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Offener Brief an den Generalbundesanwalt zum Attentat von Hanau

Offener Brief an den Generalbundesanwalt zum Attentat von Hanau


Erstveröffentlicht bei unserer Kollegen von der Achse des Guten - Fragen, die einer dringenden Beantwortung bedürfen.

Offener Brief an den Generalbundesanwalt zum Attentat von Hanau

Sehr geehrter Herr Generalbundesanwalt, sehr geehrter Herr Dr. Frank,

neben den medialen und politischen Reaktionen auf das Attentat von Hanau waren es leider vor allem auch Ihre Einlassungen, die mich als Bürger, aber auch als psychiatrischer Praktiker und Wissenschaftler in tiefe Sorge versetzt haben. Ich sehe nämlich die Gefahr, dass eine bedeutsame zivilisatorische Errungenschaft großen Schaden nehmen könnte: Der § 20 StGB, der bekanntlich die Frage der Schuldunfähigkeit definiert.

Erlauben Sie mir, auch wenn Ihnen der Inhalt natürlich geläufig ist, diesen Paragraphen kurz zu zitieren: „Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, (…) unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.“ Dazu erlauben Sie mir bitte einige Fragen.

1. In ihrer Stellungnahme vom 20.02.2020 zu den Vorfällen in Hanau heißt es u.a.: „Es liegen gravierende Indizien für einen rassistischen Hintergrund der Tat vor.“ Finden Sie nicht auch, dass sich aus dem vom Täter verfassten umfangreichen Manifest vielmehr ganz vorrangig Indizien für eine (schwere) krankhafte seelische Störung ergeben? 

. Haben Sie bzw. Ihre Behörde vor der oben zitierten Stellungnahme bei der Analyse des Manifests fachpsychiatrische Kompetenz hinzugezogen?

3. Nach meiner fachpsychiatrischen Analyse des Täter-Manifests, die zweifellos – um es zurückhaltend zu formulieren – in den wesentlichen Zügen und Schlussfolgerungen von der großen Mehrheit des Faches geteilt werden würde, hat beim Täter ein psychiatrisches Syndrom aus einem schweren paranoiden Wahn mit zusätzlichen (wahnhaften) Größenideen, zumindest zeitweiligen akustischen Halluzinationen, sogenannten Ich-Störungen in Gestalt von Gedankenausbreitung, Gedankenentzug und Gedankeneingebung vorgelegen sowie eine Denkstörung in Form einer Denkzerfahrenheit. Sehen Sie oder ihre Behörde das ähnlich? Und falls nicht, warum nicht?

4. Gehen Sie oder ihre Behörde ebenfalls davon aus, dass der Täter zur Tatzeit mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit an einer paranoiden Schizophrenie erkrankt war?

5. Gehen Sie ebenfalls davon aus, dass, wäre der Täter noch am Leben, das Gericht deswegen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auf Schuldunfähigkeit wegen einer schweren krankhaften seelischen Störung entscheiden würde?

6. Jetzt kommt eine ganz wichtige Frage: Ist Ihnen bekannt, dass aus einem Schriftstück, welches in einem psychischen Zustand wie oben geschildert verfasst wurde, das also durchgehend (u.a.) wahnhaft geprägt ist, so gut wie keinerlei Rückschlüsse auf die „eigentliche“, also nicht krankheitsbelastete oder krankheitsgeprägte Persönlichkeit, auf politische Einstellungen und Motive möglich sind? Um es noch einmal zu betonen: weil in diesem Manifest auch potenziell rassistische Äußerungen – bis zum Beweis des Gegenteils (s. Punkt 6) – entscheidend oder gar ausschließlich durch das wahnhafte Erleben bestimmt sind. 

6. Vielleicht wies der Täter in gesunden Tagen tatsächlich eine fremdenfeindliche oder rassistische Gesinnung auf. Aber ist Ihnen bekannt, dass man valide Informationen über die „prämorbide“ Persönlichkeit des Täters, seine politischen Einstellungen und Motive allenfalls retrospektiv gewinnen kann durch eine umfassende biographische Ermittlung – also v.a. durch die Vernehmung von Zeugen, ergänzt durch die Analyse von Zeugnissen, medizinischen Behandlungsunterlagen etc.

7. Würden Sie auch die folgende Täterin als rassistisch oder fremdenfeindlich motiviert einschätzen? Eine 35-jährige Mutter von drei noch nicht schulpflichtigen Kindern erkrankt nach der Geburt des dritten Kindes an einer paranoiden Schizophrenie. Sie entwickelt dabei den Wahn, dass Muslime aus einer in der Nähe gelegenen Moschee ihre über alles geliebten Kinder entführen, foltern und bei lebendigem Leibe verbrennen wollen. Um ihnen das zu ersparen, erstickt sie alle drei Kinder. Falls Sie diese Täterin grundlegend anders beurteilen als den Hanau-Täter, warum?

8. Wie t-online.de am 21.02.2020 meldete, lag ihrer Behörde bereits im November 2019 eine offenbar nur leicht gekürzte Version des späteren Täter-Manifests vor. Warum hat ihre Behörde damals nicht den zuständigen Sozialpsychiatrischen Dienst des Gesundheitsamts informiert, etwa mit der Bitte, zu prüfen, ob der Verfasser bereits aktenkundig ist und ob der Dienst die Notwendigkeit für eine Einbestellung oder einen (angemeldeten) Hausbesuch sieht? Und, ob die Person vielleicht gar einen Waffenschein besitzt. 

9. Aus Presseverlautbarungen  geht hervor, dass bei der etwas kürzeren Version des Täter-Manifests, welches Ihrer Behörde bereits im vergangenen November vorlag, der auf eine vermeintlich rassistische Motivation weisende Teil angeblich nicht enthalten war. Deshalb sei ihre Behörde damals nicht tätig geworden. Damit nicht der Eindruck entsteht, es handele sich hier vorrangig um eine Schutzbehauptung, wäre es hilfreich, zu erfahren, welcher Teil des Manifestes Ihnen damals genau vorgelegen hat. 

Abschließend, sehr geehrter Herr Dr. Frank, erlauben Sie mir die Anmerkung, dass sicherlich auch Ihnen ja nicht entgangen sein dürfte, wie schwer es Medien und Politik derzeit fällt, bei einer solchen Tat wie der in Hanau, dem Schuldunfähigkeitsprinzip bzw. dem Schutz der darunter fallenden psychisch kranken Täter angemessen Rechnung zu tragen. Ich jedenfalls würde mich freuen, wenn Sie künftig auch dieses Prinzip etwas offensiver vertreten und verteidigen würden. 

Mit freundlichen Grüßen

Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. W. Meins


Autor: Redaktion
Bild Quelle: Holger Uwe Schmitt / CC BY-SA (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)


Samstag, 22 Februar 2020