Erinnerung an Gerhard Schröders Lobrede auf Erdogan

Erinnerung an Gerhard Schröders Lobrede auf Erdogan


Am 3. Oktober 2004 hielt der damalige sozialdemokratische Bundeskanzler Gerhard Schröder eine Laudatio für Recep Tayyip Erdoğan, den damaligen türkischen Ministerpräsidenten, der von ihm `Die Quadriga´ in Empfang nehmen durfte.

Erinnerung an Gerhard Schröders Lobrede auf Erdogan

Von Emrah Erken

Mit dieser Auszeichnung war der Nationalislamist Erdoğan mit Wurzeln in der Millî-Görüş-Bewegung, der damit in ideologischer Hinsicht sein Leben lang der Muslimbruderschaft zuzurechnen war, zum “Europäer des Jahres” gekürt worden.

Diese Rede, die ein Zeitdokument ist und welche die fortgesetzte sozialdemokratische Islamismus-Appeasement-Politik hervorragend illustriert, ist es auch 15 Jahre später wert in vollem Wortlaut wiedergeben und kommentiert zu werden.

Gerhard Schröder:

„Herr Ministerpräsident, Herr Präsident, Herr Vorsitzender, Exzellenzen, meine Damen und Herren! 

Die Werkstatt Deutschland ehrt mit dem „Quadriga”-Preis heute einen großen Reformpolitiker, der sein Land in die Europäische Union führen will.”

Kommentar:

Entgegen der Ansicht Schröders war Erdoğan nie ein Reformpolitiker, und schon gar nicht wollte er die Türkei in die EU führen. Vielmehr verfolgte er von Anfang der AKP-Herrschaft an das Ziel, diese sogenannten Reformen, die von der EU als Voraussetzung für einen EU-Beitritt genannt worden waren, für seine eigenen Ziele zu missbrauchen und dabei zum Gefallen der Europäer den Reformer zu mimen, was die letzteren leider sehr spät bemerkt haben.

So berichtete die NZZ am 16. Januar 2004 über den Besuch Romano Prodis, des damaligen Präsidenten der Europäischen Kommission, in der Türkei, bei dem es um den EU-Beitritt des Landes ging. Eine der zentralen Forderungen der EU war die Beseitigung des Nationalen Sicherheitsrates, was Erdoğan sehr gelegen kam, weil dieser der von ihm angestrebten islamistischen Präsidialdiktatur im Wege stand. Deshalb kam Erdoğan dieser Aufforderung der EU nur zu gerne nach. Die NZZ schrieb damals: “Der gemässigt islamistische Ministerpräsident Erdoğan hat von diesem Besuch eigentlich erwartet, dass die EU-Politiker ihm den Rücken stärken würden, um bei der bevorstehenden Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates am 23. Januar besser standhalten zu können. (…) Denn eine der zentralen EU-Forderungen an die Türkei ist, dass die zivile Führung die volle Kontrolle über das Militär erlangt. Und dies muss die türkische Regierung allein wagen.”

Ein Möchtegern-Sultan bereichert sich

„Dazu hat Ministerpräsident Erdoğan in der Türkei eine gesellschaftliche und politische Reform-Dynamik in Gang gesetzt, die in der Geschichte seines Landes beispiellos ist. Sie soll den Menschen in der Türkei mehr Freiheit, Demokratie und eine Perspektive auf Wohlstand und bessere Lebenschancen eröffnen.“

Noch nie war die Türkische Republik von Freiheit, Demokratie und deren Bürgerinnen und Bürger von einer Perspektive auf Wohlstand sowie auf bessere Lebenschancen weiter entfernt als heute. Zehntausende von völlig unbescholtenen Bürgern wurden insbesondere im Rahmen des von Erdoğan selbst orchestrierten “Putsches” willkürlich verhaftet, aber auch im Zusammenhang mit anderen “Ereignissen” ohne Anklage teilweise für mehrere Jahre ins Gefängnis gesteckt und auf persönliche Anordnung und Anweisung von Erdoğan zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt. Die türkische Justiz, die nie perfekt war, liegt heute am Boden respektive in den Händen dieses ungebildeten Vollproleten, das Gewaltenteilungsprinzip ist beseitigt, und sämtliche erdenklichen Grundrechte werden am Laufmeter verletzt, so dass die Türkei eigentlich aufgrund zahreicher EMRK-Verstöße und Nichtbefolgung von EGMR-Entscheiden aus dem Europarat ausgeschlossen werden müsste.

