Judenverfolgung: „Graubereich“ MDR

Judenverfolgung: „Graubereich“ MDR


... meistens reichte schon der Name

Judenverfolgung: „Graubereich“ MDR

Die Redewendung von drei Affen, die nichts sehen, nichts hören und nichts sagen, ist allseits bekannt. Sie stammt aus Japan und bedeutet: Über Schlechtes hinwegsehen. Der häufige Gebrauch in Europa hat die Bedeutung leicht verändert: Schlechtes nicht wahrhaben wollen. So gilt die Erzählung über die Affen als Beispiel für mangelnde Zivilcourage.

An die drei Affen, die nichts hören, sehen und sagen, dachte der Journalist Hans Werner Conen, als er im Oktober einen Fragenkatalog online an den Mitteldeutschen Rundfunk schickte, die Anstalt der Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Conen wunderte sich, dass der MDR nicht auf eine Internetseite des Deutschen Journalisten Verbandes Berlin Brandenburg von Mitte September reagierte. Der DJV-BB hatte den Beitrag des deutsch-jüdischen Magazins "HaOlam" ins Netz gestellt: "Antisemitismus im öffentlich-rechtlichen Fernsehen".

"HaOlam" nahm den Anschlag auf die Synagoge in Halle/Saale am 9. Oktober 2019, der zwei Tote forderte, zum Anlass, zu prüfen, wie deutsche Medien zum Antisemitismus stehen. Wäre der Anschlag in Halle vermeidbar gewesen, wenn über jüdisches Leben in Sachsen-Anhalt offen diskutiert wird. Einen Hinweis gab der Antisemitismus-Beauftragte der Landesregierung Wolfgang Schneiß, der wenige Tage nach dem Anschlag in Halle sagte, Antisemitismus befinde sich in Sachsen-Anhalt in einem "großen Graubereich". Der "Graubereich" lässt sich in allen neuen Bundesländern finden. Denn zu DDR-Zeiten gab es weder eine Aufarbeitung des Holocaust noch der Judenverfolgung. Nach der herrschenden DDR-Lehre war der Faschismus "mit Stumpf und Stiel" ausgerottet. So fragte der oder die 15-jährige natürlich nie den Großvater, ob er auch bei den Nazis war.

Die Redakteure suchten erst in der Mediathek des MDR unter den Stichworten "Juden in Sachsen-Anhalt" und "Jüdisches Leben in Sachsen-Anhalt" und hatten Erfolg. Beim genauen Hinsehen merkten sie, dass die angebotenen Fundstücke erst nach dem Anschlag in Halle produziert und gesendet wurden. Für frühere Beiträge meldete die Mediathek stets "Keine Treffer". Sollte der am 1. Januar 1992 gegründete MDR bis zum Oktober 2019, also in 28 Jahren, nicht ein einziges Mal über Juden und jüdisches Leben in Sachsen-Anhalt berichtet haben? Kaum zu glauben, aber auch nicht ganz wahr. In der MDR-Aufbauphase gab es zwei Sendungen zu diesem Thema. So führte der Magdeburger Funkhausdirektor Ralf Reck ein Gespräch mit Ignatz Bubis, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland. Über die Vorgeschichte informierte "Die Welt" mit der Nachricht auf Seite 1: "Rundfunksender lud Bubis aus - MDR brüskiert Sprecher der deutschen Juden". "Ausgerechnet am 9. November 1992 (dem Tag, an dem die Nazis 1938 ein Judenpogrom organisierten) habe der MDR mit seinen hunderttausenden Gebührenzahlern Bubis die rote Karte gezeigt." Dabei hatte es zuvor in west- wie ostdeutschen Städten antisemitische und ausländerfeindliche Vorfälle gegeben. Der "Welt" sagte Bubis: "Ich hatte bereits mündlich zugesagt".

Eingeladen hatte Bubis damals der Bereichsleiter Fernsehen beim MDR in Magdeburg Bernd Träger. Reck schrieb an Träger "Bubis hat doch nichts mit Sachsen-Anhalt zu tun!" und zog die Einladung zurück. Als Reck merkte, was er für einen Bock geschossen hatte, lud er Bubis wieder ein und interviewte ihn. Nach dem Interview mit Bubis traute sich Träger den Generalkonsul Israels in Berlin Mordechay Lewy für den MDR einzuladen. Ein Grund für seine spätere Entlassung: Er habe Lewy eingeladen, ohne Reck zu fragen.

Die "Frankfurter Rundschau" und die "taz" berichteten bald nach der Einheit über das gestörte Verhältnis des MDR zu jüdischen Mitbürgern und Organisationen. In einer 25 Seiten starken Vorlage für den MDR-Verwaltungsrat zur Entlassung Trägers ständen das von ihm eingefädelte und schließlich von Ralf Reck geführte Bubis-Interview und das von Träger mit Lewy geführte Interview "in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit Sachsen-Anhalt".

