Kein Problem mit der Situation

Kein Problem mit der Situation


Und plötzlich wünschen sich alle die Entschleunigung, weg von der Hektik des Alltags, hin zu einem entschleunigten Leben ohne Aktions- und Konsumzwang.

Kein Problem mit der Situation

Von Henryk M. Broder

Corona, so kann man es derzeit überall hören und lesen, habe auch gute Seiten, Familien würden wieder zusammenrücken – manche sogar zu viert oder fünft auf 60 Quadratmetern – die Leute würden sich gegenseitig helfen und Rücksicht aufeinander nehmen, die Jungen um die Alten kümmern und die Satten den Hungrigen beistehen. „Not macht erfinderisch“, ist die Losung des Tages.

Deswegen schneiden sich jetzt viele die Haare selbst, und wenn es sich um „Promis“ wie Carmen und Robert Geiss handelt, dann ist auch das Fernsehen dabei. Ein Gastronom, der sein Lokal wegen der Corona-Regeln schließen musste, sagt: „Bei all dem schlechten, das gerade über uns hereinbricht, finde ich es herrlich, was daraus entstehen kann.“ Zuletzt habe er sich gemeinsam mit seiner Partnerin auf der Couch ein Konzert „per Internetstream angesehen“.

Ein Tennisprofi, der derzeit nicht spielen kann, sagt, er habe „kein „Problem mit der Situation“. Und „irgendwie genieße“ er „die Zeit jetzt auch, weil man ja weiß, dass man nichts verpasst“.

Nun kann ich mich, anders als etliche meiner Zeitgenossen, noch gut an die Zeit vor Corona erinnern, als man die Wahl hatte, in einem Café Zeitung zu lesen oder in einem Supermarkt einzukaufen, ohne auf Abstandsregeln achten zu müssen. Das ist erst paar Wochen her, aber viele haben es schon vergessen und singen das Hohelied auf eine „neue Normalität“, die „kreative Kräfte“ freisetzen würde.

Ich kann mich auch an ein Buch erinnern, das vor 20 Jahren in einem deutschen Verlag erschienen ist: „Kochrezepte aus dem Konzentrationslager Ravensbrück“, voller Ideen für einen kreativen Umgang mit Kartoffelschalen und anderem Abfall. Wer wollte, konnte schon immer „entschleunigt“ leben, niemand wurde gezwungen, übers Wochenende nach Saigon zu fliegen oder eine Kreuzfahrt in der Karibik zu buchen. Bornholm war auch ok. Man musste nicht in Lokalen tafeln, in denen ein „feines Prosecco-Süppchen“ auf der Speisekarte stand.

Die Freunde der „Entschleunigung“ sollen meinetwegen Brot essen, wenn der Kuchen alle ist. Ich bleibe bei der Esterhazy-Torte.

 

Zuerst erschienen in der Zürcher Wetwoche und der Achse des Guten - Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.


Autor: Henryk M. Broder:
Bild Quelle: AFGE / CC BY (https://creativecommons.org/licenses/by/2.0)


Dienstag, 05 Mai 2020