Machtprobe in Jerusalem: Wer regiert den Staat – die Politik oder die Justiz?

Machtprobe in Jerusalem: Wer regiert den Staat – die Politik oder die Justiz?


Zwei Tage, drei Fronten, ein Ziel: Die Regierung will das letzte Wort. Die Justiz wehrt sich. Israel steht vor einem Wendepunkt, der tief ins demokratische Fundament greift.

Machtprobe in Jerusalem: Wer regiert den Staat – die Politik oder die Justiz?

Wer in diesen Tagen nach Jerusalem blickt, sieht keinen Krieg und kein Attentat – sondern einen offenen Machtkampf im Innersten des Staates. Die israelische Regierung unter Premierminister Benjamin Netanyahu versucht, Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara loszuwerden. Diese kontert mit Ermittlungen gegen Netanyahus engstes Umfeld und seinen Polizeiminister. Parallel arbeitet die Koalition an einem Gesetz, das es künftigen Regierungen erlaubt, Spitzenbeamte wie den Generalstabschef, den Polizeipräsidenten oder den Inlandsgeheimdienstchef einfach abzuberufen – ohne Pflicht zur Begründung.

Was hier stattfindet, ist keine juristische Fehde und kein politischer Nebenschauplatz. Es ist der nächste Schritt in einem grundlegenden Streit um die Spielregeln in Israels Demokratie. Wer hat das letzte Wort – die gewählten Politiker oder die juristisch abgesicherten Kontrollinstanzen?

Ein Entlassungsverfahren ohne Legitimität

Der jüngste Höhepunkt: eine „Anhörung zur Entlassung“ der Generalstaatsanwältin am Montag. Eingesetzt wurde das Gremium von Justizminister Yariv Levin. Angeführt von Diasporaminister Amichai Chikli, besetzt ausschließlich mit Koalitionsministern – darunter Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich. Gali Baharav-Miara erschien nicht. In einem scharf formulierten Schreiben nannte sie die Anhörung eine „Farce“ mit vorgefertigtem Ergebnis – und einen Bruch mit 30 Jahren demokratischer Praxis, laut der nur eine unabhängige Kommission über die Amtsenthebung entscheiden darf.

Für Baharav-Miara steht mehr auf dem Spiel als ihre eigene Position. In ihrer Antwort warnte sie vor einem gefährlichen Dammbruch: Künftig könne jede Regierung unliebsame Rechtsberater aus dem Weg räumen – sei es, weil sie illegale Schritte blockieren, Anklagen vorbereiten oder sich weigern, politisch motivierte Verfahren einzustellen. Genau dafür, argumentiert sie, sei ihr Fall ein Testlauf.

Gegenangriff mit Anklagen

Noch am selben Tag setzte sie zum Gegenschlag an. Ihre Behörde kündigte eine Anklage gegen Netanyahus Kommunikationsberater Jonatan Urich an – wegen Weitergabe von geheimdienstlichem Material an ausländische Journalisten. Der Vorwurf: Geheimnisverrat auf höchster Ebene. Parallel geriet der Leiter des israelischen Strafvollzugs, ein Vertrauter Ben-Gvirs, ins Visier. Auch er soll geheime Informationen weitergegeben haben – an einen Polizisten, der selbst unter Verdacht stand, Gewalt von Siedlern nicht verfolgt zu haben.

Für Kritiker der Regierung ist klar: Diese Ermittlungen sind kein Zufall, sondern eine Rückversicherung. Denn: Solange laufende Verfahren gegen Netanyahus Umfeld existieren, dürfte die Regierung in einem Interessenkonflikt stehen – und könnte, juristisch betrachtet, die Generalstaatsanwältin nicht einfach entlassen. So hatte es das Gericht im Fall des früheren Shin-Bet-Chefs Ronen Bar gewertet, der ebenfalls unter politischem Druck stand.

Ein neues Gesetz mit Sprengkraft

Doch die Regierung denkt weiter. Noch am Sonntag brachte das Justizministerium ein Gesetz auf den Weg, das den Regierungswechsel zur Generalüberholung macht: Künftig könnten neue Regierungen innerhalb von 100 Tagen sämtliche Spitzenbeamten auswechseln. Nicht wegen Fehlverhaltens – sondern bei „grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten“. Wer das vage findet, hat recht: Die Unabhängigkeit zentraler Institutionen wie Justiz, Armee und Polizei würde damit auf wackelige Füße gestellt.

Befürworter sehen darin ein legitimes Machtinstrument: Wer gewählt wurde, soll mit loyalem Personal arbeiten dürfen. Gegner fürchten eine Aushöhlung des professionellen Dienstes – und eine gefährliche Machtkonzentration. In einem Land ohne Verfassung, ohne zweite Parlamentskammer und mit historisch starker Exekutive ist diese Sorge mehr als akademisch.

Ein System im Selbstversuch

Staatspräsident Isaac Herzog fand am Montag klare Worte: „Das ist ein Zug ohne Bremsen“, sagte er. Chaos im Führerstand, Attacken in alle Richtungen. Seine Mahnung: innehalten, bevor das System kippt.

Denn tatsächlich steht mehr auf dem Spiel als das Schicksal einer einzelnen Staatsanwältin oder das Image der Regierung. Was hier verhandelt wird, ist die Balance der Gewaltenteilung. Israels Demokratie lebt von informellen Regeln, Checks and Balances ohne schriftliche Verfassung. Wenn die einen sie verschieben wollen und die anderen sie verteidigen, kann das schnell zu einem institutionellen Vakuum führen – mit unklarer Machtlage, schrumpfendem Vertrauen und wachsender Polarisierung.

Es geht um die Frage, die 2023 Hunderttausende auf die Straße brachte: Wer bestimmt in Israel, wenn es keine eindeutige Linie gibt zwischen Recht und Macht?

Und vielleicht ist diese Krise nicht neu – sondern die logische Fortsetzung eines Konflikts, der nie wirklich gelöst wurde.


Autor: Redaktion
Bild Quelle: Screenshot


Dienstag, 15 Juli 2025

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