Ähnlich schlecht sieht es mit der Demokratie aus, nachdem der Diktator die Presse gleichgeschaltet hat, um den politischen Pluralismus zu beseitigen, mit der gleichen Absicht Journalisten einsperren ließ und vor allem seit seinem Machtantritt mit wachsender Intensität bei jeder Wahl und Abstimmung betrogen und sonstwie die Regeln der Demokratie verletzt hat, indem er etwa Kundgebungen der Opposition kriminalisierte, Staatseigentum und staatliche Mittel für eigene politische Propaganda einsetzte und mit seiner sogenannten “Präsidialverfassung” die parlamentarische Demokratie der Türkei vernichtete.

Eine Perspektive auf Wohlstand haben höchstens seine Günstlinge, die er mit mafiösen Mitteln in Laune hält. Wie es um den türkischen Wohlstand und die Wirtschaft steht, kann man etwa daran erkennen, dass ein Landwirtschaftsland wie die Türkei sogar Lebensmittel aus dem Bürgerkriegsland Syrien importieren musste (Kartoffeln). Neulich – ganz im Zeichen seines Demokratieverständnisses – hat der Diktator in staatlichen Behörden Grundnahrungsmittel zu günstigen Preisen verkaufen lassen, um die mittellose Bevölkerung zu ködern, weil Kommunalwahlen bevorstehen, bei denen er ohnehin einmal mehr betrügen und mogeln wird. Mit solchen Aktionen verprasst er die verbleibenden finanziellen Mittel der ehemaligen Republik, nachdem er und seine Familie einen Raubzug veranstaltet, die Staatskasse geleert und sich persönlich bereichert haben. Allein der opulente Lebensstil des Möchtegern-Sultans, der sich illegal und sich ausdrücklichen Gerichtsentscheiden widersetzend einen kostenverschlingenden Palast bauen ließ, spricht Bände.

Die Türkei steht vor dem Staatsbankrott

Bessere Lebenschancen haben die Türken von Erdoğan auch nicht bekommen, schon gar nicht Frauen, die seit seinem Machtantritt vermehrt Opfer von massivster Gewalt wurden, ohne dass dies für die meisten der Täter ernsthafte Konsequenzen hatte. Es ist zu befürchten, dass das Leben von Frauen, die nicht seiner Anhängerschaft zuzurechnen sind, in der Zukunft noch schwieriger wird.

 „Seit Ihrem Amtsantritt haben Sie, Herr Ministerpräsident, diese mutigen und weitreichenden Schritte in kürzester Zeit eingeleitet. Dabei dürfen aber nicht die Schwierigkeiten vergessen werden, die dieser Weg in der Auseinandersetzung mit starken, oft gegenläufigen Strömungen in Politik und Gesellschaft bereitet. Die jüngste Debatte um die Strafrechtsreform war hierfür ein anschauliches Beispiel.

Umso mehr wird dadurch deutlich, wie viel Mut und Kraft dazu gehört, einen solchen Weg zu beschreiten.“ 

Mut hatte der Draufgänger eigentlich immer, aber die Kraft, von der Gerhard Schröder spricht, hat der Diktator auch aus Europa erhalten. Zwischen 2007 und 2013 erhielt der Nationalislamist von der EU rund 4,8 Mrd. Euro Unterstützungsgelder nur für die Demokratisierung, wobei er dieses Geld ironischerweise dafür einsetzte, um die Demokratie zu beseitigen. Weitere finanzielle Mittel von der EU erhielt er etwa durch den sogenannten “Flüchtlingsdeal”. Mit dem Verkauf von Staatseigentum und mit dem Geld von der EU konnte er eine angeblich wirtschaftlich starke Türkei unter starker Führung vortäuschen, was insbesondere bei seinen von Minderwertigkeitskomplexen geplagten Anhängern sehr gut ankam. Heute, nachdem das Staatseigentum verscherbelt wurde, steht die Türkei vor dem Staatsbankrott.

