Das Zeugnis für die 16 Jahre einer Kanzlerin

Das Zeugnis für die 16 Jahre einer Kanzlerin


24 renommierte Autoren ziehen eine Bilanz der Ära Merkel. Und diese Bilanz ist so niederschmetternd, dass einem unwillkürlich das Schmähwort von der „Abrissbirne aus der Uckermark“ einfällt.

Das Zeugnis für die 16 Jahre einer Kanzlerin

Von Claudio Casula

Vor vier Jahren ließ Philip Plickert, Wirtschaftsjournalist bei der FAZ und seit 2019 für die Zeitung aus London berichtend, 22 Autoren – Publizisten, Historiker, Juristen, Ökonomen, Politologen und Journalisten – aus dem liberalen und konservativen Milieu eine kritische Bilanz der Merkel-Jahre ziehen.

Seither ist die Schneise der Verwüstung, die Merkel schlug, nur noch breiter geworden. Herausgeber Plickert selbst bringt es auf den Punkt:

„Lässt man die 16 Merkel-Jahre Revue passieren, findet man mehrere planlose Entscheidungen und abrupte, opportunistische Wenden – mit gravierenden Konsequenzen für Deutschlands gesellschaftliche Stabilität und Wohlstand. Das von ihren Spin Doctors gezeichnete Bild einer Kanzlerin, die alle Dinge ,vom Ende her denkt‘, die kühl-naturwissenschaftlich die Konsequenzen, Chancen und Risiken abwägt, ist Fiktion. Vielmehr hat Merkel in entscheidenden Phasen – in der Euro-Krise, bei der Energiewende und in der Asylkrise – ohne Plan gehandelt. Sie fuhr ,auf Sicht‘ und hat sich dabei mehrfach verirrt. Bei der Energiewende ließ sie sich von Ängsten in Medien und Bevölkerung leiten. In der Migrationskrise hat sie kopflos gehandelt und nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa ein gewaltiges Problem aufgeladen.“

Das erratische Management der Corona-Krise inklusive vermasselter Impfstoffbestellung, Maskenskandal, Intensivbettenschwindel und wiederholten Kehrtwenden, dazu immer repressivere Maßnahmen zur „Eindämmung“ des Virus kamen seit 2020 hinzu. Nun, da die Merkel-Ära sich endlich dem Ende zuneigt, haben die Autoren ihre Beiträge von 2017 aktualisiert, erweitert oder, im Fall des Politikwissenschaftlers Werner Patzelt, komplett überarbeitet: Sein Beitrag heißt jetzt „Merkels Erbe. Die Kanzlerin hat ihre Partei in eine äußerst schwierige Lage gebracht.“ Denn auch die CDU, in den 16 Merkel-Jahren vergrünt und sozialdemokratisiert, dazu personell geschwächt, steht jetzt schlechter da als zu Beginn ihrer Kanzlerschaft. Bevor Annalena Baerbock sich selbst in Rekordzeit entzauberte, sagten Umfragen ja tatsächlich voraus, dass die Union von den Grünen überflügelt werden könnte.

Mit Blockflöten gegen Islamisierung

Patzelt macht dafür u.a. Merkels Glaube an die Alternativlosigkeit ihrer Politik verantwortlich und die Tatsache, dass Merkel seit Beginn ihrer Kanzlerschaft darauf achte, „möglichst in Übereinstimmung mit der jeweiligen öffentlichen Meinung zu handeln. Nichts scheute sie mehr, als bei den überwiegend grün-links sympathisierenden tonangebenden Medien in Ungnade zu fallen.“ In die offene rechte Flanke, in der sich bürgerlich-konservative und patriotische Wähler wohlgefühlt hatten, sei dann die AfD gestoßen, was Merkel zugelassen habe.

