Auswanderung: Versuch macht klug

Auswanderung: Versuch macht klug


In seinem jüngsten Beitrag kommt Chaim Noll zu dem Fazit, dass es in Deutschland Zeit wird, die Koffer aus dem Schrank zu holen – ein Schluss, zu dem man unabhängig von der Konfession gelangen kann. Deshalb an dieser Stelle mein Debattenbeitrag.

Auswanderung: Versuch macht klug

Von Ramiro Fulano

Eine erfolgreiche Auswanderung ist leichter gesagt als getan. Einerseits ist es selbstverständlich bedauerlich und traurig, zu diesem Fazit zu gelangen. Andererseits finde ich es emotional nachvollziehbar und rational verständlich, sich angesichts der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung im Deutschland der letzten Jahre anderweitig umzusehen.

Die Frage nach dem richtigen Lebensmittelpunkt ist eine biografische Gestaltungsaufgabe, die mit zunehmendem Alter nicht einfacher wird. Es gibt Unmengen von Webseiten und anderen Informationsquellen, die mal das eine, mal das andere raten. In unterschiedlichen Rankings liegen mal diese, mal jene Länder und Regionen vorn. Natürlich hängt die Entscheidung in hohem Maße von der individuellen Lebenssituation ab (Single? Verpartnert? Mit Kindern – oder Eltern?) und nicht zuletzt von der subjektiven ökonomischen Lage.

Aber es gibt natürlich eine Reihe weiterer Kriterien: Man möchte sich nach Möglichkeit nicht (oder wenigstens nicht zu sehr) verschlechtern, man möchte eine langfristige Perspektive (möglichst über Generationen) und man möchte – trotz neuem Start in einem anderen Land – nicht zu sehr vom bisherigen Umfeld abgeschnitten sein – in sozialer, kultureller und sonstiger Hinsicht. Möglicherweise ist eine Präferenz auch durch bereits im Zielgebiet ansässige Freunde und Bekannte zumindest ein stückweit vorgeprägt – warum nicht erstmal einen Probeaufenthalt planen, bevor man Nägel mit Köpfen macht?

Zudem möchte man natürlich zumindest ein juristisches Mindestmaß an Schutz vor staatlichen und auch nichtstaatlichen Übergriffen. Wenn es um Mehr als eine Ferienimmobilie „für die kostbarsten Wochen des Jahres“ geht, kommen eigentlich nur nominell demokratische Staaten näher in Betracht. Nicht alle sehen sich als Einwanderungsländer, und nicht alle machen es Ihnen leicht, auf legalem Wege Fuß zu fassen. Für junge Familien sowie junge Menschen zwischen 20 und 35, die einen wirtschaftlich tragfähigen Beruf vorweisen können (nicht unbedingt als Ergebnis eines Studium – Berufsabschlüsse in Ausbildungsberufen werden sehr geschätzt), sind sicherlich Australien und Kanada zu empfehlen. Und die Sprachbarriere ist dort gering.

Insbesondere Australien bedeutet gegenüber Deutschland hinsichtlich der Lebensqualität eine deutliche Verbesserung. Allerdings wird es mit zunehmendem Alter immer schwieriger und schließlich fast unmöglich, sich dort dauerhaft niederzulassen: Spätestens mit über 50 Jahren lässt man Sie dort nur noch rein, wenn Sie ein nicht unerhebliches Vermögen mitbringen, um dem (ohnehin nur schwach entwickelten) australischen Sozialstaat nicht auf der Tasche zu liegen. Das für Australien Gesagte gilt übrigens auch für Neuseeland und Kanada, wobei die momentane politische Entwicklung dieser Staaten fast so fragwürdig erscheint wie die deutsche.

