Mein Israel - was ist in den letzten 50 Jahren aus dir geworden?

Mein Israel - was ist in den letzten 50 Jahren aus dir geworden?


Im November 1969 bereiste ich das Land erstmals mit einem Jugendaustausch - Seither hat sich die Bevölkerung mehr als verdreifacht – wie war das möglich?

Mein Israel - was ist in den letzten 50 Jahren aus dir geworden?

Von Albrecht Künstle

Du bist hässlich geworden, muss ich feststellen, wenn ich im Fernsehen kritische Reportagen über Israel sehe. Das gilt jedenfalls für deine Grenzen zum Westjordanland und Gazastreifen hin, mit deinen bis zu acht Meter hohen Betonwänden. Bei meinem letzten Besuch 2000 standen diese noch nicht. Schützen sie dich eigentlich vor den Raketen der Hamas, Islamischer Djihad und den Feuerdrachen des Palästinenser-Nachwuchses? Und so viele Siedlungen außerhalb deines eigentlichen Staatsgebietes gab es bei meinem Erstbesuch 1969 auch noch nicht.

Was ist geschehen, dass 2002 mit dem Bau der Sperranlagen begonnen wurde? Ein Blick in die Bevölkerungsstatistik erklärt das meiste. Als ich vor genau 50 Jahren dort war – Golda Meir war Ministerpräsidentin – hatte Israel noch unter 3 Mio. Einwohner. In diesem Jahr wurden 9 Mio. überschritten! Über die unbefestigten Grenzen kamen nicht nur palästinensische Terroristen, sondern – man höre und staune – viele muslimische Araber, die den „Judenstaat“ Israel ihren islamischen Herkunftsländern vorgezogen haben. Deren Anteil beträgt 21 Prozent, dazu kommen zigtausende jüdische Mizrachim aus dem Nahen Osten, Afrika und Asien. Ein Viertel der Bevölkerung kommt aus diesen Ländern. Aber nicht nur diese, auch andere Afrikaner kamen auf dem Landweg – nicht wie bei uns per Schiff, Bahn, Bus und Flugzeug.

Aber jetzt steht das „antiarabische Bollwerk“, und die Bevölkerung wächst immer noch, wird mir entgegen gehalten. Das Wachstum betrug in den letzten zehn Jahren knapp zwei Prozent im Jahr. Ein Grund ist der anhaltende Zustrom aus Osteuropa und Russland, wo Juden immer noch kein gutes Leben haben. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wanderten über eine Mio. Juden aus den Nachfolgestaaten nach Israel ein. Neun Prozent der Bevölkerung sprechen russisch. Diese Migration nimmt jetzt ab – weil es in den Ostgebieten immer weniger Juden gibt. Aber immerhin 24 Prozent der israelischen Bevölkerung ist im Ausland geboren. Altkanzler Kohl hat in seinen Regierungsjahren ein Mehrfaches hergeholt. Israel holte sie nicht, sie kamen einfach. Und wir Deutsche haben am wenigsten Grund, Israel Migrationseuphorie vorzuwerfen, sie ist bei uns ausgeprägter. Doch jetzt beginnt die Flucht von Juden aus Frankreich (100.000) und zunehmend auch aus Deutschland nach Israel.

Israel ist auch Zufluchtsland von Christen aus Syrien und dem Nordirak. Seit 2014 sind dort die Aramäer als eigenständige Bevölkerungsgruppe anerkannt. Deutschland könnte sich eine Scheibe abschneiden, das seine Tore lieber für Muslime offen hält. Und Antisemitismus nur aus der rechten Szene beklagt, statt zunehmend durch das korangeprägte Umfeld. Was dazu führen könnte, dass es mehr Übersiedlungen von Juden aus Deutschland nach Israel geben wird – nach Nahost, aus dem die Merkelgäste kommen. Eine kleine, entgegengesetzte Völkerwanderung.

Doch selbst wenn die Zuwanderung nach Israel ausbleibt: Die Bevölkerung würde trotzdem zunehmen. Die Geburtenrate in Israel beträgt 21 Promille, bei nur 5 Promille Sterberate. Die Ursache sind durchschnittlich 3,1 Kindern je Familie. Dabei sind 46 Prozent säkulare Juden durch Geburt. Diese haben ähnliche Kinderzahlen wie bei uns, also ein oder zwei Kinder. Doch das wird überkompensiert durch insbesondere sieben Prozent ultraorthodoxe Juden mit oft zehn Kindern. Noch mehr schlagen die muslimischen Familien mit auch mindestens fünf Kindern zu Buche, weil diese Bevölkerungsgruppe größer ist. Beide Gruppen zusammen machen 40 Prozent der Neugeborenen aus.

