Die hundert Jahre alten Lektionen aus einem Pogrom in Jerusalem

Die hundert Jahre alten Lektionen aus einem Pogrom in Jerusalem


Bei den Nebi Musa-Unruhen, die letzte Woche vor 100 Jahren stattfanden, wurden fünf Juden getötet, hunderte wurden verletzt und ein Muster für Jahrzehnte antijüdischer Feindseligkeit geschaffen.

Die hundert Jahre alten Lektionen aus einem Pogrom in Jerusalem

Von Sean Durns, MOSAIC

Für Juden ist der Monat April derart mit Gedenktagen vollgestopft – vom Exodus aus Ägypten bis zum Aufstand im Warschauer Ghetto – dass es leicht ist einen zu verpassen, besonders dieses  Jahr, in dem die Coronavirus-Pandemie so viel Aufmerksamkeit aufsaugt. Aber selbst, wenn das nicht so wäre, könnte einem vergeben werden am 14. April den hundertsten Jahrestag des Ausbruchs der Nebi Musa-Unruhen in Jerusalem übersehen zu haben. Benannt sind die Unruhen nach dem muslimischen Fest zur Erinnerung an die Geburt von Moses; an diesem begannen sie, die Unruhen hinterließen 5 tote Juden, 211 Verletzte und mindestens zwei vergewaltigte Frauen.

Mit einem Jahrhundert Abstand erscheint es, dass vieles vom arabischen Antagonismus gegen die Juden sich nicht verändert hat. Wenn wir uns um die politischen Interessen der Unruhen, die Art und Weise, wie sie angestiftet wurden und ihre Folgen kümmern, können wir ähnliche Elemente der antijüdischen Strategie erkennen, wie sie seitdem eingesetzt wurden. Mein Ziel anlässlich dieses 100-jährigen Jubiläums ist es nicht, eine leidenschaftslose Zusammenfassung der Ereignisse zu liefern, sondern die Geschichte der Affäre als Kontext für die heutigen Verteidiger Israels anzubieten, damit sie wiederkehrende Muster im Verhalten ihrer Gegner identifizieren können.

Um diese Episode zu verstehen, müssen wir sie zuerst in den richtigen Kontext stellen. Das Land an der Ostküste des Mittelmeers hat bis zu dessen Auflösung im Ersten Weltkrieg zum osmanischen Reich gehört. Bei der Vorausplanung für die Zeit nach dem Krieg gab die britische Regierung im November 1917 die Balfour-Erklärung aus, die „in Palästina die Gründung einer nationalen Heimstatt für das jüdischen Volk“ forderte – aber dann einen vagen geografischen Bereich definierte.

Natürlich war Großbritannien nicht die einzige politische Macht, die Pläne für das Land schmiedete. Innerhalb der arabischen Welt flossen die Debatten darüber, was mit ihm zu tun wäre, in zwei Hauptmeinungen zusammen: eine malte sich Palästina als Teil eines ägyptischen Sultanats aus, vielleicht weiter unter osmanischer Herrschaft; die andere wünschte die Gründung eines Königreichs Syrien, zu dem nicht nur Palästina, sondern auch der moderne Libanon und Jordanien gehören sollte. In Jerusalem, zitiert der Historiker Simon Sebag Montefiore einen Jerusalemer Soldaten namens Ihsan Turjman (dessen Kriegstagbuch später unter dem englischen Titel Year of the Locust veröffentlicht wurde), der sich ein ägyptisches Fürstentum vorstellte, zu dem nicht nur Palästina, sondern auch der Hedschas gehört – die Region an der Ostküste des Roten Meeres, die derzeit von Saudi-Arabien regiert wird. Im Gegensatz dazu war Khalil Sakakini, ein griechisch-orthodoxer Schriftsteller und Aktivist, der sich für ein arabisches kulturelles Wiedererwachen einsetzte und später Anhänger des Dritten Reichs war, ein lautstarker Parteigänger der syrischen Option.

Für Araber auf beiden Seiten der Debatte war eines klar: Die Balfour-Erklärung mit ihrer Zustimmung zu jüdischen nationalen Ansprüchen ging gar nicht. Weniger klar war die Bedeutung des absichtlich vagen Begriffs „jüdische Heimstatt“ in der Erklärung, aber es war offenkundig, dass, was immer sie bedeutete, die langjährige Beziehung zwischen den Juden und den sie Jahrhunderte lang über sie herrschenden Nichtjuden verändert würde – eine Veränderung, die die meisten arabischen Führer als inakzeptabel erachteten.

