„Seid Menschen“ – Berlin verabschiedet Margot Friedländer mit einem letzten Appell gegen das Vergessen„Seid Menschen“ – Berlin verabschiedet Margot Friedländer mit einem letzten Appell gegen das Vergessen
Sie überlebte den Holocaust, sie sprach für Millionen – und sie wurde gehört. Nun wurde Margot Friedländer in Berlin beigesetzt. Die Republik verneigt sich vor einer Stimme der Menschlichkeit.
In Berlin senkte sich am Donnerstag nicht nur ein Sarg in die Erde, sondern ein Stück Geschichte, das Deutschland für immer geprägt hat. Margot Friedländer, Holocaust-Überlebende, Ehrenbürgerin Berlins, Brückenbauerin zwischen Generationen, wurde auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee zur letzten Ruhe gebettet. Ihr Grab liegt nun neben dem ihrer Großeltern – in jenem Berlin, das ihr Heimat, Albtraum und schließlich Wirkungsstätte wurde.
Wer an diesem Tag auf den stillen Wegen des größten jüdischen Friedhofs Europas stand, spürte: Dies war kein gewöhnlicher Abschied. Es war ein stilles, würdiges Bekenntnis – zur Erinnerung, zur Verantwortung, zur Menschlichkeit. 103 Jahre alt war Margot Friedländer geworden. Überlebt hatte sie den Naziterror, versteckt im Untergrund, verraten, deportiert nach Theresienstadt. Doch sie kehrte zurück. Und sie sprach. Für Millionen, die ermordet wurden – und für eine Gesellschaft, die zu lange schwieg.
Eine Republik nimmt Abschied – und zeigt Haltung
Die Liste der Trauergäste war lang. Und sie war hochrangig. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier war ebenso gekommen wie Bundeskanzler Friedrich Merz und seine Vorgängerin Angela Merkel. Auch Olaf Scholz, Julia Klöckner, Monika Grütters, Klaus Wowereit, Petra Pau, Friede Springer, Mathias Döpfner, Georg Friedrich Prinz von Preußen, Iris Berben, Dunja Hayali – sie alle erwiesen ihr die letzte Ehre. Kein Staatsakt – und doch ein Moment nationaler Bedeutung.
Gideon Joffe, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, fand klare Worte: „Aus der Vergangenheit heraus sind Sie jemand geworden, der nicht hassen wollte, sondern erinnern.“ Gemeinderabbiner Jonah Sievers sprach von einer Frau, die zum „moralischen Kompass“ wurde – nicht nur für Juden, sondern für ein Land, das sich immer wieder selbst prüfen muss. Und der jüdische Kolumnist Leeor Engländer brachte es in einem bewegenden Satz auf den Punkt: „In nur zwei Jahrzehnten hast du ein ganzes Lebenswerk erschaffen.“
Sie war keine Politikerin, keine Theoretikerin, keine Akademikerin. Sie war eine Frau mit einer Stimme – und diese Stimme war klar, unerschrocken, liebevoll. Ihre Botschaft an die Jugend war einfach: „Seid Menschen.“ Kein Pathos, kein moralischer Zeigefinger. Nur Wahrheit.
Ein Leben, das sprach, wo andere schwiegen
Margot Friedländer begann erst mit fast 90 Jahren, öffentlich zu sprechen. Sie reiste durch Schulen, trat in Talkshows auf, begegnete Jugendlichen, die nichts mehr über Auschwitz wussten – und veränderte sie. Sie erzählte nicht von Zahlen, sondern von Gesichtern, von Tränen, vom Warten. Vom letzten Satz ihrer Mutter: „Versuche, dein Leben zu machen.“ Und sie versuchte es.
Nach Jahrzehnten im Exil in New York kehrte sie zurück nach Berlin – in jene Stadt, die ihr alles genommen hatte. Und doch hatte sie ihr vergeben. Nicht im Sinne des Vergessens, sondern des Erinnerns. Ihre Rückkehr war kein Rückzug, sondern ein Aufbruch. Margot Friedländer wurde zur Chronistin ohne Bücher, zur Botschafterin des Gewissens, zur Verkörperung von Würde.
Ein Grab – und eine Verpflichtung
Die Berliner Polizei war mit 430 Beamten im Einsatz, um die Sicherheit dieses einzigartigen Moments zu schützen. Die Stadt hisste Trauerbeflaggung an öffentlichen Gebäuden. Aber all das war letztlich Nebensache. Denn die eigentliche Sicherheit, die Friedländer dem Land gegeben hatte, war moralischer Natur: eine Erinnerung, die nie weichen darf.
Und so standen sie alle dort – Politiker, Wegbegleiter, Prominente – und verneigten sich. Nicht vor einem Opfer, sondern vor einer Kämpferin. Nicht vor einer Figur der Vergangenheit, sondern vor einer Mahnerin für die Zukunft.
Was bleibt? Die Pflicht.
Margot Friedländer hinterlässt keine leeren Worte. Sie hinterlässt eine klare Botschaft: dass der Holocaust kein Thema für Gedenktage ist, sondern eine bleibende Aufgabe. Dass Erinnerung nicht bei Gedenksteinen endet, sondern im Alltag beginnt. Und dass Menschlichkeit nicht verordnet, sondern gelebt wird.
„Zweitzeugen“ nannte sie die junge Generation. Nun ist es an uns, Zeugnis abzulegen. Von ihr, von ihrer Geschichte, von ihrer unermüdlichen Stimme.
Margot Friedländer wurde beerdigt. Ihre Botschaft aber lebt. Und verpflichtet.
Autor: Redaktion
Bild Quelle: a work by ZDF/TerraX/Leonie Schöler/Julia Geiß/Michael Fandel/Benjamin Leng/Margot Friedländer Zeitzeugin/Maximilian Mohr from https://www.zdf.de/dokumentation/terra-x/interview-mit-holocaust-ueberlebender-margot-friedlaender-creative-commons-clip-100.html Clip zur ganzen Doku: https://www.zdf.de/dokumentation/dokumentation-sonstige/die-wannseekonferenz---die-dokumentation-vom-24-januar-2022-100.html with
Freitag, 16 Mai 2025