Zwei Fahnen über dem brennenden Ghetto: Die vergessenen Helden des Jüdischen Militärverbands ZZW

Zwei Fahnen über dem brennenden Ghetto: Die vergessenen Helden des Jüdischen Militärverbands ZZW


Ein neuer Fund rekonstruiert die wahre Identität von Pawel (Yaakov) Frenkel, dem Anführer des zionistischen Untergrunds im Warschauer Ghetto – und fordert ein spätes Gedenken an jene, die Seite an Seite mit der bekannteren ZOB kämpften.

Zwei Fahnen über dem brennenden Ghetto: Die vergessenen Helden des Jüdischen Militärverbands ZZW

Warschau, Muranowska-Straße. Es ist ein kalter, klarer Morgen, als eine Gruppe israelischer Forscher und Historiker vor einem unscheinbaren grauen Wohnblock innehält. Hier, im Herzen des ehemaligen Ghettos, befand sich vor 82 Jahren das Hauptquartier des Żydowski Związek Wojskowy (ZZW) – des Jüdischen Militärverbands, der der zionistisch-revisionistischen Bewegung Betar nahestand. Von hier aus führte Pawel Frenkel, ein Mann, dessen Identität jahrzehntelang im Nebel der Geschichte verschwand, den Kampf gegen die Deutschen. Über diesem Haus flatterten einst zwei Fahnen: die weiß-rote Polens – und die blau-weiße mit dem Davidstern.

Diese beiden Fahnen, die während des Aufstands im April 1943 über dem brennenden Ghetto wehten, galten den Deutschen als unerträgliche Provokation. Heinrich Himmler selbst soll telefonisch befohlen haben, sie „um jeden Preis“ herunterzureißen. Drei Tage lang hielten sie stand – Symbole für Mut, für Stolz, für ein anderes Judentum als das, das die NS-Propaganda zeichnete.

Die Wiederentdeckung eines Namens

Bis vor wenigen Jahren war Pawel Frenkel kaum mehr als ein Schatten. Sein Name tauchte in Berichten auf, doch kein Foto, keine Biografie. Es hieß, er sei der Kommandeur des ZZW gewesen – aber wer er wirklich war, blieb unklar. Erst 2023 stießen Forscher des Menachem-Begin-Heritage-Centers in Jerusalem auf eine Spur: In einem vergessenen Artikel von 1961, verfasst vom Betar-Ausbilder Jeremia Halpern, fand sich der Hinweis auf einen Kadetten namens Yaakov Frenkel – ein junger Offizier aus Bialystok, der 1937 an Bord des Schulschiffs Sarah A von Italien ins damalige Palästina gesegelt war.

Fotos aus Halperns Nachlass zeigen denselben Mann, der später in Warschau als „Pawel“ in den Untergrund ging. Archivmaterial bestätigt, dass Frenkel 1911 geboren wurde, Medizin in Straßburg studierte, dann als Leutnant in der polnischen Armee diente – und nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gegen die deutschen Invasoren kämpfte. In seinem Militärakt findet sich erstmals ein klares Porträt: ein entschlossener, junger Offizier mit wachen Augen.

Der revisionistische Untergrund

Frenkel schloss sich früh dem revisionistischen Zionismus Wladimir Jabotinskys an. Er trainierte junge Juden im militärischen Selbstschutz – mit dem Ziel, nach Eretz Israel auszuwandern und dort eines Tages eine jüdische Armee zu gründen. Als Polen 1939 fiel, blieb Frenkel in seiner Heimat und baute die Strukturen der Betar-Untergrundorganisation im Ghetto auf.

Das Żydowski Związek Wojskowy war militärisch straffer organisiert als die bekanntere sozialistische ZOB (Żydowska Organizacja Bojowa). Frenkel, so berichten Zeitzeugen, führte seine Kämpfer mit außergewöhnlicher Disziplin und taktischer Klugheit. Sie verfügten über mehr Gewehre und Maschinenpistolen, trugen Uniformen und benutzten Kommandostrukturen – ein Resultat jahrelanger paramilitärischer Ausbildung.