Zur von Gerhard Schröder hochgelobten Strafrechtsreform nur diese zwei Beispiele: Erdoğan hat den Wunsch, das strafrechtliche Rückwirkungsverbot zu missachten, was ein fundamentaler Grundsatz des Strafrechts ist, um den von ihm verhassten ehemaligen Weggefährten Fethullah Gülen hinzurichten. Für den türkischen Intellektullen, Humanisten und Mäzen Osman Kavala verlangt die türkische Justiz ohne Angabe von ernstzunehmenden Gründen eine erschwerte lebenslängliche Haft. Es gibt so viele Beispiele im Bereich des “Strafrechts”, dass man nicht weiß, wo man anfangen soll. Wissen Sie, was Sie mit der Strafrechtsreform Erdoğans machen können, Herr Schröder?!

„Ihr Eintreten für mehr Freiheit, einen besseren Schutz der Menschenrechte und weniger staatliche Bevormundung ist für Sie, Herr Ministerpräsident, aber kein Zugeständnis an Europa. Sondern es ist Konsequenz Ihrer politischen Überzeugung – und auch Folge leidvoller persönlicher Erfahrungen mit Unterdrückung und Verfolgung. In der offiziellen Begründung der heutigen Preisverleihung heißt es, dass sich in Ihrer Persönlichkeit demokratische Überzeugung und religiöse Verwurzelung in glaubwürdiger Weise vereinen.

In der Tat: Sie haben bewiesen – auch wenn Ihr politischer Weg nicht frei von “Umwegen” war – , dass beide Aspekte miteinander vereinbar sind.“ 

Was Gerhard Schröder hier anspricht, ist die Verurteilung von Erdoğan für das Rezitieren eines Gedichts. Der Vorfall geht auf eine politische Veranstaltung in Siirt im Jahr 1997 zurück. Dort hatte er ein Gedicht mit dem Titel „Asker duası“ (Soldatengebet) rezitiert, das er bei seiner Verteidigung im späteren Prozess dem bekannten türkischen Dichter, politischen Aktivisten und Soziologen Ziya Gökalp zuordnete. Erdoğans Angabe, wonach dieses Gedicht und damit auch dieses bekannt gewordene Zitat mit den Gleichnissen von Ziya Gökalp stammten, traf allerdings nicht zu. Es existiert zwar ein Gedicht von Ziya Gökalp mit dem gleichen Titel. Auch sind in Erdoğans Version einzelne Teile des Gökalp-Gedichts durchaus enthalten. Das Gedicht, das von Erdoğan in Siirt im Jahr 1997 rezitiert worden war, war jedoch eine neuere, angereicherte Version, die im Dunstkreis von türkischen Nationalislamisten in den Neunzigerjahren entstanden war. Im Originalgedicht von Gökalp sind jedenfalls die militanten Gleichnisse, die später auch hier im Westen bekannt wurden, nicht enthalten.

„Die Minarette sind (unsere) Bajonette“

Hier ist die vollständige Übersetzung dieses Gedichts, welches der Muslimbruder bei einer politischen Veranstaltung in Siirt vortrug, für das er am 21. April 1998 von einem Gericht in Diyarbakır wegen „Aufstachelung der Bevölkerung zu Hass und Feindschaft unter Hinweis auf Unterschiede der Religion und Rasse“ völlig zu Recht zu zehn Monaten Gefängnis und zu einer Geldstrafe verurteilt worden war. Schauen wir doch an, was Gerhard Schröder als Unterdrückung und Verfolgung bezeichnet und was er unter einer Vereinigung von demokratischer Überzeugung und religiöser Verwurzelung versteht und damit implizit den politischen Islam befürwortet.

Soldatengebet

In meiner Hand das Gewehr, in meiner Seele der Glaube (an Allah),
Ich habe zwei Wünsche: Religion und Vaterland,
Meine Feuerstelle (gemeint ist mein Zuhause) ist die Armee,
Mein Großer (mein Führer resp. Oberhaupt) ist der Sultan.
Hilf dem Sultan, oh Allmächtiger!
Vermehre sein Leben, oh Allmächtiger!

Die Minarette sind (unsere) Bajonette, die Kuppeln (unsere) Helme,
Die Moscheen unsere Kasernen, die Gläubigen (unsere) Soldaten,
Diese heilige Armee wacht über meine Religion.
Allahu Akbar, Allahu Akbar (Gott ist am größten)!

