Allein mit der Schwiegermutter

Allein mit der Schwiegermutter


Sie haben Corona satt? Ihr Fernseher schaltet automatisch ab, wenn Peter Altmaier ins Bild kommt?

Allein mit der Schwiegermutter

Von Henryk M. Broder

Sie wundern sich, warum angeblich 97 Prozent aller Wissenschaftler der Meinung sind, der Klimawandel sei menschengemacht, aber vier oder fünf Virologen sich nicht einigen können, wie gefährich das Corona-Virus ist? Sie können es sich nicht erklären, warum in jedem Bundesland andere Regelungen gelten, die sich sogar widersprechen? Haben Sie schon mal daran gedacht, dass wir alle nur Statisten in einer Neuverfilmung der Truman Show sein könnten? Wird es Ihnen auch kotzübel, wenn sie einen katholischen Würdenträger sagen hören, Corona könnte sich als ein Glücksfall der Geschichte erweisen?

Macht nichts, Sie sind nicht allein, so geht es auch vielen anderen Menschen, die zwischen den Tagesthemen und dem heute-journal hin und her zappen. Also hören Sie auf zu zappen und greifen Sie lieber zu einem Buch, einem guten Buch natürlich. 

Tuvia Tenenbom, 1957 in Tel Aviv geboren, war schon „Allein unter Deutschen“, „Allein unter Juden“, „Allein unter Amerikanern“ und „Allein unter Flüchtlingen“. Ich hoffte, er würde die Reihe mit „Allein unter Isländern“ fortsetzen, aber es kam anders. Zuletzt war er "Allein unter Briten", und was „eine Entreckungsreise“ werden sollte, geriet ihm im Laufe der Recherche zu einem Psychogramm der britischen Gesellschaft kurz vor dem Brexit. 

Tenenbom ist der Egon Erwin Kisch unserer Tage. Dort, wo er gerade ist, da lauert auch eine Geschichte. Manche seiner Orts- und Menschenbilder lesen sich wie erfunden, aber je unglaublicher sie anmuten, umso wahrer sind sie. Die runde Brille, die Tenenbom trägt, lässt ihn tief in die Seelen blicken, wo das „Es“ zum Vorschein kommt.

Am Ende seines Buches dankt Tenenbom „aus ganzem Herzen“ seiner „Traumschwiegermutter“, die ihn „immer und ewig verwöhnt und umsorgt“. Sein nächstes Buch könnte „Allein mit der Schwiegermutter“ heißen.

Christian Y. Schmidt, 1956 in der fiktiven Ostwestfalen-Metropole Biefeld geboren, kommt aus dem Titanic-Stall und lebt seit 17 Jahren in Asien, zuerst in Singapur, später in Peking. Er hat ein knappes Dutzend Bücher geschrieben, darunter eine kritische Joschka-Fischer-Biografie („Wir sind die Wahnsinnigen: Joschka Fischer und seine Frankfurter Gang") und eines mit dem Titel Allein unter 1,3 Milliarden, das Tagebuch einer Reise von Shanghai bis Katmandu. Möglich, dass es Tenenbom zu seiner „Allein-unter...“-Serie inspiriert hat.

Schmidts neues Buch, ein Joint Venture mit der Illustratorin Ulrike Haseloff, trägt einen Titel, der wie eine Ouvertüre zur Corona-Pandemie klingt: „Der kleine Herr Tod". Es könnte auch eine Anspielung auf den „kleinen Prinzen“ von Saint-Exupéry sein oder den „kleinen Maulwurf“, eine international erfolgreiche tschechische Zeichentrickserie. Das Buch sei „ein Gesamtkunstwerk“, urteilte ein Rezensent, „eine flotte und zugleich nachdenkliche Erzählung voller verrückter Einfälle“. Schwer zu sagen, worum es in dieser Erzählung eigentlich geht, wahre Lügen oder erfundene Wahrheiten. Ist auch egal. Man wird beim Lesen mitgezogen und ist nach der Lektüre gut gelaunt. Das ist, vermute ich, der Sinn von Literatur. 

Rainer Haubrich, 1965 in Mülheim/Ruhr geboren und in Brüssel aufgewachsen, arbeitet seit über 20 Jahren für DIE WELT und ist für alles zuständig, was mit Architektur, Städtebau und Städteplanung zu tun hat. Eines seiner Bücher behandelt Karl Friedrich Schinkels „Bauten in Berlin und Potsdam“, ein anderes die „Gesichter des alten Rom - 1000 Jahre Geschichte in 50 Köpfen“. Insgesamt sind es acht Bücher, das letzte ist Ende 2019 erschienen: Das Scheunenviertel - Kleine Architekturgeschichte der letzten Altstadt von Berlin. 

Auch wenn Sie alle Berliner Attraktionen kennen, vom Verein Berliner Unterwelten e.V. über die Tiergartenquelle am gleichnamigen S-Bahnhof bis zu Zilles Stubentheater in der Altstadt von Köpenick, bleibt die Frage, ob Sie wissen, woher das „Scheunenviertel“ seinen Namen hat, die Gegend zwischen dem Rosa-Luxemburg-Platz und dem Hackeschen Markt, „der älteste noch intakte Stadtteil Berlins“. Oder: intakter als er es je war, obwohl an der Stelle, wo einst die "Mulackritze" zum Verweilen einlud, heute ein Neubau steht. Das Viertel wurde generalsaniert, Haubrich zeigt, wie es einmal war, ohne dabei in Nostalgie zu verfallen.

Und schließlich eine kurze Empfehlung für ein epochales Werk, das vor über 150 Jahren geschrieben wurde, etwa zu der Zeit, als die erste deutsche Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche tagte - und scheiterte. Derweil saß Henry David Thoreau in einer Blockhütte am Waldon Pond bei Concord in Massachusetts und dachte über einen Essay zum Thema „Civil Disobedience“ nach, die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat. 

 

Erstveröffentlicht bei der Achse des Guten - Zweitveröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors.


Autor: Henryk M. Broder:
Bild Quelle: Peter Meierhofer


Sonntag, 03 Mai 2020