Liebe in Zeiten des heißen Krieges

Liebe in Zeiten des heißen Krieges


Eine Romanze im hohen Norden zwischen einer Finnin und einem Russen ist das vielleicht Schönste, was das Kino derzeit zu bieten hat.

Liebe in Zeiten des heißen Krieges

Von Vera Lengsfeld

„Abteil 6“ des finnischen Regisseurs Juho Kuosmanen sollte, obwohl in Cannes 2021 preisgekrönt, gar nicht in unsere Kinos kommen. Ein Film, der eine Annäherung zwischen einer Finnin, die in Moskau Archäologie studiert, und einem Russen, der zur Arbeit nach Murmansk ins Bergwerk fährt, um Geld für sein eigenes Unternehmen zu verdienen, zum Thema hat, geht in Zeiten des russischen Überfalls auf die Ukraine gar nicht, dachten die Aktivisten der cancel culture. Zum Glück setzten sie sich nicht durch, und wir können zumindest in den kleinen Kinos den wohl schönsten Film ansehen, der in den letzten Jahren gedreht wurde. Wir hätten die talentierte Seidi Haarla und den hinreißenden Yuriy Borisow verpasst und die eindrücklichen Bilder russischer und karelischer Landschaft neben den Schienen.

Die Geschichte ist ein auf die Schienen verlegtes Roadmovie. Laura, die finnische Studentin, die unglücklich in die schöne, flatterhafte Mitstudentin Irina verliebt ist, macht sich auf nach Murmansk, um dort die erst 1997 entdeckten Petroglyphen, steinzeitliche Felsmalereien, auf einer Insel im Konozero-See zu betrachten. Inzwischen sind 1.300 Bilder entdeckt worden, die bisher noch nicht entschlüsselt werden konnten.

Eine plötzliche Zwangsgemeinschaft 

Laura und Ljoscha, die im Abteil 6 des Zuges von Moskau über St. Petersburg nach Murmansk aufeinandertreffen, müssen sich auch entschlüsseln. Sie können scheinbar nicht unterschiedlicher sein. Ljoscha ist am Anfang das Bild eines ungehobelten, besoffenen jungen Mannes, der laut und übergriffig ist. So sehr, dass Laura entsetzt aus dem Abteil flieht und die Zugbegleiterin anfleht, ihr ein anderes zuzuweisen. Die kann oder will ihr nicht helfen, also muss Laura ihren unerwünschten Reisebegleiter ertragen.

Warum Kuosmanen die Figur des Ljoscha so negativ überzeichnet hat, wäre meine einzige kritische Frage, denn schon bald stellt sich heraus, dass hinter der ruppigen Schale ein sensibler Kern steckt. Das hätte man schon ahnen können, als er Laura förmlich zwingt, das Schneetreiben vor dem Fenster zu bewundern. Warum sie ihren Rucksack mitgenommen habe, als sie in St. Petersburg telefonieren ging, will Ljoscha wissen. Ob sie glaube, dass er sie bestehlen – er sagt abziehen – wolle? Beklaut wird sie später von einem finnischen Mitreisenden, dem sie einen Platz im Abteil angeboten hat.

Warum sie immer so streng gucke und so wenig lache, will Ljoscha wissen, als sie sich im Zugrestaurant treffen, da würde sie doch schneller altern und Falten bekommen. Das wisse sie selbst, antwortet Laura, beginnt aber von da an ihren Mitreisenden mit anderen Augen zu sehen.

Von den Petroglyphen hat Ljoscha noch nie etwas gehört. Er findet es irre, dass man wegen ein paar Zeichnungen hinter den Polarkreis fährt.

In Petrosawodsk am Onega-See macht der Zug über Nacht Halt. Ljoscha überredet Laura, mit ihm zu einer Bekannten zu fahren und dort zu übernachten, statt im Zug.

Sie willigt – für sich selbst überraschend – ein. Die Bekannte ist eine echte russische Babuschka, eine jener weise gewordenen Frauen, die zu Sowjetzeiten ihren Mann stehen mussten, um zu überleben.

Am Morgen hackt Ljoscha noch schnell Holz für die nächsten Tage. Zum Abschied sagt die Babuschka, Laura hätte einen guten Mann gefunden.

Neben der sich still entwickelnden Liebesgeschichte zeigt der Film eindrückliche Bilder vom Leben in der russischen Provinz: Alte Frauen verkaufen an den Gleisen, an dem der Zug hält, ihre handgemachten Erzeugnisse: eingelegte Gurken, Pasteten, Kompott. Sie sind auf diesen Zuverdienst dringend angewiesen. Viele Orte, an denen der Zug Halt macht, bestehen aus altersschwachen Holzhütten. Trotzdem bekommt Laura auf einem ihrer Stadtgänge Geschenke, auch wenn es „nur“ Selbstgebrannter ist.

Angt vor dem eigenen Liebeserfolg

Kurz vor Murmansk sind sich die beiden so nahegekommen, dass Ljoscha lieber verschwindet, als sich dieser unwahrscheinlichen Liebe zu ergeben.

In Murmansk erfährt Laura, dass es im Winter unmöglich sei, zu den Petroglyphen zu gelangen. Ihr wird stattdessen empfohlen, an einer Tour „Heldenstadt Murmansk“ teilzunehmen. Das beschert dem Zuschauer interessante Bilder der einzigen Großstadt hinter dem Polarkreis, die zu Sowjetzeiten Sperrgebiet gewesen ist, weil der wegen des Golfstroms eisfreie Hafen Ankerplatz der Atom-U-Boot-Flottille war.

Am nächsten Tag fährt Laura zum Bergwerk, wo Ljoscha arbeitet, und hinterlässt eine Nachricht für ihn. Er taucht daraufhin tatsächlich in ihrem Hotel auf, und mit seiner Hilfe und der seiner Kollegen gelangt Laura durch Sturm und Schneegestöber doch noch zu den Felsenmalereien.

Das alles wird ruhig und ohne jeden Kitsch erzählt.

„War's das?“, fragt Ljoscha, bevor sie den Rückweg antreten. „Ja“, sagt Laura. Nicht ganz, denn auf dem Weg zum Schiff spielen die beiden verliebt in Sturm und Schnee. Dann ist Ljoscha wieder weg und ein Kollege fährt Laura zu ihrem Hotel, aber er hat eine Nachricht übergeben – eine Zeichnung, die er von Laura am letzten Tag im Zug gemacht hat. Unter der steht: Haista vittu! Er glaubt, dass das „Ich liebe Dich“ bedeutet, aber es heißt: Fick Dich. Das hatte ihm Laura am Beginn ihrer Bekanntschaft auf seine Frage gesagt. Es zeigt, wie lang der Weg der beiden war. Mit Lauras Lächeln endet der Film, den man sich unbedingt ansehen sollte.

Vera Lengsfeld, Publizistin, war eine der prominentesten Vertreterinnen der demokratischen Bürgerrechtsbewegung gegen die "DDR"-Diktatur, sie gehörte 15 Jahre dem Deutschen Bundestag als Abgeordnete der CDU an. Sie publiziert u.a. in der Achse des Guten und in der Jüdischen Rundschau.


Autor: Vera Lengsfeld
Bild Quelle: MKBler, CC BY-SA 4.0 , via Wikimedia Commons


Sonntag, 01 Mai 2022

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