Antisemitismus treibt britische Juden zur AuswanderungAntisemitismus treibt britische Juden zur Auswanderung
Eine neue Umfrage unter britischen Juden offenbart eine dramatische Entwicklung. Die Mehrheit hat bereits erwogen, das Land zu verlassen. Nicht aus wirtschaftlichen Gründen, sondern aus Angst. Antisemitismus, staatliche Untätigkeit und institutionelles Wegsehen lassen eine der ältesten jüdischen Gemeinschaften Europas an ihrer Zukunft zweifeln
Die jüdische Gemeinschaft in Vereinigtes Königreich steht unter massivem Druck. Laut einer aktuellen Umfrage des britischen Netzwerks Campaign Against Antisemitism hat eine Mehrheit der befragten Juden ernsthaft darüber nachgedacht, das Land zu verlassen. Der Grund ist nicht abstrakte Unsicherheit, sondern eine konkrete Erfahrung von wachsendem Antisemitismus und staatlichem Versagen.
Die Erhebung, an der 4.490 jüdische Briten teilnahmen, wurde im November durchgeführt. Sie zeigt einen deutlichen Bruch im Sicherheitsgefühl der Gemeinschaft. Rund 60 Prozent der Befragten gaben an, aufgrund antisemitischer Entwicklungen über eine Auswanderung nachgedacht zu haben. Das ist ein Anstieg von elf Prozentpunkten im Vergleich zum Vorjahr. Noch alarmierender ist, dass mehr als die Hälfte der Befragten angab, keine langfristige Zukunft mehr für sich oder ihre Familien in Großbritannien zu sehen.
Vertrauensverlust gegenüber Staat und Institutionen
Besonders deutlich fällt das Urteil über die staatlichen Institutionen aus. Rund 80 Prozent der Befragten bewerteten das Verhalten der Regierung gegenüber der jüdischen Gemeinschaft als schlecht. Doch die Kritik endet nicht auf politischer Ebene. 92 Prozent erklärten, die Regierung unternehme zu wenig gegen Antisemitismus. Auch Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte schneiden schlecht ab. Die Mehrheit der Befragten hat den Eindruck, dass antisemitische Vorfälle nicht konsequent verfolgt und sanktioniert werden.
Dieses Misstrauen ist kein abstraktes Gefühl. Es speist sich aus konkreten Erfahrungen, aus Demonstrationen, bei denen antisemitische Parolen geduldet werden, aus Anzeigen, die folgenlos bleiben, und aus einer öffentlichen Debatte, in der Judenhass zunehmend relativiert oder als politischer Protest umgedeutet wird.
Der Einschnitt von Manchester
Der Zeitpunkt der Umfrage ist kein Zufall. Sie wurde rund einen Monat nach dem Terroranschlag vor der Synagoge der „Hebrew Congregation of Heaton Park“ in Manchester durchgeführt. Am Morgen des Jom-Kippur-Festes wurden dort zwei Menschen ermordet, drei weitere schwer verletzt. Der Angriff traf Gläubige auf dem Weg zum Gebet, einen der sensibelsten Momente des jüdischen Jahres.
Für viele britische Juden war dieser Anschlag ein Wendepunkt. Er machte deutlich, dass antisemitische Gewalt nicht nur eine Bedrohung auf sozialen Netzwerken oder bei Demonstrationen ist, sondern tödliche Realität. Die Tatsache, dass es sich um einen gezielten Angriff auf eine Synagoge handelte, verstärkte das Gefühl, als Juden nicht mehr sicher zu sein.
Institutionelle Gleichgültigkeit als Brandbeschleuniger
Ein Sprecher von Campaign Against Antisemitism sprach im Zusammenhang mit der Umfrage von institutioneller Feigheit. Die Behörden reagierten aus seiner Sicht nicht mit Entschlossenheit, sondern mit Zurückhaltung und Beschwichtigung. Diese Haltung sende ein fatales Signal. Extremisten fühlten sich ermutigt, während die jüdische Gemeinschaft den Eindruck gewinne, allein gelassen zu werden.
Besonders scharf fiel die Kritik an der polizeilichen Praxis aus. Zwar untersagte die Londoner Polizei kürzlich Parolen wie „Globalize the Intifada“ oder „From the river to the sea“. Doch die Umsetzung blieb uneinheitlich. In mehreren Regionen weigerten sich Polizeieinheiten, die neuen Vorgaben konsequent durchzusetzen. Für viele Juden ist das ein Beleg dafür, dass Schutzversprechen nicht zuverlässig sind.
Antisemitismus als europäisches Warnsignal
Die Entwicklungen in Großbritannien stehen nicht isoliert. Sie fügen sich ein in ein europäisches Muster, in dem antisemitische Gewalt zunimmt, während staatliche Reaktionen zögerlich bleiben. Der Terroranschlag am Bondi Beach in Australien, bei dem jüdische Familien während eines Chanukka-Festes ermordet wurden, wirkt auch in Europa nach. Er verstärkt die Sorge, dass jüdische Gemeinschaften weltweit wieder zu bevorzugten Zielen werden.
Was die britische Umfrage so brisant macht, ist ihre Klarheit. Sie misst nicht abstrakte Stimmungen, sondern existentielle Fragen. Bleiben oder gehen. Vertrauen oder Rückzug. Sicherheit oder Anpassung.
Ein Land am Prüfpunkt
Dass eine Mehrheit der jüdischen Bevölkerung eines westlichen Landes ernsthaft über Auswanderung nachdenkt, ist ein politisches Alarmsignal. Es stellt nicht nur die Sicherheitspolitik infrage, sondern auch das Selbstverständnis Großbritanniens als offene, pluralistische Gesellschaft.
Antisemitismus ist kein Randproblem. Er ist ein Gradmesser dafür, wie ernst ein Staat den Schutz seiner Minderheiten nimmt. Wenn Juden das Vertrauen verlieren, ist das kein jüdisches Problem, sondern ein gesellschaftliches.
Autor: Redaktion
Bild Quelle: By michael warren - https://www.flickr.com/photos/mikewarren/53465183408/, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=144276326
Montag, 22 Dezember 2025