Wolfgang Ockenfels kritisiert, dass die Pfarrerstochter mit ihrem Modernisierungskurs wertkonservative Christen vergrault, dafür den Islam umarmt und in der Flüchtlingskrise gesinnungsethisch gehandelt habe. Auf die Sorgen aus der Bevölkerung vor Islamisierung und Heimatverlust reagierte Merkel tatsächlich einmal so.: „Wir sind die Partei mit dem C im Namen. Haben wir eigentlich noch Selbstbewusstsein? Man muss ja nun wirklich nicht irgendwo hingehen von AfD bis Pegida, um Weihnachtslieder, christliche, singen zu dürfen. Aber wie viele von uns tun denn das noch auf ihren Weihnachtsfeiern in den Kreisverbänden? Und wo läuft da irgendwo so ‚n Tamtamtam und ,Schneeflöckchen Weißröckchen‘ oder was weiß ich, na ja, es ist auch, nein, aber ich meine, wie viel christliche Weihnachtslieder kennen wir denn noch? (…)  Und dann muss man eben mal ‚n paar Liederzettel kopieren und einen, der noch Blockflöte spielen kann oder so, mal bitten – ja ich meine das ganz ehrlich, sonst geht uns ein Stück Heimat verloren.“ 

Über Merkels Prägung in der DDR, wo sie die ersten 35 Jahre ihres Lebens zubrachte, schreibt Ralf Georg Reuth. Die Tochter des „roten Kasner“, der entgegen dem Trend mit seiner Familie einige Wochen nach ihrer Geburt von Hamburg in den Osten rübermachte, war in der FDJ als Sekretärin für Agitation und Propaganda tätig (Merkel später: „Kulturarbeit“) und fiel auch sonst nicht als Regimekritikerin auf. Zur Wendezeit war sie Sprecherin beim Demokratischen Aufbruch, also als Reformsozialistin aktiv, nach der Wiedervereinigung war wieder Opportunismus angesagt.

„Uns ist das Ding entglitten“

„Merkel überwältigte den politischen Gegner nicht, sie stahl seine Kleider“, schreibt Dominik Geppert, der die Linksverschiebung der Union und ihre programmatische Entkernung zum Frust bürgerlicher Konservativer schildert. Potenzielle Nachfolger habe Merkel zuverlässig demontiert. Nun hinterlasse sie „kein geordnetes Haus, sondern eine ausgebrannte Regierung und eine profillose Partei ohne Alleinstellungsmerkmale und inneren Kompass“.

Die Abkehr von der Sozialen Marktwirtschaft und die asymmetrische Demobilisierung der politischen Gegner durch Adaption ihrer Forderungen beschreibt Daniel Körfer. Steuern und Abgaben haben Rekordhöhen erreicht, 40 Prozent des Haushalts gehen für Arbeit und Soziales drauf, enorme Zuschüsse aus Steueraufkommen für Renten werden zum Nachteil für Infrastruktur, Bildung, Verteidigung. Finanzkrisen-Tsunami, Fukushima-Tsunami, Flüchtlings-Tsunami, Euro- und Pandemie-Tsunami, EEG, extreme Verteuerung von Energie, Ausstieg aus Atom und Kohle sowie die Absage an die No-Bailout-Klausel verursachten ungeheure Kosten. Merkel habe „der klare ordnungspolitische Kompass“ gefehlt.

Alexander Kissler, einer der beiden Autoren, die neu für das Buch gewonnen werden konnten, bescheinigt der Merkel-Regierung in der Corona-Politik „unteres Mittelmaß“. Planloses Durchwursteln und Auf-Sicht-Fahren hätten das Krisenmanagement geprägt („Uns ist das Ding entglitten“, Merkel im Januar 2021). Merkel habe sich mit einem weitgehend geschlossenen „Chor der immerselben warnenden, mahnenden virologischen Berater und düster gestimmten Modellierer“ umgeben und nicht auf Stimmen der Wirtschaft, der Künstler, der Kinder- und Jugendpsychologie, der Sport- und der Alterswissenschaft, der Heil- und der Sonderpädagogik gehört, was zu einem „trübseligen Lockdown-Fundamentalismus“ beigetragen habe.