Der "taz"-Korrespondent für Sachsen-Anhalt Eberhard Löblich wies Ende 1994 auf das seltsame Verhalten des MDR Magdeburg so hin: "Zuviel Jüdisches" mit der Unterzeile "Latenter Antisemitismus im MDR-Funkhaus". Löblich schreibt über Heiner Tognino, einen Reck-Vertrauten aus Hamburg und, was das Judentum anging, auf dessen Linie. Er soll einen Journalisten beauftragt haben, in Magdeburg zu recherchieren, ob und wo von jüdischer Seite womöglich unberechtigte Ansprüche geltend gemacht werden. Aus einer Ressortleiter-Sitzung hatte Löblich erfahren, dass der Leiter Aktuell/ Landespolitik Heiner Tognino die Zahl der Sendungen zum Thema Israel "möglicherweise zu oft im Programm" empfinde. Später habe jener von einer "Massierung" solcher Themen gesprochen, die es zu begrenzen gelte.

Die freie Mitarbeiterin Bärbel Jacob, Judaica-Spezialistin im MDR, hat "immer wieder erleben müssen", dass Heiner Tognino ihr Themen zu jüdischen Fragen "aus dem Programm kegelte" und sie ihr schließlich ganz untersagte. Als sie dagegen klagte, feuerte sie der MDR fristlos. Ähnlich erging es der Moderatorin Christel Cohn-Vossen, die in einem fadenscheinigen Prozess vor dem Arbeitsgericht Leipzg nicht ihren Platz im MDR halten konnte. Kollegen mutmaßen, der eigentliche Grund sei ihr Name "Cohn"; sie war mit dem Dokumentarfilmer Richard Cohn-Vossen verheiratet.

Auch MDR-Direktor Ralf Reck musste wenig später gehen als außergewöhnlich hoch bezahlter "Sonderkorrespondent für Osteuropa". Laut Urteil der Pressekammer des Landgerichts Berlin hatte Reck der Firma seiner Lebensgefährtin und späteren Frau "reichlich" Fernsehaufträge zugeschoben, für fast eine halbe Million DM. Das Berliner Gericht sprach gar von "Filz und Vetternwirtschaft" im MDR, weil die Firma elb-tv "ihre Geschäftsräume in den Räumen" des MDR hatte und Reck die Auftragsvergabe persönlich in die Hand genommen habe. Sarkastischer Kommentar des Gerichts: "einer unabhängigen und unvoreingenommen Auftragsvergabe dürfte das nicht förderlich gewesen sein." (AZ: 27 O. 336/96 LG Berlin)

Heiner Tognino wurde leitender Redakteur und Nachfolger Trägers als Fernsehchef in Magdeburg und ist es immer noch.

All diese Bemerkungen las Journalist Hans Werner Conen auf der Internet-Seite des Journalistenverbandes. Er wunderte sich, dass der MDR gegen solche Vorwürfe nicht vorging. So schickte er dem MDR einen Fragen-Katalog. Die Antwort kam von MDR-Pressesprecherin Julia Krittian: "Die in Ihrer Anfrage enthaltene These vom Antisemitismus im MDR weisen wir entschieden zurück. Die Vielfalt der Gesellschaft und auch der Religionsgruppen in unseren Angeboten abzubilden, ist elementarer Teil unseres Programmauftrags. Jüdisches Leben in Mitteldeutschland wird regelmäßig im Fernsehen, Radio und online abgebildet." Krittian empfahl den Klick auf die MDR-Internetseite und in die MDR-Mediathek. Sie nennt MDR-Sendungen, die alle erst nach dem Anschlag in Halle ins Programm kamen. Conens Fragen konnte oder wollte der MDR gar nicht beantworten.

Da sind die drei Affen wieder, die nichts sehen, nichts hören und nichts sagen wollen. Es fehlt ihnen an Zivilcourage. Aber wo soll Zivilcourage auch herkommen, wenn Mitarbeiter sehen, wie Sendungen über jüdisches Leben im Lande aus dem Programm "gekegelt" werden und wegen solcher Versuche den Job verlieren. Das ist wohl der Grund, warum es laut Mediathek in 25 Jahren keinen einzigen Beitrag über jüdisches Leben im Lande gegeben hat. Sollte sich doch jemand getraut haben, eine Sendung zu machen, kam sie nicht in die Mediathek.

Eine Studie über Antisemitismus in Sachsen-Anhalt, veröffentlicht am 20. April 2020, zählt zwischen 2014 und 2018, also innerhalb fünf Jahren, allein in diesem Bundesland 334 antisemitische Vorfälle auf, von denen 270 die Polizei registrierte: Verbale oder schriftliche Anfeindungen, gezielte Sachbeschädigungen und körperliche Angriffe. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff kündigte daraufhin ein Aktionsprogramm gegen Antisemitismus an.

 

Peter A. Tüth # Foto: Landesfunkhaus des mdr in Magdeburg


Autor: Redaktion
Bild Quelle: Torsten Maue, CC BY 2.0 , via Wikimedia Commons


Dienstag, 12 Januar 2021