bomber sich eine Straße weiter sprengte und 11 Menschen im Café Moment ermordete. Meine Mutter ging durch den Bahnhof von Nahariya, unmittelbar bevor ein Selbstmord-Bomber dort zuschlug; und meine Schwester war in einer Cafeteria der Hebräischen Universität, als Palästinenser sich in einer anderen Cafeteria sprengten. Ich habe viele derartige Erinnerungen, die allesamt für damals Standard sind.

Als ich mit Atia sprach, sagte er, er dachte die Israelis würden das Thema aus einem offensichtlichen Grund meiden: Es ist zu entsetzlich. Weil das Gemetzel nicht auf einem weit entfernten Schlachtfeld oder beschränkt auf Soldaten stattfand, die Erfahrung die gesamte Gesellschaft umfasste und man solche Bilder oder die Angst nicht vergessen kann, selbst wenn du sie in die dunkelsten Schichten deines Gehirns verbannt hast. „Das war kein militärischer Krieg, das war ein ziviler Krieg und die Opfer waren Zivilisten“, sagte er. Seine Figur, Ronen, will darüber reden und das macht ihn seltsam. „Niemand will zuhören.“

Atias Film handelt nicht von irgendwelcher erkennbarer Wut auf die Palästinenser oder sonst irgendjemanden, nicht einmal als Ronen demonstriert, wie der Sbarro-Bomber einen Gitarrenkoffer mit seinem Sprengstoff bestückt. Der Ansatz ist eine Art leichter Surrealismus. Am nächsten an einen politischen Kommentar kommt er, als er aufzeigt, dass auf den Gedenktafeln für die Anschläge aus den 1990-ern, den Jahren des Friedensprozesses, den Namen der Opfer der traditionelle jüdischen Satz „Möge ihre Erinnerung ein Segen sein“ folgte. In den frühen 2000-ern änderte sich das zu einem anderen Satz aus der Tradition: „Möge Gott ihr Blut rächen.“

Für einen Zuschauer der sich an diese Zeit erinnert, entstammt viel von der Resonanz des Films dem Kontrast zwischen dem, was Ronen auf seinen Führungen beschreibt und der vergesslichen Stadt von heute um ihn herum. Der Jaffa Road, die in den schlimmsten Augenblicken öde und verlassen war, wurde ein Facelifting verpasst und eine neue Straßenbahn gegeben; sie ist heute gedrängt voll mit Fußgängern, lebhaft und nicht wiederzuerkennen. Die von Ronen seinen Touristen beschriebenen Ereignisse sind kaum zu glauben.

Aber er weiß, was geschah und genauso weiß es die israelische Wählerschaft. Ein Psychiater könnte uns sagen, dass etwas um so stärker verdrängt wird, je mehr Macht es ausübt. Wenn also Netanyahu in einer Wahlwerbung erklärt, dass „wir in der stürmischen See des Nahen Ostens bewiesen haben, dass wir Israel als eine Insel der Stabilität und Sicherheit erhalten können“, dann wissen wir alle, was er meint, selbst wenn wir nicht für ihn stimmen. Das ist seine stärkste Karte und wenn er gewinnt, wird das der Grund dafür sein. Das Szenario, das wir fürchten, ist klar, selbst wenn es keinen Namen hat. Es braucht keinen.

 

Übersetzt von Heplev - Foto: Flucht vor einem Selbstmord-Bombenanschlag im Jahr 2002 im Café Moment in Jerusalem, bei dem 11 Israelis getötet wurden


Autor: Heplev
Bild Quelle: ior Mizrahi/Getty Images


Montag, 16 September 2019

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