Das Versagen in der Flüchtlingspolitik vollzieht Cora Stephan weitgehend anhand der Erkenntnisse aus Robin Alexanders Buch „Die Getriebenen“ nach. „Dass nicht nur von der Not getriebene, sondern auch von deutschen Versprechungen angezogene Migranten kommen, überwiegend junge Männer, dass man bei den meisten nur sehr wenig schulische oder berufliche Qualifikation erwarten kann, die einen „Fachkräftemangel“ beheben könnte, und dass niemand von Verstand unkontrolliert und ungesteuert Massen von Menschen ins Land lässt, von denen man nichts weiß, auch nicht, ob sich darunter auch Verbrecher und Terroristen verbergen – solche Bedenkenträger und Stimmungskiller wurden von willkommenstrunkenen Medienvertretern als „Fremdenfeind“ durchs Dorf gepeitscht. Ohne dass Merkel sich dagegen ausgesprochen hätte. Cora Stephan: „Die Folgen der chaotischen, planlosen Politik im Herbst 2015 werden zu Merkels Erbe gehören.“

Versagen in der Migrationspolitik

Das findet auch Thilo Sarrazin, der trocken konstatiert: „Merkel hat die Diskussion über Steuerung und Kontrolle der Einwanderung verhindert.“ Sarrazin erwähnt die Schattenseiten der Massenmigration, von der Gewaltkriminalität bis zu den enormen Kosten. „Nach meiner Einschätzung werden mindestens zwei Drittel dauerhaft (das heißt lebenslang) zu Transferempfängern mit direkten und indirekten Kosten von 20.000 bis 25.000 Euro pro Jahr. In der Summe bedeutet also die Flüchtlingswelle seit 2015 eine staatliche finanzielle Zukunftsbelastung von rund einer Billion Euro.“ Für Merkel („Wir schaffen das!“) offenbar kein Thema, sie wollte unter allen Umständen ein freundliches Gesicht zeigen. Sarrazins Urteil: „Ihr Versagen in der Migrationspolitik wird dereinst als größte Fehlleistung ihrer Amtszeit in die Geschichtsbücher eingehen.“

Mit den Widersprüchen der Euro-Krise beschäftigt sich David Marsh. Merkel habe zwar „regelmäßig Lippenbekenntnisse zu den heiligen traditionellen ordnungspolitischen Prinzipien abgegeben, etwa indem sie sich gegen eine Haftungsunion durch eine vollständige Schulden-Vergemeinschaftung sträubte“, doch faktisch gebe es schon länger „eine schleichende Haftungsvergemeinschaftung. Es ist bemerkenswert, dass eine Ausweitung von Bundesbankkrediten auf mehr als 1.000 Milliarden Euro via die EZB an andere Notenbanken und hoch verschuldete Staaten ohne parlamentarische Zustimmung vollzogen wurde und nicht einmal Gegenstand einer richtigen Parlamentsdebatte war.“

Dass Merkel immer wieder mal am Parlament vorbei folgenreiche Entscheidungen traf und „durchregierte“, kam dem Autor dieser Zeilen bei der Lektüre persönlich zu kurz, um hier mal einen kleinen Kritikpunkt anzubringen. Merkels autokratische Gelüste, die Abtötung des demokratischen Diskurses durch die behauptete Alternativlosigkeit ihrer Politik, ihr Entweder-Oder und damit die auf die Spitze getriebene Spaltung der Gesellschaft werden auch zu ihrem politischen Erbe gehören; ein eigenes Kapitel zu diesem Thema wäre wünschenswert gewesen.

Auf dem energie- und klimapolitischen Holzweg

Henning Klodt und Stefan Kooths nehmen eine makroökonomische Bilanz der Merkel-Jahre vor. Was den Arbeitsmarkt betrifft, fällt ihr Urteil recht positiv aus, allerdings seien in Deutschland „viele Bereiche für private Investitionen noch immer schwer zugänglich und zu stark reguliert“, weshalb Kapital weiter ins Ausland fließe. Den teuren deutschen Sonderweg in der Energiepolitik analysiert Justus Haucap. Man müsse von einem „energie- und klimapolitischen Irrweg der Merkel-Regierung“ sprechen. Statt eine wirklich grundlegende Reform der energiepolitischen Rahmenbedingungen in Angriff zu nehmen, sei es bisher „bei Flickschusterei und einem Herumdoktern an Symptomen“ geblieben. Zugleich müsse der Fokus „viel, viel stärker als bisher auf Forschung, Innovation und der Entwicklung neuer Technologien liegen“. Der Holzweg, den die Merkel-Regierung in der Energiepolitik beschreite, sei teuer, aber klimapolitisch ziemlich wirkungslos.