Was hat das alles mit der umstrittenen Politik Israels zu tun, wird entgegnet. Doch die inzwischen 400 EW/km² brauchen Arbeitsstätten, Wohnungen und die Landwirte zur Ernährung der steigenden Bevölkerung viel Land. Zieht man die Wüstengebiete des Negev ab, der nur wenig besiedelbar ist, und die ebenfalls dünn besiedelte Golanhöhe, beträgt die Einwohnerdichte im bewohnten Israel 700/km², damit dreimal so hoch wie im dicht besiedelten Deutschland, und die höchste im Nahen Osten.

Aber der Landwirtschaft in Israel steht nur ein Viertel des Landes zur Verfügung, mit der es ihre Bevölkerung ernähren und Devisen durch den Zitrusfrüchte- und Gemüseexport und anderem erwirtschaften muss. In diesem Dilemma liegt begründet, weshalb Siedler auf eigene Faust auch ins Westjordanland ausweichen – und die Regierung ein Auge zudrückt, was sie nach dem Völkerrecht nicht dürfte. In den besetzten Gebieten gibt es über 200 solcher Siedlungen, darunter vier Städte mit mehr als 15.000 Einwohnern. Nur wenige illegale Siedlungen werden zwangsgeräumt, weil die Regierung sonst Gettos um ihre Zentren riskiert.

Könnte Israel sich aus der Westbank zurückziehen und die Versorgung seiner Bevölkerung den Palästinensern und Arabern im Westjordanland überlassen? Dieser Gedanke ist naheliegend, aber meine Erfahrung aus mehreren Israelbesuchen spricht dagegen. Bei einer meiner Visiten dort fuhren wir durch eine Modellprojekt-Siedlung (auf israelischem Gebiet). Auf der einen Seite der Hauptstraße waren jüdische Familien angesiedelt, auf der anderen arabische. Die Siedlung war erst fünf Jahre alt, aber man brauchte uns nicht zu sagen, wer auf welcher Seit wohnt. So vermüllt wie es um die Häuser der einen Seite aussah, so verwahrlost waren auch die Felder dahinter. Und so sieht es leider auch im Westjordanland aus. Soll dieses ohne die Siedler auch die israelischen Nachbarn ernähren können?

Wem soll Niemandsland im Nahen Osten gehören? Historisch gesehen können dort alle Volksgruppen aus irgend einer Epoche heraus Anspruch auf die Ländereien erheben, nicht nur die Juden. Dieser Aspekt ist m.E. Erachtens aber wenig zielführend. Eine Losung vieler „populistischer“ Bewegungen lautet: „Gebt das Land denen, die es bewirtschaften!“ Vor diesem Hintergrund fällt zumindest mir eine Antwort leichter, wem solches Land gehören soll. Außer den Israelis ist niemand in der Lage, die zunehmende Bevölkerung in jener Region zu versorgen.

Noch ein Kriterium: Im jüdischen Israel können auch muslimische Araber, Christen und andere repressionsfrei und gut leben. Sie können dort eigene Parteien gründen und sind in der Knesseth vertreten. Wo ist das in den Israel umgebenden Ländern der Fall? Würden die Juden in den arabischen Nachbarländern akzeptiert? Ein Blick in den Koran gibt die Antwort. Alleine im Libanon – aus dem die Hisbollah immer wieder Nordisrael attackiert – gibt es (fast) eine friedliche Koexistenz zwischen Muslimen und Christen. Juden jedoch nicht, die kann man dort zählen. Wer also für Multikulti ist, müsste an der Seite des Vielvölkerstaates Israels stehen.

Womit ich meinen Rückblick auf 50 Jahre Israel schließe. Es gab Zeiten, da wusste ich nicht, ob das israelische oder palästinensische Herz in meiner Brust stärker schlug. Seit ich weiß, dass die während und nach dem Unabhängigkeitskrieg 1948 und nach dem Sechstagekrieg 1967 geflohenen palästinensischen Araber zum geringsten Teil vertrieben, sondern von ihren Islamisten-Führern zum Verlassen ihrer Dörfer aufgefordert wurden, ist mein Mitgefühl für die Palästinenser nicht mehr ganz so ausgeprägt. Insbesondere nicht, weil ich heute auch weiß, dass den Palästinensern ebenso ein eigener Staat angeboten worden war. Was sie allerdings ablehnten, weil sie damals wie heute das Existenzrecht Israels ablehnen.

Heute sage ich, „mein“ Israel, du bist doch nicht so hässlich, wie ich eingangs beklagte. Es ist höchste Zeit, dir den nächsten Besuch abzustatten.


Autor: Albrecht Künzle
Bild Quelle: Archiv


Freitag, 15 November 2019