Nach massiver Kritik gestoppt: Neusser Auktion mit Holocaust-Dokumenten abgesagt

Nach massiver Kritik gestoppt: Neusser Auktion mit Holocaust-Dokumenten abgesagt


Die geplante Versteigerung von mehr als 600 Dokumenten aus der NS-Zeit löste Entsetzen aus. Nach massiver Kritik wurde die Auktion abgesagt – doch die zentrale Frage bleibt: Wohin gehören diese Zeugnisse des Verbrechens?

Nach massiver Kritik gestoppt: Neusser Auktion mit Holocaust-Dokumenten abgesagt

Ein Auktionshaus in Neuss plante, hunderte Dokumente aus der NS-Zeit zu versteigern – darunter Briefe von Holocaust-Opfern, Gestapo-Unterlagen, Karteikarten über Zwangssterilisationen, Akten aus Konzentrationslagern und persönliche Schreiben aus den Gaskammern Europas. Zeugnisse des Mordens, der Verfolgung, der Entrechtung. Zeugnisse, die nicht als Sammlerstücke gedacht sind, sondern als Mahnungen.

Nach massiver Kritik wurde die Auktion nun gestoppt. Die Staatskanzlei in Nordrhein-Westfalen bestätigte am Sonntag, dass der Betreiber des Auktionshauses das Vorhaben zurückzieht. Der Katalog verschwand noch am selben Tag von der Internetseite – kommentarlos, als hätte es die Pläne nie gegeben. Doch das Unbehagen bleibt. Denn einmal mehr wurde sichtbar, wie schnell das Erinnern an die Opfer des Nationalsozialismus in die Nähe eines Geschäftsmodells geraten kann.

Die Demonstranten, die trotz Absage vor dem Auktionshaus standen, machten unmissverständlich klar, worum es geht: Diese Dokumente dürfen nicht in privaten Sammlungen verschwinden. Sie gehören in Archive, Museen, Gedenkstätten – dorthin, wo sie geschützt, fachkundig eingeordnet und für Forschung und Öffentlichkeit zugänglich bleiben. Unter ihnen befanden sich Akten aus Auschwitz, Karteikarten über Hinrichtungen, ein Arbeitsausweis für ein jüdisches Kind im Ghetto, Propagandamaterial, sogar die Notizen eines Auschwitz-Kommandanten für seine Verteidigung im Prozess von 1947. Es sind nicht einfach historische Objekte. Es sind Spuren von Leben, die vom NS-Staat ausgelöscht wurden.

Dass zwei Mitarbeiter eines Holocaust-Museums aus Haifa nach Neuss reisten, um die Dokumente zu sichern, zeigt die Dringlichkeit. Es ist unfassbar, dass Überlebende und ihre Nachkommen überhaupt befürchten müssen, dieses Erbe müsse erst „zurückgekauft“ werden, bevor es in sichere Hände gelangt.

Die internationale Kritik war entsprechend scharf. Polens Außenminister Radoslaw Sikorski verlangte die sofortige Übergabe der Dokumente an die Gedenkstätte Auschwitz. Der deutsche Botschafter in Warschau nannte die Auktion ein Vorhaben, das „nie hätte stattfinden dürfen“. Das Fritz-Bauer-Institut in Frankfurt sprach von einer „zynischen Verwertungslogik“, die den persönlichen Schmerz der Opfer auf dem Markt feilbietet. Das Internationalen Auschwitz-Komitee sprach von einem „schamlosen Unterfangen“.

Besonders verstörend ist, woher viele dieser Dokumente offenbar stammen. Wie Kulturredakteur Stefan Koldehoff erläutert, handelt es sich häufig um Materialien, die Täter oder deren Helfer aus Archiven beiseiteschafften – teils, um sich selbst zu schützen, teils aus persönlicher Bereicherung. Jahrzehnte später tauchen sie auf Speichern auf, geerbt von einer Generation, die nun erkennt, dass mit der Vergangenheit ihres Großvaters Geld zu verdienen ist.

Genau darin liegt die ethische Sollbruchstelle. Denn die Tatsache, dass diese Unterlagen gehandelt werden können, bedeutet, dass sie erneut der Würde der Betroffenen entzogen werden. Die Briefe, die Menschen in den letzten Momenten ihres Lebens schrieben, die Berichte über staatlich geplante Gewalt, die Karten mit Namen, das Sterben dokumentierend – all das wird durch eine Preisliste entwertet.

Die Absage der Auktion ist ein notwendiger Schritt, aber sie ist kein Abschluss. Die entscheidende Frage ist nun: Was geschieht mit diesen mehr als 600 Dokumenten? Wer garantiert, dass sie nicht doch den Weg in private Schränke finden? Und wie verhindert man künftig, dass solche Situationen überhaupt entstehen?

Deutschland hat Institutionen geschaffen, um das Erinnern zu schützen – damit Namen, Schicksale und Stimmen der Opfer nicht erneut verloren gehen. Diese Verantwortung umfasst auch jene Dokumente, die erst jetzt auftauchen, aus Kellern, aus Nachlässen, aus dunklen Kapiteln familiärer Geschichte. Sie gehören nicht auf Auktionen. Sie gehören in jene Räume, die dem öffentlichen Gedächtnis verpflichtet sind und nicht dem Markt.

Denn jedes dieser Dokumente erzählt von einem Menschen, dessen Leben gewaltsam beendet wurde – und dessen Geschichte nicht ein zweites Mal ausradiert werden darf.


Autor: Redaktion
Bild Quelle: By Daniel Ullrich, Threedots - Own work, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=611756


Montag, 17 November 2025

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