Unser Weg ist der heilige islamische Krieg zwecks Verbreitung der Religion,
Unser Ende ist das Martyrium;
Unsere Religion verlangt Aufrichtigkeit und Dienst an der Allgemeinheit,
Unsere Mutter ist das Mutterland (der türkische Begriff lautet „Mutterland“ und nicht „Vaterland“),
Unser Vater die Nation;
Lass das Vaterland blühen, oh Allmächtiger!
Lass die Nation sich freuen, oh Allmächtiger!

Deine Flagge ist der Glaube an die Existenz Gottes und deine Fahne das Sichelmond,
Die eine ist grün und die andere rot,
Zeige dich gegenüber dem Islam mit Mitleid und räche dich am Feind.
Mache, dass der Islam bis in die Unendlichkeit existiert, oh Allmächtiger!
Vernichte die Feinde, oh Allmächtiger!

Auf dem Schlachtfeld sind so manche tapfere junge Männer für die Religion und für die Heimat zu Märtyrern geworden;
Aus ihrer Feuerstelle (aus ihrem Zuhause) soll Rauch kommen (d.h. ihre Häuser sollen bewohnt sein),
Die Hoffnung soll nicht erlöschen!
Mache den Märtyrer nicht traurig, oh Allmächtiger!
Mache sein Geschlecht (seine Nachkommenschaft) nicht schwach, oh Allmächtiger!

„Türkei für Deutschland ein verlässlicher Partner“

Gerhard Schröder:

„Meine Damen und Herren,

in wenigen Tagen wird die Europäische Kommission ihre Empfehlung abgeben, ob Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufgenommen werden sollen. Im Dezember wird dann der Europäische Rat eine Entscheidung treffen. Die Haltung der Bundesregierung ist eindeutig:

Wenn die Kommission feststellt, dass die politischen Beitrittskriterien erfüllt sind, wird Deutschland die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen nachdrücklich unterstützen. Es gibt für die Haltung der Bundesregierung drei wichtige Gründe:

Erstens: 1963, vor mehr als 40 Jahren, hat die damalige EWG der Türkei versprochen, dass sie Mitglied werden kann. Vor 15 Jahren hat die Europäische Union Bedingungen für einen Beitritt formuliert, die für alle beitrittswilligen Länder gleichermaßen gelten. Die Türkei wird sie zu erfüllen haben, so wie andere Staaten auch. Über 40 Jahre lang wurden der Türkei Zusagen gemacht. Es gehört zur Kontinuität, aber auch zur Verlässlichkeit deutscher Außenpolitik, die von allen meinen Vorgängern im Amt geprägt wurde, dass diese Zusagen eingehalten werden.

Zweitens: Mit einem Beitritt der Türkei ist ein erheblicher Zuwachs an wirtschaftlicher Dynamik zu erwarten – nicht nur in der Türkei, sondern auch in ganz Europa.

Experten sagen der Türkei mit ihrer jungen, gut ausgebildeten Bevölkerung für den Fall der Beitrittsverhandlungen einen wirtschaftlichen Boom voraus. Gerade für Deutschland ist das eine große Chance, denn wir sind bereits jetzt Partner Nummer Eins im Handel und in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der Türkei.

Drittens: Die Türkei ist für Deutschland und für Europa ein verlässlicher Partner.

Im Rahmen der NATO und beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus arbeiten wir eng zusammen. In Afghanistan kooperieren unsere beiden Länder Seite an Seite für die friedliche Zukunft des Landes. Ich freue mich, dass heute auch Präsident Karzai mit dem Quadriga-Preis ausgezeichnet wird. Die Türkei, strategisch bedeutsam an der Nahtstelle zwischen Europa und Asien gelegen, kann darüber hinaus das politische Gewicht Europas in der Welt weiter stärken. Eine demokratische Türkei, den europäischen Wertvorstellungen verpflichtet, wäre ein klarer Beweis, dass es keinen Widerspruch gibt zwischen islamischem Bekenntnis und aufgeklärter, moderner Gesellschaft.“ 

Ein neo-osmanisches Kalifat in der NATO

Die Türkei war seit ihrem Beitrittsgesuch noch nie so weit von Europa entfernt, als dies heute der Fall ist. Nur schon die rechtsstaatlichen Erfordernisse für einen EU-Beitritt würde sie nie erfüllen, was dem Diktator natürlich egal ist, weil er ohnehin nie ernsthaft einen Beitritt anstrebte, sondern vielmehr am Beitrittsprozess selbst interessiert war. Nachdem er den EU-Beitrittsprozess für seine eigenen Zwecke missbraucht hat, könnte dessen Beendigung ihm einmal mehr nützen. Auf diese Art und Weise könnte er die Türkei noch mehr von Europa und damit vom Westen entfremden. Genau diesen Gefallen will die EU ihm nicht tun.

