Die Desinfizierung von Auschwitz?

Die Desinfizierung von Auschwitz?


Eine Anfrage an die Publikation „Die Stimmen der Opfer“

Die Desinfizierung von Auschwitz?

Von Josef Hueber

Das Narrativ der Kollektivschuld der Deutschen am Holocaust ist nicht nur eine numerische Frage: Wie viele wussten davon? Es geht bei der Frage nach dem Mitwissen auch nicht um „alle“ oder „niemand“. Eine Neuerscheinung zur Beantwortung dieser Frage kann jedoch als eine Art Persilschein zur Entlastung des deutschen Gewissens gesehen werden. Jüdische Zeitzeugen äußern sich dazu mit einem überraschenden Ergebnis: Von einem flächendeckenden Antisemitismus in der Öffentlichkeit zur Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland kann nicht die Rede sein. Einer der aufgeführten Zeugen ist Ralph Giordano. In dieser Publikation von ihm nicht erfassten Zeugnisse stellen womöglich Zweifel in den Raum. https://t1p.de/aeos

Das Unfassbare lässt sich, schon von der Semantik des Wortes her, nicht fassen. Historisch Unfassbares, wie der Holocaust, mit den Vorstufen der Diffamierung, Diskriminierung und Lebendzerstörung von Jüdischem im Deutschland der 30er und 40er Jahre des letzten Jahrhunderts, steht dafür exemplarisch. Es nimmt nicht wunder, dass der Streit um die „Einmaligkeit“ der monströsen Ereignisse unter Hitlers Terrorregime immer noch Fragen aufwirft, deren Beantwortung vermutlich grundsätzlich nicht zum endgültigen Abschluss kommen kann. Die als relativierend interpretierte Perspektive auf den Holocaust durch den von Ernst Nolte ausgelösten „Historikerstreit“ und dessen Bezug auf das sowjetische Gulag-System wurde u.a. von Habermas als „Revisionismus“ einer „entmoralisierten Vergangenheit“ zur Ermöglichung eines neuen Nationalbewusstseins interpretiert. Der US-amerikanische Historiker Daniel Goldhagen löste mit seinem Bestseller „Hitlers willige Vollstrecker“ eine heftige Kontroverse aus, da er den Holocaust als „ logisches Endprodukt eines tief verwurzelten Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft“ nachzuweisen versuchte. https://t1p.de/bpht Einmütige wissenschaftliche Zustimmung erfuhr Goldhagen nicht. Die entscheidende Frage scheint sich einer Beantwortung zu entziehen: Gab es eine „Kollektivschuld“?

Der Widerspruch

Das Autorenteam Konrad Löw und Felix Dirsch legten nun ein Buch vor, das sich zwar nicht ausdrücklich als Gegenthese zu Goldhaben positioniert, dennoch so gelesen werden kann. Es trägt den Titel „Die Stimmen der Opfer“. Im Untertitel: „Ein Zitatelexikon deutschsprachiger jüdischer Zeitzeugen zum Thema Die Deutschen und Hitlers Judenpolitik“. 1.324 Zitate von 250 jüdischen Zeitzeugen sind aufgenommen. Josef Krauss formuliert in seiner Rezension https://t1p.de/xpsp als Ergebnis des Quellenstudiums der Autoren die These: „Die Mehrheit der Deutschen war nicht judenfeindlich“. Dies widerspreche damit den seit 1968 üblichen „Narrativen der Geschichtspolitik“ , dass „erstens alle Deutschen um die Judenvernichtung gewusst haben sollen, aber geschwiegen hätten; dass Hitler zweitens den millionenfachen Mord an Juden nicht hätte inszenieren können, wenn er mit seinem Judenhass und seinem Antisemitismus nicht die Mehrheit der Deutschen hinter sich gewusst hätte.“

Zweifel – der Zeitzeuge Ralph Giordano

Der für mich interessanteste Zeitzeuge, auch wegen persönlicher Kontakte, ist in diesem Zusammenhang Ralph Giordano. Die in der Zitatensammlung von Dirsch und Löw aufgeführten Aussagen Giordanos stehen in einem diskussionswürdigen Konstrast zu weiteren, nicht aufgeführten Zitaten, entnommen seinem umfangreichen schriftstellerischen Werk. Diese, hier vorgelegt, wollen lediglich e i n Beitrag zur Diskussion sein, ob die vertretene These von der nicht großflächig vorhandenen Judenfeindlichkeit einer Mehrheit der Deutschen aus Giordanos Sicht tatsächlich uneingeschränkt gilt. Ich zitiere ohne Kommentar. Die Brauchbarkeit und Beweiskraft der vorgelegten Zitate mag der Leser für sich entscheiden.

