Brennende Balkone, gebrochene Schädel – jüdisches Leben in DänemarkBrennende Balkone, gebrochene Schädel – jüdisches Leben in Dänemark
Dänemarks Antisemitismusbericht 2024 offenbart ein Klima der Angst – und eine Gesellschaft, die wegschaut
Ein Junge steigt in einen Bus in Kopenhagen. Er kommt von der jüdischen Privatschule, trägt vermutlich seine Kippa unter der Mütze. Der Bus wird von Demonstranten gestoppt. Zehn maskierte Männer steigen ein, stellen Fragen: „Bist du Jude?“ Der Junge sagt, er sei Christ. Eine Lüge – aus Angst um sein Leben.
Diese Szene ist keine filmische Übertreibung, sondern Realität in Dänemark im Jahr 2024. Sie stammt aus dem neuen Bericht der dänischen Beobachtungsstelle AKVAH, der mit seinen 174 Seiten eine schockierende Bilanz zieht: Noch nie wurden in Dänemark so viele antisemitische Vorfälle registriert wie im vergangenen Jahr. 207 Fälle – ein Anstieg von 71 % gegenüber 2023. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs.
Denn AKVAH selbst betont: Die Dunkelziffer ist hoch. Viele Betroffene melden Übergriffe nicht, aus Angst, aus Scham, oder weil sie dem Staat schlicht nicht mehr trauen. Der Bericht zeichnet das Bild einer jüdischen Gemeinschaft, die sich zunehmend aus der Öffentlichkeit zurückzieht, ihre Symbole verbirgt, ihre Kinder warnt. Das freie Leben, das Dänemark jüdischen Bürgern über Jahrzehnte versprach, existiert nur noch auf dem Papier.
Aus Worten werden Taten
Von den 207 Vorfällen waren neun gewaltsamer Natur. Ein jüdischer Junge wurde in Slagelse niedergestochen. Ein anderer wurde vor dem Park Fælledparken von drei Jugendlichen angegriffen, zu Boden geworfen, mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen. Sie nannten ihn „Judenschwein“. Worte, die direkt aus dem Sprachgebrauch der 1930er stammen – und die offenbar wieder gesellschaftsfähig geworden sind.
Ein besonders erschütternder Fall: Im Mai 2024 wurde die Wohnung einer jüdischen Frau in Brand gesetzt – während sie schlief. Der Täter goss brennbare Flüssigkeit auf den Balkon und zündete sie an. Die Polizei sprach von einem Terrorakt, der Täter wurde nach dänischem Strafrecht gemäß §114 angeklagt – ein klares Signal, dass es sich nicht um ein gewöhnliches Verbrechen, sondern um einen gezielten Hassakt handelte.
63 Prozent gegen klar erkennbare Juden
Besonders alarmierend: 63 % der Vorfälle richteten sich gegen Personen oder Einrichtungen, die klar als jüdisch erkennbar waren – etwa durch Kleidung, Namen oder ihre Verbindung zu jüdischen Schulen, Synagogen oder Organisationen. Das bedeutet: Wer in Dänemark öffentlich jüdisch lebt, lebt gefährlich.
Rund 60 % der Taten standen im Zusammenhang mit dem Krieg in Gaza oder anderen Entwicklungen im Nahen Osten. Ein gefährliches Narrativ hat sich etabliert: Jüdische Bürger werden kollektiv verantwortlich gemacht für die Politik Israels – eine klassische Form des Antisemitismus, wie ihn auch die IHRA-Definition festhält.
Doch genau diese Definition steht nun unter Beschuss – ausgerechnet von einem dänisch-jüdischen Aktivisten.
Eine gefährliche Verharmlosung
Jonathan Ofir, Mitglied der palästinasolidarischen Bewegung, warf AKVAH in einem offenen Brief vor, die Grenze zwischen Israelis und Juden zu verwischen. Die IHRA-Definition, so Ofir, sei ein „Werkzeug zur Unterdrückung legitimer Israelkritik“ und helfe „dem israelischen Staat bei der Fortsetzung des Genozids an den Palästinensern“.
Diese Aussagen sind nicht nur geschichtsvergessen – sie sind selbst Teil des Problems. Sie blenden aus, dass in Kopenhagen kein israelischer Soldat angegriffen wurde, sondern ein dänisches Kind. Dass nicht eine Botschaft Ziel des Brandanschlags war, sondern die Wohnung einer jüdischen Frau. Wer die Verantwortung für solche Taten auf politische Konflikte in Nahost schiebt, macht Täter zu Opfern und legitimiert Hass gegen Juden im Gewand vermeintlicher Kritik.
Ofirs Argumentation ist ein bekanntes Muster: Der jüdische Staat wird delegitimiert, seine Existenz mit „Zionismus“ gleichgesetzt, der wiederum als Angriff auf die Menschlichkeit gedeutet wird. Wer sich mit Israel identifiziert – und das tun viele Juden weltweit – wird damit automatisch zur Zielscheibe.
Europas Realität: Juden als Blitzableiter
Der Bericht ist nicht nur für Dänemark ein Alarmsignal. Die Europäische Union hat bereits 2024 eine umfassende Studie durchgeführt, laut der ein Großteil antisemitischer Vorfälle in der EU nicht gemeldet wird. Weniger als ein Drittel der betroffenen Juden in Dänemark wendet sich an Behörden. Die Angst, die Resignation, das Gefühl, ohnehin nichts ändern zu können – sie sind längst Teil jüdischer Alltagsrealität.
Juden sind erneut zu Blitzableitern gesellschaftlicher Spannungen geworden. Für viele ist es bequemer, den Hass zu rationalisieren, ihn in politische Narrative einzubetten, anstatt ihn beim Namen zu nennen: Antisemitismus. Das ist nicht nur feige, sondern gefährlich.
Der AKVAH-Bericht ist mehr als eine Statistik – er ist ein Hilferuf. Jüdisches Leben in Europa wird sich nur dann dauerhaft behaupten können, wenn der Schutz jüdischer Bürger nicht länger verhandelbar ist. Das bedeutet: Null Toleranz gegenüber antisemitischen Übergriffen, klare politische Sprache, systematische Erfassung und Bekämpfung antisemitischer Narrative – auch wenn sie sich hinter „Israelkritik“ verstecken.
Und es bedeutet vor allem: Empathie. Wer wegsieht, wenn Kinder aus Angst ihre Identität verleugnen müssen, hat nicht nur das Versprechen Europas verraten – sondern seine Menschlichkeit verloren.
Autor: Redaktion
Bild Quelle: Symbolbild
Mittwoch, 23 Juli 2025