Herr Kemmerich, die WerteUnion und der Fall der Mauer

Herr Kemmerich, die WerteUnion und der Fall der Mauer


Ein polemischer Abgesang auf das bürgerliche Lager

Herr Kemmerich, die WerteUnion und der Fall der Mauer

Von Gastautor Willy Herrmann

Ein bürgerlicher Kandidat ist gewählt worden, in einer freien und geheimen Wahl! Was für eine Überraschung! Das Problem, wie nach den ersten begeisterten Äußerungen zu vernehmen war: Er ist von den Falschen gewählt worden.

Die Mucksmäuschenstille des aus allen bürgerlichen Poren quellenden Angstschweißes war ohrenbetäubend, denn als der Ministerpräsident dann mitsamt seiner Familie Polizeischutz brauchte, als sein Haus keine Sicherheit mehr bot, weil seine Frau und die gemeinsamen Kinder beschossen wurden, sagte das bürgerliche Lager tagelang nichts. Es war vollständig damit beschäftigt, mit einer Lösung für ein selbst konstruiertes Problem überfordert zu sein und ergab sich wehrlos seinen Kontaktschuldängsten. Mit viel Haltung, aber ohne Rückgrat, ließ es einen der Seinen im Regen stehen. Ob sich noch jemand für dieses Lager freiwillig als Kandidat engagieren wird, darf durchaus bezweifelt werden. Es tendiert dazu, lieber einen aus seinen Reihen dem Mob zu opfern, statt gemeinsam für ihn einzustehen. Oh, zum Glück bin ich selbst nicht das Opfer, denkt sich der zurückschreckende Bürgerliche und geht einfach so weiter.

Und da war dann noch die WerteUnion. Die musste als Sündenbock für das durch Teile des bürgerlichen Lagers selbst angerichtete Chaos in Thüringen herhalten, denn: Um den Rändern Gegenwind zu geben, braucht es mehr Mut. Auch hier ist das bürgerliche Lager genauso voller Haltung, wie es bei näherer Betrachtung voller Feigheit ist. Es stellt für Teile des bürgerlichen Lagers nicht mal mehr ein Problem dar, beim Kampf nach innen die Sprache der Nationalsozialisten zu verwenden, und genauso galant wie armselig die WerteUnion als „Krebsgeschwür“ zu bezeichnen. Niemand, wirklich niemand aus diesem Lager bemerkt das, man ist ja ständig bemüht, dem linken Lager mit viel linker Haltung zu gefallen. Nur wird dieses „Gefallen wollen“ nie enden, das linke Lager pocht schließlich inzwischen aufgrund der bewährten Ergebnisse der bürgerlichen Unterwerfung konsequent und einschüchternd auf dieses Gewohnheitsrecht. Die Ränder jauchzen und frohlocken: Das feindliche Lager der bürgerlichen Mitte verzwergt sich von innen. Welch komfortable Lage, jubeln die Ränder, dass nicht mal mehr gekämpft werden muss, der Gegner erledigt sich in vorauseilendem Gehorsam selbst.

Nach und nach bröckelt die Mauer, die das bürgerliche Lager selbst umgibt, und es fällt diesem Lager vor lauter inneren Feindseligkeiten nicht einmal mehr auf, dass es an seinen Grenzen immer verletzlicher wird. Es bringt schon keine Mehrheiten mehr auf und begnügt sich zur Sicherung der Posten mit immer beliebigeren und abenteuerlicheren Koalitionen, es reißt seine linken Grenzbäume sogar selbst dafür nieder.

Nur zu einem wäre dieses Lager nicht in der Lage. Es waren 3000 Bürgerrechtler in der DDR, die den Mut hatten, Widerstand gegen den Unrechtsstaat zu organisieren. Es waren die Bürgerlichen der DDR, die diese 3000 Bürgerrechtler unterstützt haben. Gemeinsam haben sie Mauern eingerissen, aber es waren in diesem Falle die Mauern, die sie vor der Freiheit schützten. Die modernen Bürgerlichen würden die Bürgerrechtler verraten und verkaufen, die Chance auf Befreiung wäre durch Mutlosigkeit und Opportunismus des Bürgerlichen vertan.

Das ist die schlimmste Lehre aus den vergangenen Wochen: Das bürgerliche Lager hat keinen Mut mehr, für sich selbst und die demokratische Freiheit einzustehen. Es ist das bürgerliche Lager, das gerade dabei ist, eine Wiederholung der Geschichte zu ermöglichen.

 

Vera Lengsfeld, Publizistin, war eine der prominentesten Vertreterinnen der demokratischen Bürgerrechtsbewegung gegen die "DDR"-Diktatur, sie gehörte 15 Jahre dem Deutschen Bundestag als Abgeordnete der CDU an. Vera Lengsfeld publiziert auch in der Achse des Guten und in der Jüdischen Rundschau.


Autor: Vera Lengsfeld
Bild Quelle: Screenshot Facebook


Sonntag, 16 Februar 2020