Coronavirus und Souveränität: Der Fall Ungarns

Coronavirus und Souveränität: Der Fall Ungarns


Wie man es erwarten konnte, erheben sich manche oppositionelle Stimmen gegen Viktor Orbán seitdem die ungarische Regierung am 11. März entschieden hat, den Gefahrenzustand auszurufen, um der Coronavirus-Epidemie (Covid-19) entgegenzutreten.

Coronavirus und Souveränität: Der Fall Ungarns

Von Yann P. Caspar

Diese Entscheidung entspricht der Umsetzung des Art. 53 des ungarischen Grundgesetzes, die in einem der besonderen Rechtsordnung gewidmeten Kapitel behandelt wird. Die Umsetzung dieser Verfassungsbestimmung wird von der Opposition als einen neuen Schritt von Ministerpräsident Viktor Orbán in Richtung eines diktatorisch regierten Ungarns ohne Freiheiten betrachtet.

Ähnlich wie in allen modernen liberalen Verfassungen sieht die ungarische Verfassung Bestimmungen vor, die Ausnahmesituationen umfassen, von denen es im Falle Ungarns sechs gibt: den Ausnahmezustand (Art. 49), den Notstand (Art. 50), die präventive Verteidigungssituation (Art. 51), terroristische Gefahr (Art. 51/A), den unerwarteten Angriff (Art. 52) und die Gefahrensituation (Art. 53). Ungarn hat also nicht den Ausnahmezustand ausgerufen, wie manche dies meldeten, indem sie, mit Absicht oder nicht, vészhelyzet (Ausnahmezustand) mit veszhélyhelyzet (Gefahrensituation) verwechselten.

Das ist das, woran Viktor Orbán übrigens heute in dessen Interview vom Freitag Morgen erinnerte, indem er mit nicht-juristischen Worten erklärte, dass Ungarn nun in eine Situation zwischen Frieden und Krieg eingetreten war. Das bedeutet keineswegs, dass Ungarn in jedem Augenblick in den Ausnahmezustand geraten könnte, den ein Krieg verursachen würde, sondern bloß, daß die Maßnahmen, die aufgrund der Gefahrensituation getroffen werden können, sich unterhalb der Konsequenzen befinden, was die Umsetzung der anderen Bestimmungen der anderen Artikel im juristischen Bereich bewirken könnte.

Nichtsdestotrotz stellt der Artikel 53 per Definition eine Ausnahmesituation dar und ermöglicht, „die Anwendung mancher Gesetze zu suspendieren, gewöhnliche legale Bestimmungen abzubedingen und weitere Sondermaßnahmen zu treffen“, bis die Gefahr abgewendet werde. Angesichts der Natur der betreffenden Gefahr haben die getroffenen Maßnahmen schon Konsequenzen für die öffentlichen Freiheiten, insbesondere für die Bewegungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit und teilweise die Pressefreiheit. Mehr wird nicht nötig gewesen sein, damit László Majtényi, der dem früheren linksliberalen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány nahesteht, von einer schweren Beeinträchtigung der öffentlichen Freiheiten und von der Zerstörung der Pressefreiheit spreche und unterstelle, dass Viktor Orbán sich unbeschränkte Vollmacht anmaße, die öffentlichen Freiheiten mit den Füßen trete und daher ein Diktator sei. Somit habe die Opposition endlich den Beweis von dem, was sie seit Jahren eindringlich wiederholt.

Während diese Polemik angesichts der Herausforderung, die die gegenwärtige Gesundheitskrise darstellt, nicht von großem Interesse ist, ermöglicht sie allerdings klarzustellen, was die Lage einer Ausnahmesituation in einem Land wie Ungarn mit sich bringt und was sie erklärt.

Die Lehre Carl Schmitts besagt, dass der Begriff der Ausnahmesituation die Frage der Souveränität stellt und dass die derzeitigen heftigsten Kritiken der ungarischen Opposition diese Lehre vollkommen bestätigen. Eine Ausnahmesituation in einer Ausnahmesituation auszurufen, heißt souverän zu sein. Zu wissen, wer in dieser Situation über diese Situation bestimmt, heißt zu wissen, wer der Souverän ist. Es besteht nicht der geringste Zweifel, dass die Opposition ein gespanntes Verhältnis zum ungarischen Ministerpräsidenten hat – denken wir bloß an das Verhalten von Momentum, das beklagt, dass die ersten, die mit dem Virus infiziert wurden, Iraner seien, was Orbán gerade recht käme. Dagegen macht die derzeitige Polemik rund um die Gefahrensituation nun gerade das greifbar, was bisher unter der Form konsequenter Indizien spürbar war: die ungarische Opposition hat ein Problem mit dem Begriff der Souveränität und eigentlich stellt sie sich gegen diesen Begriff.

