Liebe Vergangenheitsbewältiger

Liebe Vergangenheitsbewältiger


In seiner Rede vom 17. Januar 2017 kritisierte Björn Höcke im Dresdner Ballhaus Watzke die deutsche Erinnerungskultur in einer durch und durch widerlichen Rede im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Dresdner Gespräche“ organisiert vom Jugendverband der Alternative für Deutschland.

Liebe Vergangenheitsbewältiger

von Gerd Buurmann

 

Nach der Rede fragt man sich, ob man die deutsche Erinnerungskultur kritisieren kann, ohne dabei ein Nazi sein. Die Antwort ist: Ja, kann man! Björn Höcke kann das nicht, weil er, wie soll ich sagen, ein lebendes Mahnmal deutscher Schande ist, wie er am 17. Januar 2017 nachdrücklich bewiesen hat; aber in meiner Rede vom 9. November 2014 im Rahmen einer Gedenkstunde im Foyer des Dortmunder Opernhaus‘ zur Pogromnacht 1939 erklärte ich im Auftrag der Jüdischen Gemeinde Dortmund, dass es ein Problem in der Art und Weise des deutschen Gedenkens gibt.

 

Tapfer im Nirgendwo veröffentlicht daher erneut die Rede aus dem Jahr 2014.

 

Meine Rede im Rahmen der Gedenkstunde am 9. November 2014 im Foyer des Dortmunder Opernhaus‘ zur Pogromnacht.

 

Ich habe in meiner Schulzeit jeden 9. November mit dem Schulchor vor dem Gedenkstein in meinem Heimatdorf gesungen, der an die Synagoge erinnert, die 1938 von den Nazis niedergebrannt wurde. Ich habe Klassenfahrten nach Dachau und Theresienstadt gemacht, habe mit Oma und Opa über die Zeit des Nationalsozialismus’ gesprochen und “Schindlers Liste” im Leistungskurs Geschichte geschaut. Ich bin, was man einen Vergangenheitsbewätiger nennen kann.

 

Wir haben uns mit unserer Vergangenheit auseinander gesetzt. Jedes Jahr ein bisschen mehr. Heute sitzen wir hier und ganz weit von uns, schön weit weg, irgendwo die böse, dunkele Vergangenheit. Aber ist die Vergangenheit wirklich so weit weg? In den letzten Wochen und Monaten wurden diese Parolen auf deutschen Straßen skandiert:

 

„Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein“, „Hamas, Hamas, Juden ins Gas!“, und immer wieder „Kindermörder Israel“. Die letzte Parole erschallte in Frankfurt sogar aus einem Lautsprecher auf einem Polizeiauto und in Hagen aus einem Megaphon, das die Polizei den Skandierenden geliehen hatte. Im Jahr 2014 unterstützen Deutsche Polizisten Demonstranten logistisch, die Israel als Kindermörder dämonisierten.

Heute ist der 9. November 2014. Vor 76 Jahren entlud sich in der Nacht zum 10. November der blanke Hass auf deutschen Straßen. Hören Sie sich mal diese Worte an:

 

“Juden sind fremdartige Bakterien, sie sind Mikroben ohne Beispiel auf dieser Welt. Möge Gott das schmutzige Volk der Juden vernichten, denn sie haben keine Religion und kein Gewissen! Ich verurteile jeden, der glaubt, eine normale Beziehung mit Juden sei möglich, jeden, der sich mit Juden zusammensetzt, jeden, der glaubt, Juden seien Menschen! Juden sind keine Menschen, sie sind kein Volk. Sie haben keine Religion, kein Gewissen, keine moralischen Werte!“

 

Was klingt wie eine Rede von Joseph Göbbels ist in Wirklichkeit viel jünger. Sie wurde am 28. Februar 2010 auf Al-Aqsa TV von einem Minister der Hamas gehalten. Die Hamas wurde in Gaza zur stärksten Partei gewählt und fordert laut Artikel 7 der eigenen Gründungscharta die Vernichtung aller Juden weltweit. All das passiert heute. Wir aber sitzen hier und bewältigen Vergangenheit. Gegenwärtige Probleme werden in Deutschland erst in der Zukunft als Vergangenheit bewältigt!

 

In Deutschland findet Judentum fast nur noch in Gedenkstunden statt. In Schulen taucht das Judentum deutlich öfter im Geschichtsunterricht auf, als im Philosophie-, Ethik-, Religions- oder Gesellschaftskundeunterricht. Juden, das sind für viele Deutsche die Opfer von damals, nicht die Lebenden von heute.

 

Ich bin von Beruf Schauspieler und Theaterautor. Wenn ich in New York bin und dort sage: „Heute gehen wir in ein jüdischen Stück“, dann sehe ich freudige Augen. Jüdisches Theater, das steht in Amerika für spritzige Dialoge, humorvoller Tiefgang, für Woddy Alan und Neil Simon. Wenn aber in Deutschland sage: „Heute gehen wir in ein jüdisches Theaterstück“, dann sehe ich in deprimierte Gesichter. In Deutschland steht jüdisches Theater für Auschwitz, Holocaust und Anne Frank. In Deutschland sind Juden die Toten von damals.

