Ich will euch von einem Ort berichten ... Wo meine Mutter schläft, wo mein Vater schläft

Ich will euch von einem Ort berichten ...

Wo meine Mutter schläft, wo mein Vater schläft


Vor mehr als hundert Jahren wurde eine Eisenbahnlinie von Berlin bis Bagdad und auch in den Hijaz gebaut. Nach Ende des ersten Weltkrieges maß man ihr eine symbolische Bedeutung für den Waffenstillstand bei.

Wo meine Mutter schläft, wo mein Vater schläft

Von Dr. Akram Nasan

Stellt euch nun vor, die Reise mit der Bahn über eben diesen Weg anzutreten. Weniger als 1km entfernt von der Grenze des Türkenstaates in Richtung Syrien gelangen wir in einen Bahnhof – ein lebendes Beispiel für die damalige deutsche Architektur. Erhalten ist nicht nur der Bahnhof, sondern auch die Arbeiterwohnungen. Weiter entlang der Eisenbahnlinie treffen wir auf eine Brücke, die zwei Berge verbindet und als ein Meisterstück deutscher Ingenieurwissenschaft ihrer Zeit zu bewerten ist, gefolgt von mehreren Tunneln.

Bei dem Gebiet, welches wir erreicht haben, handelt es sich um das heutige „Afrin“, das einst unter den Bezeichnungen „Chyae Kurmanc" oder auch „Jabel Al Akrad" bekannt war. Die beachtenswerte Brücke ist jedoch nicht das Einzige, was Afrin mit der Zivilisation verbindet. Hier wurde mit der Entdeckung des Neandertalers auch ein stolzer Fortschritt in der Naturwissenschaft erreicht. Außerdem ist Afrin in kunsthistorischen Kreisen als das „Gebiet der toten Städte“ bekannt. Mehr als 820 Siedlungen umfasst es, welche bis zum 7. Jahrhundert erhalten blieben. Übrig geblieben von diesem Gebiet, das in der Antike „Belus“ hieß, sind Kyrrhos, die größte Stadt Al-Bara, das antike Kapropera, Deir Seman und Brad (Kaprobarada). Der Kulturreichtum ist ein ganz besonderes Merkmal dieses Ortes; geteilt wird er von Hethitern, Griechen, Römern, Persern und zum Schluss auch Muslimen.

Die wirtschaftliche Grundlage stellt das beeindruckende Angebot an Olivenöl dar. Noch aus der frühbyzantinischen Zeit sind bis heute hunderte Ölpressen erhalten. Die Kurden Afrins brüsten sich gerne mit ihrem beträchtlichen Besitz von 50 Millionen Olivenbäumen und

hören es nicht gerne, wenn diese Zahl untertrieben wird. Vervollständigt wird die Landwirtschaft Afrins durch den Anbau von Wein, Getreide, Gemüse und Obst.

Afrins Bevölkerung besteht inzwischen zu über 95% aus Kurden. Muslime, Sunniten, Aleviten, Ezyden, Christen, Juden, selbst Nichtgläubige leben mit ihnen in Harmonie. In Afrin wurde die erste JPG innerhalb der YPG, Ballion, gegründet. Es handelt sich dabei um eine Fraueneinheit zur Verteidigung, welche sich international einen hohen Ruf verschafft hat.

Diese Grundlage über das Gebiet von Afrin nehme ich nun, um euch etwas von diesem Ort meines Herzens zu erzählen, wo ich auf die Welt gebracht wurde.

Zwei Gebirgsketten, die einander gegenüberstehen, zieren die wunderschöne Landschaft und umrahmen die Ebene „Maydono“. Sieben Dörfer teilen sich eine einzigartige Bauart. Die Häuser sind so platziert, dass ihr Rücken zum Berg steht und die Türen und Fenster zur Ebene ausgerichtet sind. Der Berg dient somit als Rückenschutz, während der flache Grund sich gut landschaftlich nutzen lässt. Es kommt jedoch auch vor, dass die Ebene mit Wasser vollkommen überflutet wird. Umso erstaunlicher ist es darum, dass diese Wassermengen meist innerhalb von wenigen Tagen wieder in der Erde versickern.