Denn was stellt man nun seit dem Anfang dieser Gesundheitskrise in Europa fest? Ganz sicher keine Entscheidungen der europäischen Institutionen, die aus der Verständigung unter den Mitgliedstaaten resultieren würden. Letztere holen sich in der Tat ihr Recht zurück und dies ist sogar für Länder wie Ungarn der Fall, die gewöhnlich nur über eine beschränkte Souveränität verfügen. Diese Rückkehr der nationalen Souveränität kommt davon, dass die gegenwärtige Lage selbstverständlich im Bereich des Unvorhersehbaren liegt. Nun ermöglicht es das „europäische Projekt“ keineswegs, gegenüber unvorhersehbare Situationen zu reagieren. Dieses Projekt besteht aus der Mechanik eines allmählichen Räderwerks, die sich durch die eigene Bewegung definiert, als ein spill over effect, dessen Herz im funktionalistischen Auseinandernehmen der Entscheidungszentren liegt – in dieser Mechanik spielen die NGOs eine zentrale Rolle, da ihre Rechtsform ihnen ermöglicht, überall aktiv zu sein, ohne beschuldigt werden zu können, die nationale Souveränität eines Landes zu verletzen. Obwohl diese funktionalistische Methode im gewöhnlichen Zeiten unendlich angewandt werden kann (was übrigens ihre Daseinsberechtigung ist), wird sie bitter unwirksam, sobald sich die Frage des Unvorhersehbaren und der Entscheidungsreaktion stellt. Es ist nicht aus Mangel an Solidarität ihrer Mitgliedstaaten oder aus einem etwaigen Mangel an Willen, dass die Europäische Union derzeit abwesend ist, sondern, weil ihre Natur sie eben dazu zwingt. In unvorhersehbaren Zeiten ist und kann sie einfach nichts.

Indem sie seit einigen Jahren offen und vollkommen Partei für das „europäische Projekt“ genommen hat, und zwar manchmal mit einem Schwung und einem Eifer, die sogar der diskrete und methodische amerikanische Einflußagent Jean Monnet abgelehnt hätte, beweist die ungarische Opposition in Wirklichkeit eine großartige intellektuelle Kohärenz, indem sie sich dem entgegensetzt, was die von der Regierung ausgerufene Gefahrensituation ermöglicht. Ohne es übrigens zu verstehen, ist es diesmal nicht bloß gegen die Person Viktor Orbán, dass sie kämpft, sondern als logische Folge und in breiterem Sinne gegen das Prinzip der politischen Entscheidung, das einzige Werkzeug, das im Falle einer unvorhergesehenen Krise eine Reaktion garantieren kann.

Die gegenwärtige ungarische „Gefahrensituation“ zeigt also genau, welche Haltung die ungarische Opposition im Falle einer etwaigen Rückkehr an die Macht 2022 einnehmen würde. Manche werden in dieser letzten Bemerkung zuviel Naivität gesehen haben, da die heutige Opposition sich vor allem durch ihre Ungarnfeindlichkeit auszeichnet und es daher unnütz sei, deren Antrieb zu verstehen. Warum nicht, doch ist es noch zu leidenschaftlich. Das Problem liegt nicht darin, was die derzeitige Opposition gegen die im Falle Ungarns schon stark eingeschränkte Souveränität bewerkstelligen kann – auch wenn diese Souveränität in den letzten Tagen wieder an Bedeutung gewinnt –, sondern in der Überzeugung dieser Opposition, dass es die nationale Souveränität – einen in jedem Rechtsstaat verfassungsrechtlich verbrieften Begriff – ganz einfach nicht gebe. Die einzig gültige Frage ist also die folgende: wenn es die nationale Souveränität nicht gibt, wodurch und insbesondere durch wen wird sie dann ersetzt?

Und da bringt die von Julien Freund formulierte Antwort – der die Lehre Carl Schmitts in Frankreich einführte – Raymond Aaron gegenüber einen durchaus zum Nachdenken: „Sie sind es nicht, der Ihren Feind bestimmt, sondern er ist es, der Sie bestimmt.“

 

Erstveröffentlicht bei der Visegrad Post - Foto: Viktor Orban und Binjamin Netanyahu - beiden Ministerpräsidenten wird von den linken FakeNews-Medien unterstellt, in ihren jeweiligen Ländern eine "Corona-Diktatur" erreichten zu wollen.


Autor: Redaktion
Bild Quelle: GPO/ Kobi Gideon


Sonntag, 05 April 2020