Sein zweiter Mann, Leon Aryeh Rodal, leitete die Einheiten am Muranowski-Platz, wo die heftigsten Kämpfe tobten. Stroops deutscher Einsatzbericht beschreibt den Ort als „Brennpunkt des Aufstands“. Hier fielen Dutzende deutsche Soldaten in Hinterhalte, die ZZW-Kämpfer als SS-Männer verkleidet gelegt hatten. Als ein deutscher Offizier versuchte, die beiden Fahnen vom Dach zu reißen, wurde er von Scharfschützen erschossen. Himmler tobte – und befahl, das Ghetto niederzubrennen.

Vergessene Helden – und verfälschte Geschichte

Nach dem Krieg schrieb fast niemand über den ZZW. Das kollektive Gedächtnis des Aufstands gehörte der ZOB und ihrem Kommandanten Mordechai Anielewicz, dessen Kibbutz Yad Mordechai bis heute ein nationales Symbol ist. Der revisionistische Untergrund wurde jahrzehntelang ignoriert – teils, weil kein einziger seiner führenden Kommandeure überlebte, teils, weil die linke Geschichtsschreibung in Polen und Israel die Rolle der Betar-Bewegung bewusst ausblendete.

Erst der spätere israelische Verteidigungsminister Mosche Arens brach das Schweigen. Seine Forschung und sein Buch „Flags over the Warsaw Ghetto“ von 2009 rückten den ZZW ins Licht. Arens wies nach, dass die angebliche Figur eines „Dawid Appelbaum“, lange als Frenkels Stellvertreter geführt, frei erfunden war. Polnische Behörden entfernten 2010 dessen Namen von Gedenksteinen – ein seltener Akt historischer Korrektur.

Frauen im Untergrund

Ein besonderes Kapitel widmet die neue Forschung den Frauen. Im ZZW kämpften etwa 20 Prozent von ihnen aktiv – als Kuriere, Sanitäterinnen, Waffenschmugglerinnen. Eine von ihnen war Zuta Hartman, die letzte überlebende ZZW-Kämpferin. Sie schleuste Granaten und Medikamente ins Ghetto und versorgte Verwundete. Jahrzehntelang galt sie fälschlich als im Aufstand gefallen, bis Forscher sie wiederfanden. Hartman starb 2015 in Israel im Alter von 92 Jahren.

Kampf um Erinnerung

Die Forscher um Dr. Laurence Weinbaum und Yossi Swid sehen in der Geschichte des ZZW nicht nur ein vergessenes Kapitel, sondern ein Symbol für Israels schwierigen Umgang mit der eigenen pluralistischen Vergangenheit. „Die Geschichte des Aufstands wurde von denen geschrieben, die überlebten“, sagt Weinbaum. „Die Revisionisten sind gefallen – und wurden damit aus der Erinnerung gelöscht.“

Heute, da auf den Mauern des ehemaligen Ghettos Sprühparolen mit palästinensischen Fahnen prangen, bekommt das Ringen um Erinnerung eine neue, schmerzhafte Dimension. Die blauen und weißen Fahnen, die im April 1943 über Warschau wehten, stehen nicht nur für jüdischen Widerstand – sie stehen für die Idee eines selbstbestimmten jüdischen Volkes, das sich nicht mehr in Opferrollen pressen lässt.

Die Forscher fordern, dass Israel endlich beide Widerstandsorganisationen – ZOB wie ZZW – gleichermaßen ehrt. Pawel Frenkel, der Offizier aus Bialystok, verdient seinen Platz neben Anielewicz in der nationalen Erinnerung. Seine Geschichte, jahrzehntelang verschüttet, ist die eines Mannes, der sein Leben gab, damit zwei Fahnen über dem brennenden Warschau wehen konnten.


Autor: Redaktion
Bild Quelle: Von Autor/-in unbekannt (Franz Konrad confessed to taking some of the photographs, the rest was probably taken by photographers from Propaganda Kompanie nr 689.[1][2]) - en:Image:Warsaw-Ghetto-Josef-Bloesche-HRedit.jpg uploaded by United States Holocaust MuseumDieses Bild wurde digital nachbearbeitet. Folgende Änderungen wurden vorgenommen: artifacts and scratches removed, levels adjusted, and image sharpened. Das Originalbild kann hier eingesehen werden: Stroop Report - Warsaw Ghetto Uprising 06.jpg: . Bearbeitet von Durova., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3584240


Montag, 10 November 2025

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