Ermittlungen gegen ehemaligen Wachmann des NS-Gefangenenlagers Stalag VI AErmittlungen gegen ehemaligen Wachmann des NS-Gefangenenlagers Stalag VI A
Ein 100-jähriger früherer Wachmann des Lagers Hemer steht erneut im Fokus der Justiz. Der Fall legt offen, wie schwer sich Deutschland noch immer damit tut, jahrzehntelang verdrängte Verantwortung konsequent aufzuarbeiten.
Der Fall eines inzwischen hundert Jahre alten Mannes aus Nordrhein-Westfalen rückt ein Thema in die Öffentlichkeit, das viele längst abgeschlossen glaubten. Die Staatsanwaltschaft Dortmund prüft derzeit, ob der frühere Wachmann des Kriegsgefangenenlagers Stalag VI A in Hemer an Tötungshandlungen beteiligt war. Die Ermittlungen beruhen auf Aussagen und historischen Dokumenten, die den Zeitraum vom Dezember 1943 bis zum September 1944 betreffen. In dieser Zeit sollen im Lager zahlreiche Gefangene aus von Deutschland besetzten Ländern interniert gewesen sein. Viele überlebten die Bedingungen nicht: Krankheiten, Unterversorgung und systematische Gewalt gehörten zu ihrem Alltag.
Dass heute ein Mann in diesem Alter im Zentrum solcher Untersuchungen steht, ist mehr als ein Einzelfall. Es zeigt, wie spät die deutsche Justiz ihre Verantwortung ernst nahm, auch die niedrigeren Ränge des damaligen Repressionsapparats zu verfolgen. Für Jahrzehnte galt die verbreitete Erzählung, nur wenige Täter hätten »wirklich gewusst«, was geschah. Viele Dienste, die objektiv Teil des Systems waren, blieben strafrechtlich unbehelligt. Erst die juristische Neuorientierung der vergangenen Jahre hat dazu geführt, dass auch Wachmannschaften zur Verantwortung gezogen werden können – nicht als Randfiguren, sondern als Teil einer Struktur, die ohne ihre Mitwirkung nicht funktioniert hätte.
Die Ermittler in Dortmund halten sich mit Details zurück. Sie erklären, dass die Untersuchungen nicht abgeschlossen seien und derzeit keine weiteren Angaben gemacht würden. Damit wahren sie sowohl die Unschuldsvermutung als auch den Persönlichkeitsschutz des Beschuldigten, wie es der Pressekodex verlangt. Zugleich zeigt die Tatsache, dass überhaupt ermittelt wird, ein gesellschaftliches Bedürfnis: Auch nach hundert Jahren soll nicht ungesühnt bleiben, was im Namen eines verbrecherischen Regimes geschah.
Das Stalag VI A in Hemer war eines von vielen deutschen Kriegsgefangenenlagern, in denen Soldaten aus mehreren besetzten Ländern festgehalten wurden. Die Lebensumstände galten schon zeitgenössisch als miserabel, die Sterberaten waren hoch. Historiker beschreiben das Lager als einen Ort, an dem Entbehrungen kein Nebeneffekt, sondern Teil eines Systems waren, das auf Ausbeutung und Entwürdigung setzte. Dass ein früherer Wachmann sich nun erklären muss, berührt daher eine Kernfrage der deutschen Erinnerungskultur: Bis zu welchem Punkt ist man bereit, Verantwortung auch dann einzufordern, wenn die Jahrzehnte schwer wiegen und die Täter alt sind?
Es geht dabei nicht um Rache. Es geht um Klarheit. Um ein Bewusstsein dafür, dass auch der kleinste Beitrag zu einem mörderischen System Folgen hatte – und dass sich eine Gesellschaft nur dann ihrer Vergangenheit stellt, wenn sie die individuelle Schuld nicht aus Rücksicht auf das Alter vernebelt. Gerade gegenüber den wenigen noch lebenden Angehörigen der damaligen Opfer ist Aufklärung mehr als ein juristischer Vorgang. Sie ist ein Zeichen, dass ihre Geschichten nicht vergessen werden und dass selbst ein Jahrhundert die Pflicht zur Wahrhaftigkeit nicht auslöscht.
Der aktuelle Fall könnte am Ende juristisch unspektakulär bleiben. Das Alter des Beschuldigten, sein Gesundheitszustand und die Frage der Prozessfähigkeit werden eine Rolle spielen. Doch unabhängig vom Ausgang hat der Vorgang eine Bedeutung, die über diesen einzelnen Mann hinausreicht. Er erinnert daran, dass Deutschland seine Vergangenheit nur dann ernst nimmt, wenn es auch dann hinblickt, wenn es unbequem, spät oder gesellschaftlich unpopulär ist. Gerechtigkeit mag in solchen Fällen nicht vollständig erreichbar sein – aber der Versuch, sie zu suchen, ist selbst ein Akt der Verantwortung.
Autor: Redaktion
Bild Quelle: By Unknown author - H. Walter, H. Nowak: W obozach, in: Pełnić służbę: Z pamiętników i wspomnień harcerek Warszawy 1939-1945, PIW 1983, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11525717
Montag, 24 November 2025