Deutschland im Spiegel von 1938: München erinnert – und warnt vor der Rückkehr der GleichgültigkeitDeutschland im Spiegel von 1938: München erinnert – und warnt vor der Rückkehr der Gleichgültigkeit
87 Jahre nach der Reichspogromnacht erinnert München an die Nacht, in der das Land sein moralisches Gewissen verlor. Charlotte Knobloch und Historiker Frank Bajohr sprechen über Schuld, Anstand und das Versagen der Gegenwart – und ihre Worte klingen wie eine Warnung an uns alle.
Im Alten Rathaus zu München herrschte an diesem 9. November eine Stille, die lauter war als jeder Applaus. Kein ritualisiertes Erinnern, kein routiniertes Gedenken – sondern ein Innehalten, das die Gegenwart unbarmherzig spiegelte.
Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde, sprach mit einer Klarheit, die man selten hört. Sie sprach von Angst, von Enttäuschung, von der Erschütterung des Vertrauens in ein Land, das sich selbst seit Jahrzehnten als geläutert versteht.
„Wer heute schweigt, wenn Juden wieder bedroht werden, macht sich mitschuldig“, sagte Knobloch. Es war kein Satz für Protokolle, sondern einer für Gewissen. Sie sprach von Kindern, die in Deutschland wieder Angst haben, Kippa oder Davidstern zu tragen. Von Eltern, die ihre Namen an Schulhöfen verbergen. Von einer Öffentlichkeit, die sich an antisemitische Parolen auf deutschen Straßen gewöhnt.
87 Jahre nach der Reichspogromnacht, in der Synagogen brannten und Nachbarn zu Tätern wurden, klingt die Geschichte plötzlich erschreckend vertraut. Es ist nicht der Lärm des Mobs, der die Erinnerung wachruft, sondern das Schweigen derer, die sich wegdrehen.
Knobloch machte deutlich, dass Erinnerung nur dann Sinn hat, wenn sie zur Haltung führt. Sie warnte vor einem Land, das wieder „zu schnell relativiert, zu oft Verständnis zeigt, wo Empörung nötig wäre“. Es gehe nicht um Schuldvererbung, sondern um Verantwortung: die Verantwortung, das Unrecht zu erkennen, bevor es sich wieder verfestigt.
Auch Prof. Frank Bajohr, Leiter des Zentrums für Holocaust-Studien, sprach von der gefährlichsten aller Versuchungen – der moralischen Abstumpfung. Er erinnerte daran, dass das Grauen von 1938 nicht aus heiterem Himmel kam. Es war vorbereitet durch Gleichgültigkeit, durch die Normalisierung des Unrechts, durch eine Gesellschaft, die wegsah, als die ersten Rechte fielen.
„1938 war das Jahr, in dem Deutschland sein Rückgrat verlor“, sagte Bajohr. „Nicht, weil alle Täter waren, sondern weil zu viele Zuschauer blieben.“ Der Historiker sprach ohne Anklage, aber mit unüberhörbarer Dringlichkeit. Er stellte die Frage, die in der Luft hing: Wo steht dieses Land heute?
Denn während Deutschland am 9. November an seine Vergangenheit erinnert, sind die Gegenwartsbilder beunruhigend. In Erfurt versuchen Aktivisten, am Vorabend des Gedenktages eine Mahnwache „für die Opfer von Gaza“ zu inszenieren – und setzen dabei israelische Tote mit Terroristen gleich. In London lehnt ein traditionsreiches Theater jüdische Veranstaltungen ab. Auf europäischen Straßen werden wieder Davidsterne geschmiert, jüdische Schüler gemieden, Rabbiner bespuckt.
Bajohr und Knobloch beschrieben dieselbe Krankheit mit unterschiedlichen Worten: die Rückkehr der Gleichgültigkeit. Eine Gesellschaft, die in ihrem Wohlstand verlernt hat, den Wert moralischer Klarheit zu erkennen. Eine Politik, die Feigheit als Ausgewogenheit tarnt. Und eine Öffentlichkeit, die sich in Empörung über Nebensächlichkeiten verausgabt, aber bei Judenhass milde bleibt.
Knobloch warnte, dass das Vertrauen der Juden in Deutschland auf der Kippe steht – nicht wegen Einzelner, sondern wegen der wachsenden Passivität der Mehrheit. „Wir hören die Worte der Solidarität“, sagte sie, „aber wir sehen zu selten die Taten.“
Bajohr ergänzte den historischen Kontext. „Die Erinnerungskultur ist kein sicherer Besitz. Sie muss verteidigt werden, sonst wird sie zur bloßen Folklore.“ Er erinnerte daran, dass Erinnerung niemals Selbstzweck ist, sondern Verpflichtung: „Die Geschichte fragt uns nicht, ob wir genug gelernt haben – sie prüft, ob wir standhalten, wenn es darauf ankommt.“
Diese Gedenkstunde in München war deshalb mehr als eine feierliche Rückschau. Sie war eine ernste Selbstbefragung eines Landes, das zwischen Anspruch und Wirklichkeit zerrieben wird. Deutschland beruft sich auf das „Nie wieder“, doch viele jüdische Bürger spüren heute: Dieses Versprechen ist brüchig geworden.
Dabei gibt es eine historische Wahrheit, die nicht verhandelbar ist: Der Holocaust geschah nicht in einem Vakuum. Er war das Ergebnis eines gesellschaftlichen Klimas, das Hass duldete und Mitgefühl vergaß. Wer heute wieder Toleranz für Intoleranz zeigt, spielt mit derselben Dynamik.
Knobloch, deren Leben die Brücke zwischen 1938 und 2025 bildet, schloss mit einem Appell an die Würde der Gesellschaft selbst. Nicht an die Politik, nicht an Institutionen – an die Menschen. „Es geht nicht um die Vergangenheit, es geht um unser Heute“, sagte sie. „Was wir heute zulassen, entscheidet, wer wir morgen sind.“
Bajohr, nüchtern und analytisch, zog denselben Schluss mit anderen Worten: Die Geschichte kehrt nicht als Kopie zurück, sondern als Echo. Und dieses Echo hallt inzwischen wieder laut durch Europa.
Was aus München an diesem Abend blieb, war kein Trost. Es war ein Auftrag. Erinnern heißt nicht, den Schmerz zu wiederholen, sondern ihn ernst zu nehmen – als Warnung. Damit die Welt von 1938 nie wieder die Welt von 2025 wird.
Autor: Redaktion
Bild Quelle: Screenshot Youtube
Sonntag, 09 November 2025