Gegenüber auf der anderen Seite des Bergkamms, an dem die sieben Dörfer aufgebaut sind, ist unser Friedhof eingebettet. Im Sommer schlafen die Dorfbewohner draußen im Freien. Sobald sie morgens die Augen öffnen, ist ihr Blick auf die Verstorbenen gerichtet. Sie schätzen diese Aussicht in den zentral gelegenen Friedhof, denn Viele beginnen ihren Tag traditionell gerne damit, die Verstorbenen zu begrüßen. Das Pflanzenreich des Friedhofes wird ebenso mit Liebe und Hingabe gepflegt. Zur Erntezeit der Weintrauben und Feigen bringen die Erntenden einen Teil der Früchte zu den Gräbern, um auch die Tiere zu füttern.

Mich verbindet mit diesem Friedhof das Begräbnis meiner eigenen Eltern. In Afrin, so kann ich mir sicher sein, haben sie ihre Ruhe gefunden. Hier schläft mein Vater, hier schläft meine Mutter in Frieden.

Wenn jemand in der Nacht verstirbt, so erfolgt seine Beerdigung immer erst zur Tageszeit. Dann wird sein Tod verkündet und die Bevölkerung wird darum gebeten, den Toten ein letztes Mal zu begleiten. Der Trauermarsch ist ein bedeutsames Ritual, für den wir auch unsere Arbeit pausieren. Es ist aber nicht bloß ein Ritual der Trauer, sondern auch ein symbolisches Fest der Herzlichkeit. Indem wir die Toten feiern, festigen wir unsere Wertschätzung für das Leben.
Nach dem zweiten Golfkrieg nahm ich einen anderen als den üblichen parallel zur syrisch-türkischen Grenze verlaufenden Weg, um nach Amad zu gelangen. Meine Reise führte mich über Batman und in einem Tal stieß ich auf ein Ortsschild, welches auf das Grab des „Mazar Shekh Mousa Anzali“ hinwies. Zunächst war ich überaus irritiert. Auf dem Friedhof unseren Dorfes, so erinnerte ich mich, befand sich ebenso das Grab einer Person namens „Shekh Mousa Anzali". Wie also konnte er an zwei Orten zugleich begraben sein?
Der Shekh Mousa Anzali wird von vielen Einwohnern verehrt. Manche Frauen mit Kinderm pilgern zu der Stelle. Einige glauben auch, dass von ihr ein Heilungsimpuls ausgeht, der sie von ihren Krankheiten befreit. Circa 2km entfernt unter einem jahrhundertealten Baum befindet sich außerdem das Grab einer Frau namens Sultane; sie soll die Schwester von Shekh Anzali sein. Dies ist ein beliebter Pilgerort der Verliebten.

Nun, meine Irritation machte mich neugierig und ich fing an zu fragen: Wer ist der, der in unserem Dorffriedhof ruht? Die Antwort gab mir mein ältester Onkel. Er erzählte mir folgende Geschichte:
Der Tote, der in unserem Friedhof liegt, ist nicht der echte Shekh Mousa Anzali, sondern sein Schüler. Dieser sei in der Nähe von Jederes bei einem Feudalherrn als Hirte tätig gewesen. Nachdem bekannt wurde, dass die Tochter des Hauses schwanger war, wurde sofort der arme Hirtenjunge verdächtigt, die junge Frau geschwängert zu haben. Dieser ahnte, dass die Strafe höchsten Maßes auf ihn zukommen und seine Verteidigung zwecklos sein würde. Er beteuerte seine Unschuld, aber verkündete, dass er sich seiner Machtlosigkeit im Angesicht der Anschuldigungen bewusst war. So hinterließ er nur eine Bitte: Sollte er umgebracht werden, so wünsche er, dass sein Leichnam auf einer bestimmten Route zur Ruhestätte getragen würde. Auf dem Weg dorthin solle sich der Beweis für seine Unschuld offenbaren.
Die Bewohner gingen seiner Bitte nach, doch lastete das Gewicht des Sarges so schwer auf ihnen, dass der Trauerzug beim Durchqueren des Gebirgspasses stehen bleiben musste, um eine Pause einzulegen. In diesem Moment, so besagt die Geschichte, löste sich ein Felsen von der Bergspitze, rollte in das Tal und sprang dreimal über dem Sarg hin und her. Hierin erkannten die Bewohner den Beweis, dass der Tote nicht der Vergewaltiger gewesen sein konnte. Nun war er ein Märtyrer.