Wenn Sie über 50 Jahre alt sind und EU-Europa dauerhaft den Rücken kehren möchten, wird es schwierig. Zum einen ist es nicht einfach, entsprechend ihrer beruflichen Qualifikation im Ausland tätig zu bleiben (wenn Sie nicht gerade ein international renommierter Chirurg sind). Möglicherweise wird es sogar schwierig, in den ersten Jahren überhaupt irgendein legales Anstellungsverhältnis zu finden. Wenn Ihr jetziger Arbeitgeber Sie nicht in Ihr Auswanderungsziel versetzt oder Sie Ihren jetzigen Job im Home-Office nicht von überall ausüben können, dürfte es ein Aufbruch ins Ungewisse werden – was durchaus seinen Charme haben kann, aber gewisse Anforderungen an Sie stellt, nicht zuletzt in ökonomischer Hinsicht.

Für Menschen über 50 bleiben somit eigentlich nur die „untypischen“ Auswanderungsziele in Lateinamerika. Insbesondere der Nordosten von Mexiko überrascht in den einschlägigen Rankings immer wieder mit seiner sehr guten Lebensqualität (trotz einer auch hier zweifelhaften öffentlichen Sicherheitslage). Aber über den Südteil des amerikanischen Süd-Kontinents kann ich mich zumindest vor meinem persönlichen Migrationshintergrund qualifiziert äußern.

Argentinien, und dort insbesondere Buenos Aires, bietet ein Leben auf weitgehend (süd-)europäischem Niveau. Es gibt zumindest formaljuristisch die Möglichkeit, auf legalem Weg die Aufenthaltsgenehmigung und Staatsbürgerschaft zu erwerben – allerdings muss man dazu erstmal eingereist sein. Berufsmöglichkeiten gibt es, auch wenn Sie noch kein Spanisch beherrschen. Jedoch sicherlich nicht auf ihrem bisherigen Qualifikationsniveau – die guten Jobs teilen die Einheimischen unter sich auf. Es gibt deutschsprachige Jobs in Call-Centern, mit denen man sich zumindest anfangs über Wasser halten kann.

Und es gibt natürlich eine Reihe von spezialisierten Qualifikationen, mit denen Sie in Argentinien jederzeit gefragt sind: Weinbau, Bodenschätze (dort vor allem Erdöl und Erdgas), evtl. auch Forst- und Pferdewissenschaften – Genderwissenschaftler hat man allerdings selbst schon genug, muchas gracias. Aber auch deutsche Bäckereien sind dort sehr beliebt.

Wenn Sie mit Kindern einreisen, ist auch das kein Problem. Das staatliche Bildungssystem fällt unterschiedlich aus – in Buenos Aires spricht nichts gegen die Staatsschulen, aber die meisten Menschen versuchen, ihren Nachwuchs in privaten, darunter auch konfessionellen Schulen unterzubringen – es entstehen die dementsprechenden Ausgaben, die aber angesichts der überraschend niedrigen Lebenshaltungskosten für Doppelverdiener zu bewältigen sind. Singles kommen mit zwischen 750 und 1.000 Dollar pro Monat aus, Familien mit 1.500. Der wesentliche Kostenfaktor ist die Miete – wenn Sie Eigentum erstehen (Neubauten in guter Qualität liegen derzeit bei 2.000 Dollar pro Quadratmeter), kommen Sie pro Person mit 200 Dollar/Monat aus – inklusive der Ausgaben für die Krankenkasse (man ist in Argentinien über den Arbeitgeber oder privat versichert – zu Tarifen, die den Lebenshaltungskosten entsprechen). Auf ortsüblichem Gehaltsniveau müssen Sie in einem legalen Arbeitsverhältnis keine unzumutbaren Einschränkungen machen – es ist alles nur etwas anders verglichen mit Deutschland.

Natürlich gibt es auch Nachteile. Die Sicherheitslage ist – vor allem in den Vororten – angespannt und die wirtschaftliche Lage ist prekär – eine Inflation von 35 % ist der Durchschnitt der letzten zehn Jahre. Allerdings werden die Gehälter in gewerkschaftlich organisierten Branchen für alle Beschäftigten automatisch angepasst (nicht immer entsprechend der Inflationsrate). Für nichtgewerkschaftliche Branchen und informell Beschäftigte (letztere sind knapp die Hälfte) sieht es weniger rosig aus.