Roland Tichy nimmt sich die ideologisch-planwirtschaftliche Technologiepolitik vor. Die Energiewende sei ein „ideologisches Projekt“ und erinnere „in ihren Auswirkungen wie ihrer gesellschaftlichen Ausgestaltung fatal an planwirtschaftliche Methoden der Fehlsteuerung, die blind an längst erkannten Natur- und Marktgesetzen vorbeischrammen.“ Er beklagt die eklatanten Digitalisierungsdefizite (nur knapp 2 Prozent der Breitbandanschlüsse sind Glasfaserkabel, mehr als 80 Prozent der Anschlüsse im ländlichen Raum sind nicht zukunftsfähig). Tichys vernichtende Bilanz: „Deutschland ist in puncto IT-Produkte, Digitalisierung und Künstliche Intelligenz in vielerlei Hinsicht zurückgeblieben. Die einstigen Stärken der deutschen Industrie – insbesondere die Autoindustrie – wackeln.“

Wie steht es um die Familienpolitik der CDU? Die ist, so Birgit Kelle, komplett sozialdemokratisiert worden. Mit Ursula von der Leyen, die sich im Kampf um eine Frauenquote im Bundestag mit den Damen der linken Oppositionsparteien offen verbündete, habe Merkel eine Familienministerin installiert, die sich – recht ungewöhnlich für eine Mutter von sieben Kindern – vom früheren familienpolitischen Profil der CDU verabschiedete. Das traditionelle Familienbild gelte nun auch in der CDU als unmodern und überholungsbedürftig. Stattdessen werde realisiert, was die DDR vorgemacht habe: „flächendeckende Krippenbetreuung sowie Ausbau der Ganztagsbetreuung auch im Schulbereich. Kurzum, eine Verlagerung der Erziehung von Kindern raus aus der Familie und hinein in Institutionen (des Staates) und dadurch Freisetzung der weiblichen Arbeitskapazität für Erwerbsarbeit“. Unter Merkel habe die CDU die familienpolitische Themenführerschaft komplett an SPD und Grüne übergeben.

Verfehlte Integrationspolitik

Michael Wolffsohn beschreibt, wie die operative Flüchtlingspolitik im Jahr 2015 fast alles falsch gemacht habe, was falsch zu machen war. Wer vor Gefahren warnte, Befürchtungen äußerte oder sich gänzlich ablehnend verhielt, sei, „wenn nicht in die Nazi-, so doch wenigstens in die rechte oder rechtsextreme, auf jeden Fall in die ,populistische‘ Ecke“ gestellt worden. Populisten, so Wolffsohn, drückten aber „ein tiefes und teils berechtigtes Unbehagen aus, welches zumindest große Teile des ,Populus‘ empfinden. Es entstand durch die Unzulänglichkeit der politischen Antworten auf fundamentale Probleme – und nicht zuletzt durch die herablassende, diffamierende Art, mit der Kanzlerin, Koalition und die kulturhegemonialen Kreise reagierten.“ Merkels „humanitären Imperativ“ begrüßt der Autor hingegen ausdrücklich.

Wie steht es um Merkels Verhältnis zu den Juden und zum jüdischen Staat? Rafael Seligmann meint, dass Merkels Position „gegenüber den Juden und anderen Menschen in Not weitgehend durch christliche Gesinnungsethik geprägt“ (ist). Merkels Israel-Politik sei „prinzipiell wohlwollend“, auch wenn Seligmann die „opportunistische Zustimmung (bestenfalls Stimmenthaltung) Berlins zur unentwegten Serie einseitig anti-israelischer UN-Resolutionen“ nicht entgangen ist. Und auch nicht die Appeasement-Politik gegenüber Iran.