„Morris“ - das erste Werk Giordanos nach Kriegsende

Das schriftstellerische Debüt Giordanos bildete seine Novelle „ Morris. Geschichte einer Freundschaft“, verfasst kurz nach Kriegsende und 1948 veröffentlicht. Der Autor übernimmt die Rolle eines 15-jährigen, nicht-jüdischen Jungen, der am Morgen nach der Reichspogromnacht 1938 auf den jüdischen Ladenbesitzer namens Morris stößt, woraus eine innige Freundschaft den Anfang nimmt. Die Kunstfigur des Erzählers darf – wie das ganze Buch zeigt – als Persona des Autors gelten.

Während der morgendlichen Konfrontation des Jungen mit den Verwüstungen der vorausgehenden Nacht sagt ein „alter Mann“ auf der Straße zu ihm: „Das Jüngste Gericht ist hereingebrochen, ha,ha! Aber nicht über uns(...) sondern über die von Jehova Auserwählten, über die Juden!“ Im Geschäft von Morris schlägt ein Mann mit einem Hammer alles entzwei, was ihm in die Augen fällt. Auf die Frage des Erzählers „Warum machen Sie das?“ kommt die spontane Antwort: „Das kann ich hier alles zerschlagen, da sagt mir keiner was. Ist doch alles zusammengegaunert von diesen Juden.“

Der Erzähler hat keine Zweifel an der drohenden „Vernichtung von Menschen“, nachdem er „selbst die Masse gesehen hatte, die des Mordes und der Plünderung Zeuge gewesen war, ohne Widerstand zu leisten.“ Waren die bloßen Zuschauer schuldig? „Die vielen Feigen waren das Unglück. (…) Die Unentschlossenheit war fast schlimmer als Entschiedenheit im Bösen. Es war Meinungslosigkeit. (…) Also musste es überall Menschen, Deutsche, geben, die diese Greuel auszuüben bereit waren.(...) Hier standen mehr als fünfundsiebzig oder hundert Menschen, hier stand die Mehrheit eines ganzen Volkes.“

Die Erfahrungen in der Schule – Zitate aus „Zeitzeugen“

Die Autoren Löw und Dirsch zitieren Giordano auf S. 100: „Von Antisemitismus oder persönlicher Abneigung gegen uns war in dieser Frühzeit weder in der Schüler- noch in der Lehrerschaft etwas zu spüren. Die Stigmatisierung zu Nichtariern hatte also zunächst keine spürbaren Folgen.“

Die Erfahrungen in der Schule – Zitate aus „Erinnerungen eines Davongekommenen“

Giordano erzählt von der Erfahrung auf einem Sportfest im Jahr 1935, als er bei einem Wettlauf den zweiten Platz errang. Die Siegerehrung brachte die Überraschung:

„Dann die Ehrung, vor aller Augen und Ohren - doch ohne mich, denn nach dem ersten Namen wurde nicht der meine aufgerufen, sondern der des dritten Läufers, der eigentlich Bronze verdient gehabt hätte, nun aber Silber bekam, während der dritte Platz dem Schüler zugesprochen wurde, der das Ziel als vierter erreicht und dem nach den Regeln eigentlich gar keine Ehrung zustand. (…) Es war klar: Juden durften nicht mehr öffentlich ausgezeichnet werden.“

War die Mehrheit der Deutschen (doch) judenfeindlich?

Vielleicht ist es eine kühne Schlussfolgerung, zu behaupten, Ralph Giodarno hätte geantwortet: Ja!

In der Neuauflage seines bereits erwähnten Buches „Morris“ 1993 bezeichnet er das ungesühnte Gedeihen der nationalsozialistischen Übeltäter nach 1945 in Staat und Justiz als „Massenphänomen“,

als „zweite Schuld“, als Zeichen der „ Verdrängung der ersten unter Hitler“.

Die Frage an „Die Stimmen der Opfer“

Kann dies das Urteil eines Opfers sein, das sich als jüdischer „Zeitzeuge“ versteht, der der Meinung ist, die Mehrheit der Deutschen sei „nicht judenfeindlich“ gewesen?


Autor: Redaktion
Bild Quelle: Bundesarchiv, B 285 Bild-04413 / Stanislaw Mucha / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE , via Wikimedia Commons


Sonntag, 07 Februar 2021