Wenn Sie aber z.B. eine deutsche Rente beziehen, ist Südamerika kein Problem – Sie müssen nur jedes Jahr ihre „Lebendbescheinigung“ bei der Rentenkasse bzw. beim Konsulat vorlegen.

Zu den Pluspunkten zählt wiederum, dass Argentinien – zusammen mit Australien – eins der wenigen Länder ist, in denen Sie einen atomaren Schlagabtausch auf der Nordhalbkugel überleben können. Vor dem Hintergrund des aktuellen Irrsinns kein völlig von der Hand zu weisendes Kriterium. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist in Puerto Madero ein Stadtviertel entstanden, das vor allem aus Zweitwohnungen des internationalen CO2-Jet-Sets zu bestehen scheint – die Leute, die uns die aktuelle Misere eingebrockt haben, werden also (mal wieder!) irgendwann in Argentinien Zuflucht suchen.

Und natürlich ist Buenos Aires völlig zurecht für seine hervorragend entwickelte, vielfältige jüdische Infrastruktur berühmt: Bedingt durch die Einwanderung im 19. Jahrhundert vor allem aus Mittel- und Osteuropa ist hier nach New York die zweitgrößte jüdische Gemeinde außerhalb Israels ansässig. Man ist also überwiegend aschkenasisch, aber selbstverständlich ist die Vielfalt auch in sephardischer Hinsicht groß. Schulen, Vereine und koschere Supermärkte und Gastronomie runden das Bild ab.

Die Wohnviertel mit etablierter Infrastruktur liegen im Norden der Stadt, in und um Villa Crespo sowie Belgrano „R“ und Villa Urquiza. Die geografisch ungenau definierte Gegend „Once“ (benannt nach der Schlacht von Caseros am 11. September 1852, in der sich die Provinzen unter General Urquiza von der Zentralmacht Manuel de Rosas in Buenos Aires lossagten) bildet das Zentrum der Orthodoxie.

Vieles am hier gesagten ist auf Brasilien und dort auf den Süden und den Großraum Sao Paulo sinngemäß übertragbar. Aber auch Uruguay bietet eine adäquate Lebensqualität auf ebenfalls moderatem Preisniveau und gilt vielleicht nicht zuletzt deshalb als Rentnerparadies von Südamerika. Chile zeichnet sich – ähnlich wie der Nordosten von Mexiko – durch einen europäisch anmutenden Lebensstandard aus, wenngleich auf einem etwas höheren Preisniveau als im übrigen Cono-Sur. Wenn Sie die See und die Berge lieben, gibt es nichts Besseres, denn in Chile bekommen Sie beides. Die politische Lage ist zwar auch dort mindestens so dubios, wie in Argentinien, aber wenigstens entwickelt sich Chile wirtschaftlich nicht zurück.

Insbesondere für jüdische Menschen bleibt als Auswanderungsziel Israel. Der Vorteil ist eine moderne und funktionierende gesellschaftliche Infrastruktur, die auf eine möglichst schnelle Eingliederung der Einwanderer ausgerichtet ist. Hebräisch als Fremdsprache zu erwerben, ist sicherlich möglich, aber auch nach Jahren wird man auf einem Zweitsprachen-Niveau sein. Die Sicherheitslage ist bekanntlich in starkem Maße angespannt. Ein Faktum, das insbesondere Familien und junge Menschen in ihre Überlegungen einbeziehen werden. Allerdings wird die Einwanderung durch die Jewish Agency großzügig unterstützt und vielfach gefördert und, nun ja, man ist dann eben auch in Israel.

Man gelangt meist mit einem weinenden und einem lachenden Auge zu einem solchen Entschluss. Aber wenn Sie sich mit ernsthaften Gedanken an eine Auswanderung tragen, scheint es ratsam, es zunächst einmal vielleicht nur für begrenzte Zeit vor Ort auszuprobieren und erst dann eine verbindliche Entscheidung zu treffen. Halten Sie sich trotzdem für die ersten Jahre auch den Rückweg offen


Autor: Ramiro Fulano
Bild Quelle: Iwoelbern, CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons


Freitag, 19 August 2022

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