Was die angebliche verlässliche NATO-Partnerschaft der Türkei anbelangt, ist die Situation eigentlich genau das Gegenteil von dem, was Schröder wiedergibt. Durch den Regimewechsel wurden zahlreiche erfahrene Offiziere der einstigen stolzen Türkischen Armee vom Dienst entfernt und durch seine Günstlinge ersetzt, die fachlich völlig unqualifiziert sind. Ein Freund, der beruflich mit der NATO zu tun hat, teilte mir neulich mit, dass die Türkische Armee aufgrund des veränderten Personals heute nicht mehr in der Lage sei, die Anforderungen zu erfüllen, die von ihr erwartet werden. Das große Problem der NATO sei, dass sie im NATO-Vertrag kein Ausschlussverfahren kenne, welches man nun anwenden könne. Ich frage mich, wie die NATO darauf reagieren wird, wenn der Tag kommt, an dem Erdoğan das Kalifat wiedererrichtet. Ein neo-osmanisches Kalifat in der NATO … Das kann noch spannend werden …

Noch schlimmer ist allerdings der Umstand, dass die Türkische Armee, die einst Garant der laizistischen und republikanischen Staatsordnung war, heute unmittelbar mit dschihadistischem Terror und Dschihadorganisationen in Verbindung gebracht wird, die der al-Qaeda nahestehen. Die Kriegsverbrechen der Türkischen Armee gegenüber der kurdischen Zivilbevölkerung übertreffen die früheren Übergriffe, die keineswegs zu verharmlosen sind, bei weitem und die Linken dürften vor allem hinsichtlich dieses Punktes sehr enttäuscht sein, nachdem sie in Erdoğan eine mögliche Lösung des Kurdenkonflikts gesehen hatten. Heute ist die Situation so, dass der Muslimbruder im kurdischen Afrin in Syrien einen islamistischen neo-osmanischen Satellitenstaat errichtet und die Scharia eingeführt hat, wo Mitarbeiter der türkischen Religionsbehörde Diyanet ihr Unwesen treiben.

Die Türkische Republik war nie „muslimisch”

„Dies wäre eine großartige Perspektive. Denn damit wäre die Türkei ein Vorbild für andere muslimische Länder in unserer europäischen Nachbarschaft. Man sollte sich vor Augen führen, welch großer Zuwachs an Sicherheit für Europa und damit auch für Deutschland dies bedeuten würde.“ 

Von einer Perspektive, die nie etwas anderes war als eine linke Illusion, ist nichts übrig geblieben und vor allem war die Türkische Republik entgegen der Aussage des Islam affinen Schröder nie ein “muslimisches Land”, weil das Wort “muslimisch” oder “Islam” auch in ihrer Verfassung nicht vorkam, zumal es sich dabei um einen laizistischen Staat handelte. Genau dieser Laizismus, der für europäische Sozialdemokraten und Grüne schlicht und einfach eine kontinuierliche Verletzung der “Religionsfreiheit” darstellte, sollte aus deren Perspektive vernichtet werden, damit daraus wie erwünscht – und hier auch ausgesprochen – ein “muslimisches Land” aus dieser laizistischen Republik hervorging.

Jedenfalls ist die Türkei heute überhaupt kein Vorbild für muslimisch geprägte Länder mehr, was sie hingegen zuvor seit ihrer Gründung im Jahr 1923 bis zur Machtergreifung Erdoğans eigentlich immer war. Erdoğan hat entgegen der Erwartungshaltung Schröders Europa überhaupt keinen Zuwachs an Sicherheit gebracht. Ganz im Gegenteil gefährdet die Türkei unter Erdoğan den regionalen und sogar den internationalen Frieden wie noch nie zuvor in ihrer Geschichte seit der Gründung der Republik.