 

Das größte Denkmal für Juden in Deutschland ist das Holocaust Mahnmal. Altkanzler Gerhard Schröder sagte einst dazu, es sei ein Ort, „wo man gerne hingeht“. Der Historiker Eberhard Jäckel brachte es sogar fertig, zu sagen: „Es gibt Länder in Europa, die uns um dieses Denkmal beneiden.“

 

Deutschland ist stolz auf seine Vergangenheitsbewältigung, die es ohne die Vergangenheit natürlich nicht gäbe. Bei dem ganzen Stolz haben jedoch viele die Gegenwart vergessen, die lebenden Juden von heute.

Auf deutschen Straßen wird wieder gegen Juden gehetzt, Synagogen werden attackiert. In Offenbach ist erst vor ein paar Tagen ein Schulsprecher zurückgetreten, da er als Jude wiederholt von muslimischen Schülern attackiert wurde. In Belgien und Frankreich wurden in den letzten Jahren sogar Juden gefoltert und ermordet, weil sie Juden waren, zum Beispiel in Toulouse und Brüssel.

 

Seit über 60 Jahren sieht sich das kleine demokratische Land Israel von Feinden umzingelt, die einen Krieg führen, an dessen Ende die Radikalen von der Hamas die Vernichtung aller Juden fordern, während die sogenannten Gemäßigten von der Fatah nur die Vernichtung des Staates Israels in Aussicht stellen. Seit Jahrzehnten muss sich Israel gegen seine Vernichtung verteidigen. Und was macht die deutsche Mehrheitsgesellschaft? Sie kritisiert Israel!

 

Natürlich macht Israel Fehler. Israel befindet sich im Krieg. Im Krieg machen alle Fehler! Aber Israel will diesen Krieg nicht! Israel will von Freunden umgeben sein, nicht von Feinden. Israel zu kritisieren, weil das Land die Absichtserklärung der Feinde, alle Juden zu vernichten, ernst nimmt, ist so geschmacklos, wie die revoltierenden Juden im Warschauer Ghetto zu kritisieren, weil sie sich gewehrt haben und dabei töten mussten.

 

Jetzt ist es mir auch passiert. Ich stecke schon wieder in der Vergangenheit.

 

Liebe Vergangenheitsbewältiger,

 

hier stehe ich, Euer Sohn. Was ich Euch sage, mag Euch vielleicht ein bisschen überraschen, aber aus dem Holocaust gibt es nichts zu lernen! Nichts! Was soll uns denn der Holocaust gelehrt haben? Dass man Menschen nicht millionenfach vergast? Dass Juden auch Menschen sind? Dass man lieb zueinander sein sollte? Dass man sich wehren darf, wenn man verfolgt wird? Dass man Menschen, die andere Menschen vergasen, den Krieg erklärt? Dass man wahnsinnige Menschen mit allen Mitteln entwaffnet? All das sollte man auch ohne Holocaust wissen! Der Holocaust ist keine Nachhilfe für moralisch Sitzengebliebene, sondern schlicht ein unvergessbares und unverzeihliches Verbrechen, aus dem es nichts zu lernen gibt!

 

Nicht wenige wollen jedoch unbedingt etwas aus dem Holocaust lernen. Zu irgend etwas muss Auschwitz ja gut gewesen sein. Und sie haben aus der Vergangenheit gelernt. Sie haben gelernt, jetzt Israel zu kritisieren und zwar mit letzter Tinte. Darauf sind sie stolz und das wird man ja wohl noch mal sagen dürfen.

 

Heute ist der 9. November 2014. Heute werden Juden in Deutschland beleidigt, geschlagen und angegriffen. Im Nahen Osten wirken Menschen, beseelt von dem Wunsch nach einem neuen Holocaust! Das ist die Gegenwart! Aber die Gegenwart von heute wird die Vergangenheit von morgen sein. Anstatt ständig Kränze für tote Juden abzuwerfen, während die lebendigen Juden vor allem in Israel kritisiert werden, weil sie sich nicht einfach so abschlachten lassen wollen, sollten wir den lebendigen Juden etwas mehr Solidarität zeigen. Vielleicht sparen wir uns in den nächsten Jahren einfach mal ein paar Kränze für tote Juden und laden dafür öfter lebendige ein. Juden lieben das Leben. Sie stoßen sogar darauf an: Lechaim!

 

Letztes Jahr, am 9. November 2013, hielt Edna Brocke an dieser Stelle eine Rede, die heute, ein Jahr später, als prophetisch bezeichnet werden kann. Sie sagte:

 

„Im Allgemeinen, werden wir auf die Gefahren „von Rechts“ hingewiesen. Ja, die gibt es. Sie sind offenbar und plump. Aber diese sind eben nicht die einzigen Gefahren. Erheblich gefährlicher für uns Juden in Europa, oder in dem was wir noch als „den Westen“ bezeichnen können, sind die hochgradigen Emotionen vieler linker Kreise, die eben subtil und nicht so plump wie die Rechten agieren, sowie jenen aus der islamischen Welt, die über die digitalen Medien den von uns für überwunden geglaubten alten christlichen Antisemitismus, nach ganz Europa zurück importierten.“

 

Liebe Vergangenheitsbewältiger,

 

ich habe eine Bitte an Euch: Gebt unseren Kindern und Enkeln keine Zukunft, in der sie unsere Gegenwart als Vergangenheit bewältigen müssen.

 

Vielen Dank!

 

 

 

Tapfer im Nirgendwo 


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Donnerstag, 19 Januar 2017