Mauerfall und Erinnerung – Freiheit, die Verantwortung verlangt

Mauerfall und Erinnerung – Freiheit, die Verantwortung verlangt


Am 9. November feiert Deutschland den Fall der Mauer – und gedenkt zugleich der Toten, die an dieser Grenze ihr Leben verloren. Doch der Tag mahnt auch zur Ehrlichkeit: Ostdeutschland hat bis heute ein ungelöstes Problem mit Antisemitismus. Dabei hat jüdisches Leben dort eine tiefere, stillere Geschichte, als viele wissen.

Mauerfall und Erinnerung – Freiheit, die Verantwortung verlangt

Als die Mauer fiel, fielen auch die Masken. Der 9. November 1989 ist ein Tag des Jubels, der Tränen und der Befreiung. Er steht für das Ende einer Diktatur, für den Mut derer, die in Leipzig, Dresden, Berlin und anderswo mit bloßen Händen gegen ein System aus Angst und Kontrolle aufstanden. Aber er steht ebenso für die, die den Weg in die Freiheit nicht mehr erlebten – die über Stacheldraht kletterten, in Minenfeldern starben, im Wasser der Spree erschossen wurden oder in Haftanstalten zerbrachen. Über 140 Menschen verloren ihr Leben an der innerdeutschen Grenze. Sie waren Opfer eines Staates, der sich selbst „antifaschistisch“ nannte und doch die Freiheit seiner Bürger mit Gewalt bekämpfte.

Der 9. November, dieses widersprüchlichste aller deutschen Daten, trägt zwei Erinnerungen: an die Zerstörung jüdischen Lebens 1938 – und an den Sieg der Freiheit 1989. Beide gehören zusammen. Wer an diesem Tag feiert, muss sich erinnern. Wer erinnert, darf nicht vergessen, dass Freiheit nur dann etwas wert ist, wenn sie auch geschützt wird.

Zwischen Verdrängung und Neubeginn: jüdisches Leben in der DDR

Jüdisches Leben in Ostdeutschland war kein Relikt, sondern Realität – wenn auch eine leise. Nach der Shoah und den Vertreibungen kehrten nur wenige Juden in die sowjetische Besatzungszone zurück. In den 1950er-Jahren existierten in der DDR rund 2.500 Gemeindemitglieder, verteilt auf wenige Gemeinden in Berlin, Dresden, Leipzig, Erfurt, Halle und Chemnitz. Sie lebten im Schatten der Geschichte, aber auch unter einer Regierung, die sich nach außen als „antifaschistisch“ definierte, während sie innerlich kaum Raum für religiöse Identität ließ.

Die DDR verstand Antisemitismus offiziell als Problem des Westens. Antizionismus galt dagegen als Staatsdoktrin – und traf Israel ebenso wie Juden weltweit. Die jüdischen Gemeinden in der DDR lebten unter einem doppelten Druck: von außen beobachtet, von innen misstrauisch betrachtet. Viele ältere Gemeindemitglieder, die den Holocaust überlebt hatten, zogen sich ins Private zurück. Synagogen blieben bestehen, aber sie waren fast unsichtbar.

Und doch: Es gab jüdisches Leben. Es gab Gottesdienste, Bar Mitzwot, kleine Feiern zu den Feiertagen. Es gab die Bemühung, trotz staatlicher Enge eine Kultur zu bewahren. In Ost-Berlin hielt sich eine kleine, aber lebendige Gemeinschaft, die Kontakte nach Prag, Budapest oder Warschau pflegte. Wer dort als Jude lebte, musste lernen, zwischen Anpassung und Bewahrung zu balancieren.

Nach dem Mauerfall: Aufbruch und alte Schatten

Mit dem 9. November 1989 öffnete sich nicht nur die Mauer, sondern auch ein neues Kapitel. Tausende Juden aus der ehemaligen Sowjetunion kamen in den 1990er-Jahren nach Deutschland – viele von ihnen ließen sich in Ostdeutschland nieder, wo Wohnungen leer standen und neue Gemeinden gegründet werden konnten. Städte wie Dresden, Leipzig oder Erfurt wurden zu Orten jüdischer Wiedergeburt. Synagogen wurden restauriert, Gemeindezentren eröffnet, kulturelle Projekte ins Leben gerufen.

Dieser Aufbruch war ein Wunder der Normalität – und zugleich ein Spiegel für das, was blieb: der Antisemitismus, der in den Jahren nach der Wiedervereinigung wieder lauter wurde. In ostdeutschen Städten tauchten antisemitische Schmierereien auf, Angriffe häuften sich, Verschwörungserzählungen fanden neue Plattformen.

Ostdeutschland, das sich selbst lange als Opfer der Geschichte verstand, tat sich schwer, eigene Formen des Hasses zu erkennen. Die alten Muster – Misstrauen, Fremdheit, Projektion – blieben bestehen. In mancher Schulklasse wusste kaum jemand, dass es in der DDR überhaupt jüdische Gemeinden gegeben hatte. Diese Unwissenheit ist bis heute gefährlich, weil sie Raum für Mythen lässt.

Erinnerung als Auftrag – Freiheit braucht Haltung

Der 9. November erinnert doppelt: an das, was verloren wurde, und an das, was wiedergewonnen werden kann. Er ruft dazu auf, die Opfer der Grenze nicht zu vergessen – jene, die für die Freiheit starben, und jene, die durch sie ihr Zuhause verloren. Und er ruft dazu auf, jüdisches Leben als Teil der ostdeutschen Geschichte anzuerkennen, nicht als spätere Zutat.

Antisemitismus in Ostdeutschland ist kein neues Phänomen, aber er ist heute sichtbarer, radikaler und digitaler. Wer am 9. November die Freiheit feiert, muss sie auch verteidigen – besonders dort, wo sie bedroht ist.

Jüdisches Leben in Leipzig, Dresden, Erfurt oder Chemnitz ist heute vielfältiger als je zuvor. Es gibt jüdische Kindergärten, Musikfestivals, Ausstellungen, interreligiöse Projekte. Doch viele Gemeindemitglieder leben mit der Angst, sichtbar zu sein. Sie erleben Anfeindungen, und sie erleben, dass Gleichgültigkeit gefährlicher ist als offener Hass.

Der Fall der Mauer war ein Triumph der Freiheit. Doch Freiheit ist kein Zustand, sondern eine Verpflichtung. Sie verlangt Haltung – gegen Antisemitismus, gegen Geschichtsvergessenheit, gegen den Reflex, Verantwortung an andere abzugeben.

Wer heute an der East Side Gallery steht oder auf den Resten der Berliner Mauer entlanggeht, sollte wissen: Diese Steine erinnern nicht nur an Trennung, sondern auch an Mut. Und Mut bedeutet heute, die Freiheit nicht als selbstverständlich zu betrachten, sondern sie täglich zu schützen – für alle, die in diesem Land leben, glauben und hoffen.


Autor: Redaktion
Bild Quelle: By Lear 21 at English Wikipedia, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3692038


Sonntag, 09 November 2025

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