ARD übernimmt schwersten Vorwurf und nennt es AusgewogenheitARD übernimmt schwersten Vorwurf und nennt es Ausgewogenheit
Ein ESC-Protest wird zur politischen Bühne und ein öffentlich-rechtlicher Artikel zeigt, wie schnell journalistische Sorgfalt zur Nebensache wird, wenn es um Israel geht. Der Fall Nemo offenbart ein strukturelles Problem im Umgang der ARD mit hochsensiblen Vorwürfen.
Als der Schweizer ESC-Gewinner Nemo ankündigt, seine Eurovision-Trophäe zurückzugeben, ist das zunächst ein kulturpolitisches Signal. Ein Künstler erklärt öffentlich, dass er sich mit der Teilnahme Israels am Eurovision Song Contest 2026 nicht identifizieren könne. Das ist legitim. Künstler dürfen protestieren, provozieren, polarisieren. Problematisch wird es erst dort, wo Journalismus aufhört, einzuordnen, und beginnt, politisch aufgeladene Behauptungen weiterzutragen, als seien sie belastbare Tatsachen.
Genau das geschieht im Artikel der Tagesschau zur Rückgabe der Trophäe. Dort wird Nemos Begründung wiedergegeben, er beziehe sich auf eine Untersuchungskommission des UN-Menschenrechtsrates, die zu dem Schluss gekommen sei, Israels Behörden und Sicherheitskräfte hätten im Gazastreifen Völkermord begangen. Erst im nächsten Satz folgt der lapidare Hinweis, Israel weise diesen Vorwurf zurück. Was auf den ersten Blick ausgewogen wirken mag, ist bei genauer Betrachtung journalistisch hochproblematisch.
Der Kernfehler liegt nicht darin, Nemos Position zu zitieren. Der Fehler liegt darin, wie sie präsentiert wird. Der Text übernimmt eine der schwersten Anschuldigungen des Völkerrechts in indirekter Rede, versieht sie mit dem Autoritätsstempel der Vereinten Nationen und lässt sie nahezu unkommentiert im Raum stehen. Der durchschnittliche Leser erfährt nicht, dass es sich um einen politisch eingesetzten Bericht einer Untersuchungskommission handelt, nicht um ein Urteil. Er erfährt nicht, dass weder der Internationale Gerichtshof noch irgendein anderes internationales Gericht einen solchen Befund getroffen hat. Und er erfährt nicht, dass genau diese Kommission seit Jahren wegen Einseitigkeit, Methodik und personeller Zusammensetzung massiv kritisiert wird.
Die ARD entscheidet sich damit faktisch für eine Verkürzung, die Wirkung erzeugt. Der Begriff Völkermord ist kein moralisches Schlagwort, sondern ein juristisch extrem eng definierter Tatbestand. Ihn ohne Kontext zu verwenden, ohne rechtliche Einordnung, ohne Hinweis auf die fehlende Bindungswirkung des Berichts, ist kein harmloser Lapsus. Es ist ein Bruch mit journalistischer Sorgfalt.
Besonders schwer wiegt dieser Umgang, weil er nicht im politischen Ressort erfolgt, sondern im Kulturbereich. Der Artikel tarnt sich als Bericht über einen ESC-Eklat, transportiert aber nebenbei eine maximale Anklage gegen den jüdischen Staat. Genau diese Verschiebung ist problematisch. Kultur wird zur Bühne politischer Delegitimierung, während der Journalismus sich hinter Zitaten versteckt.
Der Verweis, Israel weise den Vorwurf zurück, genügt nicht. Er stellt keine echte Einordnung dar, sondern erfüllt lediglich formal das Prinzip der Gegenposition. Journalistisch sauber wäre gewesen, klar zu benennen, dass es sich um eine umstrittene Einschätzung handelt, die keine völkerrechtliche Feststellung darstellt. Ebenso hätte es zur Pflicht gehört, den Unterschied zwischen einer UN-Untersuchungskommission und einem Gericht deutlich zu machen. Dass all das unterbleibt, ist keine zufällige Nachlässigkeit, sondern Ausdruck eines Musters.
Dieses Muster zeigt sich immer wieder, wenn es um Israel geht. Schwere Vorwürfe werden referiert, oft in indirekter Rede, oft mit institutionellem Anstrich, während die Einordnung minimiert wird. Was bei anderen Staaten sorgfältig relativiert, kontextualisiert und juristisch eingehegt würde, bleibt hier erstaunlich roh. Der Effekt ist klar: Beim Publikum bleibt hängen, dass selbst die UN von Völkermord spreche. Dass dies so nicht stimmt, geht im Fließtext unter.
Dabei hätte die ARD als öffentlich-rechtlicher Sender eine besondere Verantwortung. Gerade weil sie für sich Neutralität, Ausgewogenheit und Faktentreue reklamiert, muss sie bei hochsensiblen Begriffen besonders präzise sein. Neutralität bedeutet nicht, jede Behauptung gleichwertig abzudrucken. Neutralität bedeutet, Macht von Worten zu erkennen und sie korrekt einzuordnen.
Der Fall Nemo zeigt deshalb weniger ein Problem eines Künstlers als ein Problem des Journalismus. Nemo darf protestieren, zuspitzen, moralisieren. Die Tagesschau darf das nicht. Sie darf berichten, aber sie muss erklären. Sie darf zitieren, aber sie muss einordnen. Sie darf keine politischen Narrative verstärken, nur weil sie von einer prominenten Person stammen.
Dass ausgerechnet im Kontext eines Musikpreises ein solcher Vorwurf ungebrochen transportiert wird, ist ein Alarmzeichen. Es zeigt, wie sehr sich politische Deutungen über Israel in den medialen Alltag eingeschlichen haben, oft ohne die kritische Distanz, die bei anderen Themen selbstverständlich wäre.
Der ESC soll unpolitisch sein, heißt es von der Europäischen Rundfunkunion. Der Artikel der ARD ist es nicht. Und genau darin liegt das eigentliche Problem. Nicht in Nemos Entscheidung, sondern in der journalistischen Entscheidung, einen hochumstrittenen Vorwurf stehen zu lassen und ihn mit dem Gewicht der UN zu versehen, ohne die notwendige Wahrheitspflicht ernst zu nehmen.
Autor: Redaktion
Bild Quelle: Screenshot ARD https://www.tagesschau.de/kultur/nemo-esc-trophaee-rueckgabe-100.html
Freitag, 12 Dezember 2025