Necla Kelek thematisiert die verfehlte Integrationspolitik der Merkel-Jahre. Viele Migranten, insbesondere die muslimisch- und türkischstämmigen und ihre Organisationen, hätten Integration nicht wirklich gewollt. Vielmehr beanspruchten Türken, Kurden oder Syrer, Afghanen, Maghrebiner eine Sonderstellung für sich, ihre Religion und Lebensweise. Das Festhalten an den Islamverbänden wie der Ditib als Partner erscheine heute als eine Demutsgeste gescheiterter Politik. Ehrenmorde, Paralleljustiz, Zwangsheirat und Kinderehen seien echte Probleme, dennoch werde der Islam verharmlost, er (der Islam, nicht die 5,6 Millionen Muslime als Individuen) gehöre sogar zu Deutschland. Forderungen etwa von Özoguz nach Partizipation und Teilhabe, Kultursensibilität und Migrantenquoten in Behörden und staatlichen Instituten erteilt Merkel keine Absage. (Und das, wo sie doch selbst noch 2010 Multikulti für „gescheitert, absolut gescheitert“ erklärt hatte.)

Widerspruch wird mit repressiven Maßnahmen begegnet

Meinungsfreiheit und Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das ist das Thema von Joachim Steinhöfel. Straftatbestände wie Volksverhetzung, Beleidigung, Verleumdung oder üble Nachrede, die im Strafgesetzbuch stehen und klar definiert sind, wurden durch den schwammigen Begriff „Hass und Hetze“ ersetzt, „um zulässige Meinungsäußerungen, die ihrer politischen Ausrichtung zuwiderlaufen, zu kriminalisieren, jedenfalls aber gesellschaftlich zu delegitimieren.“ Der Druck gegen Kritiker habe sich seit 2015 verschärft. „Dieses Aufbegehren relevanter Teile der Bevölkerung, die diese Entwicklung nicht widerspruchslos hinnehmen wollten, glaubte man in weiten Teilen der politisch-medialen Klasse und vor allem im Bundeskanzleramt am besten durch repressive Maßnahmen kontrollieren zu können.“ Und: „Die mit Millionen subventionierte Amadeu-Antonio-Stiftung ist nur ein kleiner Teil einer Phalanx bis hin zum Innenministerium und zu Angela Merkel selbst, die dabei sind, Menschen einzuschüchtern, die ihre verfassungsmäßigen Rechte auf freie Meinungsäußerung wahrnehmen.“ Denunziation, Delegitimierung und das Bestrafen von Abweichlern nähmen zu. Steinhöfels Bilanz: „Merkels Regierung und die Gesetze wie das NetzDG durchwinkenden Abgeordneten der Großen Koalition haben dem freiheitlichen Diskussionsklima erheblichen Schaden zugefügt.“

Wie sieht das Ausland Merkel? Der Brite Anthony Glees meint, Merkel habe unvorhersehbar, irrational und emotional getrieben gehandelt, alle Vernunft in den Wind geschlagen und sich „beinahe hippiehaft über Common Sense und Regeln hinweggesetzt“. Ihr überstürzter Ausstieg aus der Kernenergie, insbesondere aber die desaströsen Konsequenzen ihres Handelns in der Flüchtlingskrise, hätten letztlich den Ausschlag für den Brexit gegeben. Beim Referendum habe der Wunsch, die Kontrolle über die Grenzen wieder zu erlangen, eine tragende Rolle gespielt. Man habe überdies das Gefühl gehabt, dass die Deutschen die EU kontrollieren wollten.

Das sieht Boris Kálnoky ganz ähnlich. Während Kohl auch kleineren Staaten stets auf Augenhöhe begegnet sei, war Deutschland im Lichte von Merkels Flüchtlingspolitik „plötzlich wieder der gefürchtete Nachbar aus alten Zeiten: mächtig, hysterisch und unberechenbar.“ Die Visegrád-Gruppe sei deswegen ab 2015 zu einer Art Selbstverteidigungsbündnis umfunktioniert worden. Auch die Drei-Meere-Initiative, eine lockere Kooperation aller 2004 neu beigetretenen ostmitteleuropäischen EU-Mitglieder plus Österreich, sei „teilweise entstanden als Reaktion auf das deutsche Übergewicht und Deutschlands Richtung in der Europa-Politik unter Angela Merkel seit der Migrationskrise.“ Allerdings sei durch die Flüchtlingskrise der Bruch erst sichtbar geworden, das Unbehagen sei schon viel früher dagewesen.