Zuletzt möchte ich euch noch in eine Tradition meiner Heimat einweihen; vielleicht könnte man sie mit einer Art Karneval vergleichen. Ein Junge unter uns verkleidete sich, bemehlte sich mit Asche und zog tanzend und mit einem Stock bewaffnet von einem Haus zum Nächsten. Wir Kinder rannten ihm aufgeregt hinterher und klatschten eifrig. Manche Häuser waren großzügig und beschenkten uns mit Mehl, Reis, Fleisch oder Öl. Mit den gesammelten Gaben begaben wir uns anschließend zum Friedhof, kochten und feierten ausgelassen.

Was möchte ich damit sagen? Der Friedhof bildet nicht nur das geographische Zentrum des Gebietes, sondern er fungiert auch als ein soziales Zentrum, das uns alle verbindet. An Feiertagen trafen wir sowohl die Verstorbenen in unserer Mitte, als auch unsere lebenden Freunde, Familienmitglieder, Bekannte zur Stärkung unseres Zusammenhalts.
Der Friedhof ist nicht nur ein Ruheort der Toten, sondern ein Teil unseres Lebens.

Nun wurde er von türkischen Vandalen zerstört.

Immer wieder stelle ich mir die Frage: Wieso tun sie uns das an? Was möchten sie mit ihren barbarischen Angriffen bezwecken?

Im Grunde ist es offensichtlich. Sie möchten den kulturellen Geist unseres Volkes zerreißen und uns mit Heimatlosigkeit demütigen. Es ist ein Akt der Demonstration ihrer scheinbaren Überlegenheit.

Und doch schreibe ich im Präsens, wenn ich vom Wert des Friedhofs für unser Volk erzähle! Denn die Zerstörung mag materiell sein, doch sie reicht nicht bis in unsere Herzen. Heimatlos sind wir nicht. Heimat bedeutet für uns mehr als der Ort, an dem wir leben. Die Zerstörer verstehen nicht, dass unsere Heimat das gesamte Netz unserer Geschichte ist. Sie verstehen nicht, dass unsere Kultur über die Landschaft hinausgeht. Und sie verstehen auch nicht, dass sie nicht gezielt uns angreifen, sondern dass diese kulturellen Wunderwerke der gesamten Menschheit gehören! Dennoch betone ich: All die fantastischen Erzählungen, Mythen und Erfolge in der Wissenschaft und Architektur können sie uns und der Menschheit nicht nehmen.
Der Friedhof ist so lebendig in unserer Gemeinschaft wie es für uns die Toten immer waren. Unsere Erinnerung hält sie am Leben.
 

Darum will ich euch Mut machen mit dieser Nachricht: Lasst euch nicht unterkriegen von euren Widersachern! Aggression und Hass verleihen unseren Feinden keine Überlegenheit. Wir sind mehr als unsere Wunden. Unser Geist und unsere Würde bleiben für immer unantastbar.
Sie wollen uns Angst einjagen, doch wir haben keine Angst.

Gemeinsam werden wir uns allen kommenden Hindernissen stellen.

Wir sind nicht allein.

 

Sämtliche Fotos von Dr. Akram Nasan


Autor: Dr. AkramNaasan
Bild Quelle:


Montag, 01 April 2019

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