Der Aufstieg der AKP in der Türkei hat auch Deutschland keine Stabilität gebracht. Ganz im Gegenteil wissen die Deutschen nicht so recht, was sie mit den vielen eingebürgerten Erdoğan-Anhängern, die öffentlich die Wiedereinführung der Todesstrafe fordern, einem Diktator zujubeln, R4bia- oder Wolfsgrüße zeigen und wie noch nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik die Einwanderungsgesellschaft stören, anfangen sollen.

Türken pauschal als „Muslime“ abgestempelt

Schröder: „Meine Damen und Herren,

wer in Deutschland mit diesem Thema eine Art “neuen Kulturkampf” beginnen will, der will den Menschen vormachen, Muslime ließen sich aus unseren Kulturen und Gesellschaften heraushalten. Das ist falsch und gefährlich.

Denn es war immer der unmittelbare Austausch zwischen Menschen aus beiden Kulturen, die unsere Völker einander näher gebracht haben. Bei uns in Deutschland leben mehr als zweieinhalb Millionen türkischstämmige Bürgerinnen und Bürger.“ 

Sozialdemokratische und grüne Inklusionspolitik über die Religion haben erst recht einen neuen Kulturkampf verursacht und wie hier zu erkennen ist, waren sie es, die diesen herbeigeschworen haben. Türkinnen und Türken werden heute – selbst wenn sie wenig bis gar nichts mit Religion zu tun haben – vor allem als “Muslime” wahrgenommen und als solche abgestempelt. Ausserdem hat die Erdoğan-Diktatur die Beziehungen zwischen den Türkinnen und Türken, die in Deutschland leben, und der Einwanderungsgesellschaft massiv verschlechtert. Ich erinnere an seine Nazi-Vergleiche, seine Hetze gegenüber den Deutschen und natürlich an seine neue neue Drohung, deutsche Touristen verhaften zu lassen. Es kann heute auch davon ausgegangen werden, dass die Ablehnungshaltung der deutschen Bevölkerung gegenüber einem EU-Beitritt der Türkei wohl noch nie stärker war als heute, was aufgrund der Umstände nachvollziehbar, wenn nicht gar berechtigt ist.

Die Hoffnung, als letztes gefressen zu werden

„Sie, Herr Ministerpräsident, haben dazu aufgerufen, diese Brücke zwischen den Menschen unserer Länder durch Integration weiter zu stärken. Ich kann Ihnen versichern, dass die Bundesregierung ihre Integrationspolitik konsequent fortsetzen wird. Ihre Außenpolitik, Herr Ministerpräsident, belegt, dass Sie sich der Brückenfunktion der Türkei sehr bewusst sind. Sie pflegen enge Beziehungen zu Israel, durch persönliche Kontakte haben Sie das Verhältnis zu Syrien verbessert. Ihre verantwortungsvolle Zypern-Politik fand international Respekt.

Meine Damen und Herren,

die heutige Auszeichnung als “Europäer des Jahres” ist nicht nur eine Anerkennung der tiefgreifenden Reformen in der Türkei. Sondern sie ist auch Ansporn, diesen Weg weiter zu gehen, um die Türkei an Europa heranzuführen. Die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen ist allerdings erst der Beginn eines langen Prozesses. Ich habe keinen Zweifel, dass dieser Weg die Türkei nach Europa führen wird. Große Anstrengungen und Herausforderungen liegen vor Ihnen. Auf die Unterstützung Deutschlands können Sie sich verlassen.

Herr Ministerpräsident, es ist mir eine außerordentliche Ehre, Ihnen am deutschen Nationalfeiertag nun diese Auszeichnung überreichen zu dürfen.” 

Den Schluss der Rede lasse ich unkommentiert und überlasse ihn der Selbstreflexion meiner Leserschaft. Ich schließe mit den Worten Churchills, die er anlässlich einer Radioansprache am 20. Januar 1940 ausgesprochen hat:

“Each one hopes that if he feeds the crocodile enough, the crocodile will eat him last. All of them hope that the storm will pass before their turn comes to be devoured. But I fear greatly that the storm will not pass. It will rage and it will roar ever more loudly, ever more widely.”

 

Emrah Erken ist Anwalt in Zürich. Dieser Beitrag erschien zuerst bei Freiheit oder Scharia.


Autor: Redaktion
Bild Quelle: Carlos Latuff [Public domain]


Mittwoch, 26 Juni 2019