In Mittel- und Osteuropa eindeutig an Sympathie verloren

Wie Merkel in Österreich gesehen wird, erläutert Andreas Unterberger. „Merkel-Deutschland hat in Mittel- und Osteuropa gegenüber dem Kohl-Deutschland eindeutig an Sympathie verloren. Merkel ist ganz auf Frankreich orientiert. Mitteleuropäer vermissen die Fähigkeit zu einem strategisch-europäischen Denken, das über Pro-EU-Rhetorik hinausginge.“ Mit dem jungen Kanzler Kurz (2015 noch nicht 30 Jahre alt) verband Merkel eine tiefe Aversion. Dafür schmiedete Kurz ein Bündnis zur Sperrung der Balkan-Route. Inzwischen habe er aber erkannt, dass dennoch keine Allianz stark genug ist, um sich gegen die deutsch-französische Achse durchzusetzen. „Kurz hat (resignierend) erkannt, dass er Maßnahmen der EU gegen die illegale Migration und für mehr Abschiebungen mit Sicherheit nicht gegen Deutschland, sondern nur mit diesem erreichen kann.“

Christoph Caldwell beschreibt Merkels Verhältnis zu den vier amerikanischen Präsidenten, mit denen sie zu tun hatte. „Neben George W. Bush erschien sie wie eine NATO-unterstützende Neokonservative, neben Barack Obama wie eine „Globalbürgerin“ und neben dem einwanderungskritischen Donald Trump erschien sie – mit ihrer Politik der Grenzöffnung und unbegrenzten Migrantenaufnahme – wie ein Symbol deutscher nationaler ,Selbstabschaffung‘“ (wofür sie als vermeintlich verbliebene „Führerin der freien Welt“ während der Trump-Jahre von Linken gefeiert wurde). Caldwell: „Ihre Methode war das Gegenteil von Schröders Ansatz. Sie hat offene Konflikte mit Washington zu vermeiden versucht, hat nicht das Misstrauen des State Departments erregt, hat keine Ankündigungen über Ambitionen Deutschlands in der Welt gemacht. Sie ist Schritt für Schritt vorgegangen und hat damit die transatlantischen Beziehungen neu adjustiert.“

Zum Schluss schildert Erich Vad das Dilemma deutscher Sicherheitspolitik zwischen Pazifismus und maroder Bundeswehr. Letztere ist dramatisch geschrumpft. Noch 1990 nach der Wiedervereinigung dienten fast 600.000 Soldaten in den Streitkräften, seitdem wurde sie immer weiter verkleinert. Heute gehören ihr noch knapp 184.000 Soldatinnen und Soldaten an. Überbordende Bürokratie, mangelhafte Einsatzfähigkeit in sämtlichen Truppenteilen, gravierende Materialprobleme, ein verschleppendes Beschaffungswesen und massive Personalprobleme machen der Truppe zu schaffen. Ob Kampfflugzeuge, Panzer oder Schiffe – die Bundeswehr ist nur sehr bedingt abwehrbereit. Für die Pilotenausbildung muss die Bundeswehr in den Jahren 2021 bis 2024 sogar Hubschrauber beim ADAC anmieten. Vad: „In den Bundestagswahlkämpfen sowie in den anschließenden Koalitionsverhandlungen der Ära Merkel spielen sicherheitspolitische Überlegungen nur eine marginale Rolle. Es ist nicht zu übersehen: Deutschland definiert sich vorrangig als pazifistische Zivilmacht.“

Auch die Sicherheit ihres Landes scheint der Kanzlerin nicht wirklich am Herzen zu liegen. So wenig wie Wohlstand, Grundrechte und gesellschaftlicher Frieden. Wenn Merkel im Herbst nach 16 viel zu langen Jahren endlich das Bundeskanzleramt räumt, hinterlässt sie einen Scherbenhaufen. Immerhin ist die Chronik ihres Versagens dokumentiert.

Philip Plickert (Hg.), „Merkel. Eine kritische Bilanz von 16 Jahren Kanzlerschaft“. Erweiterte und aktualisierte Neuausgabe. FBV, 320 Seiten, 18,00 €


Autor: Redaktion
Bild Quelle: Olaf Kosinsky, CC BY-SA 3.0 DE , via Wikimedia Commons


Freitag, 16 Juli 2021

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