Am ehemaligen Gelände des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora bei Nordhausen kamen Menschen zusammen, um der Opfer des nationalsozialistischen Terrors zu gedenken – und einer von ihnen trug die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts in sich. Albrecht Weinberg, 100 Jahre alt, überlebte als Jugendlicher mehrere Konzentrations- und Vernichtungslager. Mit leiser Stimme, aber unerschütterlicher Klarheit stand er an diesem Ort, wo einst Zehntausende unter unmenschlichen Bedingungen litten. Neben ihm war Julia Romantschenko, eine junge Frau aus der Ukraine, deren Großvater Boris die Hölle von Mittelbau-Dora überstand, nur um 2022 im Alter von 96 Jahren durch russische Raketen in Charkiw zu sterben. Ihre Anwesenheit verband Vergangenheit und Gegenwart auf schmerzhafte Weise.
Mittelbau-Dora war ein Ort des Grauens. 1943 errichtet, wurden dort etwa 60.000 Häftlinge gezwungen, in einem unterirdischen Stollensystem unter brutalsten Bedingungen zu arbeiten. Sie fertigten Raketen und Waffen für die NS-Kriegsmaschinerie – darunter Marschflugkörper, die London zerstörten. Die Arbeit war mörderisch: Hunger, Krankheiten, Misshandlungen und Erschöpfung rafften viele hin. Nur etwa ein Drittel der Gefangenen überlebte. Weinberg gehört zu den wenigen, die es schafften, die Tortur zu durchstehen. Seine Erinnerungen sind ein lebendiges Zeugnis – und ein Mahnmal dafür, was Menschen einander antun können.
Die Befreiung kam am 11. April 1945 durch US-Truppen, doch sie fanden ein fast leeres Lager vor. Kurz zuvor hatten die Nazis die meisten Häftlinge auf sogenannte Todesmärsche gezwungen oder ermordet, um ihre Verbrechen zu vertuschen. Wer zurückblieb, war dem Tod oft schon nahe. Für Überlebende wie Weinberg war die Befreiung ein Moment der Hoffnung inmitten unvorstellbaren Leids. Doch die Narben, die solche Erfahrungen hinterlassen, heilen nie ganz. Dass er heute, ein Jahrhundert alt, an diesem Ort stand, war für die Anwesenden ein starkes Symbol: Die Erinnerung darf nicht sterben.
Julia Romantschenkos Anwesenheit fügte eine weitere Ebene hinzu. Ihr Großvater Boris überlebte das KZ, baute sich ein Leben in der Ukraine auf – und wurde doch zum Opfer eines neuen Krieges. Als russische Raketen 2022 sein Haus in Charkiw trafen, starb er, 96 Jahre alt. Julia erzählte bei der Gedenkfeier von seinem Mut, aber auch von der Tragödie, die ihre Familie traf. Ihre Worte erinnerten daran, dass die Schrecken von Krieg und Gewalt nicht nur Geschichte sind, sondern auch heute Menschenleben zerstören. Die Verbindung zwischen ihrer Geschichte und der von Weinberg machte die Veranstaltung besonders eindringlich: Ob in den 1940er-Jahren oder 2022, die Zerstörung durch Hass und Gewalt bleibt erschreckend ähnlich.
Die Gedenkfeier war mehr als ein Rückblick. Sie war ein Aufruf, die Vergangenheit zu verstehen, um die Zukunft besser zu gestalten. Die Anwesenden – Überlebende, Nachkommen, Politiker, Bürger – gedachten der Toten und hörten den Geschichten derer zu, die überlebten. Weinberg sprach von der Kraft, weiterzumachen, trotz allem. Julia betonte die Verantwortung der jungen Generation, die Erinnerung wachzuhalten. Beide zeigten, wie wichtig es ist, Orte wie Mittelbau-Dora zu bewahren – nicht nur als Mahnmal, sondern als Ort, der zum Nachdenken anregt.
Für viele Besucher war der Tag ein Moment des Innehaltens. Die Stille auf dem Gelände, wo einst Schreie und Maschinenlärm die Luft erfüllten, fühlte sich schwer an. Doch die Anwesenheit von Menschen wie Weinberg und Romantschenko gab auch Hoffnung: Solange es Zeugen gibt, die erzählen, bleibt die Wahrheit lebendig. Und solange es Menschen gibt, die zuhören, besteht die Chance, dass die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt werden. Dieser Tag in Thüringen war ein starkes Zeichen – für Erinnerung, für Mitgefühl und für den Willen, niemals wegzusehen.