Einen Monat vor Ausbruch der Unruhen in Jerusalem hatte sich am 8. März 1920 Feisal, der dritte Sohn des Großscherifs von Mekka und Führer des von den Briten geführten und finanzierten „Arabischen Aufstands“ gegen die Osmanen, in Damaskus selbst zum König von Syrien gekrönt. In der Hoffnung die Gunst der Briten zu gewinnen hatte Feisal im Juni 1918 dem Zionistenführer Chaim Weizmann gesagt, er unterstütze die Balfour-Erklärung. Seine Unterstützung war nicht von langer Dauer. Der verstorbene Diplomat und Schriftsteller Conor Cruise O’Brien hielt fest: „Sobald Feisal und seine Anhänger in der zweiten Hälfte des Jahres 1919 erkannten, dass die Briten seinen Anspruch auf den Thron in Damaskus nicht wirklich stützten, lebte [sein früherer] Anspruch auf ein vereintes Syrien einschließlich Palästinas wieder auf und der panarabische Nationalismus nahm eine pansyrische und sehr militante Wende.“ Zu den ersten Handlungen als König gehörte eine Erklärung, die Frankreich und Großbritannien aufforderte sich aus dem westlichen und südlichen Syrien zurückzuziehen, also aus den Gebieten, in denen heute der Libanon und Israel liegen. Er schuf und versammelte sogar einen „Allgemeinen syrischen Kongress“, der natürlich seine Ansprüche unterstützte. Seine Hoffnung war, den europäischen Mächten einen funktionierenden Staat zu präsentieren, dem sie im Nachhinein ihre Zustimmung geben konnten.

Während Feisal damit beschäftigt war diese Intrigen zu spinnen, blieb Palästina unter der Kontrolle der Britisch Occupied Enemy Territory Administration (OETA), einer Militärregierung, die im Oktober 1918 eingesetzt wurde. Viele führende OETA-Beamte unterstützten Feisal in seinem Anspruch nicht nur auf das eigentliche Syrien, sondern auch auf Palästina. Für einige schien Feisal Syrien zu geben der beste Weg zu sein die Briten zu stärken und die französischen Planungen in dem Gebiet zu vereiteln; Palästina in den Handel einzubringen würde helfen seinen Erfolg zu garantieren. Andere stützten Feisal eben um Balfour zu untergraben – vielleicht aus praktischen Überlegungen heraus, aus Feindschaft den Juden und dem Zionismus gegenüber oder einer Kombination daraus.

Damit strebte die OETA an Feisal darin zu unterstützen London ein fait accompli in der Form eines „Vereinten Syrien“ unter seiner Herrschaft zu präsentieren. Bereits Anfang 1919 stellte der Zionistenführer Wladimir Jabotinsky fest: „Die palästinensischen Behörden handeln auf eine Weise, die den Arabern eindeutig sagt, dass die [Balfour-] Erklärung nicht erfüllt werden muss.“

Unter diesen Umständen zettelte eine Gruppe arabischer Pro-Feisal-Aktivisten Aktionen auf der Straße an; damit hofften sie eine fortlaufende intra-arabische und intra-britische Debatte über das Schicksal Palästinas zu beeinflussen. Am 4. April 1920, auf dem Höhepunkt des Nebi Musa-Festivals, für das zehntausende Pilger jährlich in die Gegend strömten, begannen anonyme arabischsprachige Aushänge in Jerusalem aufzutauchen, in denen es hieß: „Die Regierung ist auf unserer Seite, [der britische General Edmund] Allenby ist auf unserer Seite, tötet die Juden; es gibt keine Strafe dafür Juden zu töten.“ Dann, wie der amerikanische Experte für Außenpolitik Bruce Hoffman es in seinem Buch Anonymous Soldiers 2015 dokumentierte:

hatte sich bis zum Vormittag eine große Menschenmenge vor dem Jaffa-Tor versammelt. Aufgestachelt von tendenziösen Rednern aus dem nahe gelegenen Arabischen Verein, begann die Menge den arabischen Reim zu skandieren „Palästina ist unser Land, die Juden sind unsere Hunde!“

Haddsch Amin al-Husseini – den die Briten im Jahr darauf zum Großmufti von Jerusalem ernennen sollten – hielt ein Bild von Feisal hoch und rief: „Das ist unser König!“ Andere in der Menge proklamierten: „Feisal ist unser König!“ Der Zeitungsredakteur und enthusiastische arabische Nationalist rief: „Wenn wir unsere Kraft nicht gegen die Zionisten wenden und gegen die Juden, werden wir sie nie los werden.“ Die rasende Menge begann zu brüllen: „Wir werden das Blut der Juden trinken.“ Die beiden Zutaten – vollgepackte Straßen und glühende Aufwiegelung – ließen die Flammen aufgehen. Das Pogrom hatte begonnen.

Tausende Araber rannten durch die Straßen Jerusalems, warfen Steine auf Juden, zerstörten Thora-Rollen, setzten eine Jeschiwa und mehrere Häuser in Brand, brachen in Gebäude ein, plünderten und so weiter. Sie machten das vier Tage lang, vom 4. bis 7. April, ohne dass die britische Obrigkeit bis zum Ende sonderlich eingriff. Als die Unruhen vorbei waren, waren fünf Juden und vier Araber tot und hunderte weitere Juden verletzt, einige lebensgefährlich.

Die Zionistenführer waren empört. Vorher hatten mehrere Sorge angesichts der zunehmend angespannten Lage zum Ausdruck gebracht – nur um zu erfahren, dass ihre Bedenken abgetan wurden. Als das Blutvergießen ausbrach, wandte sich Jabotinsky an den Militärgouverneur von Jerusalem Ronald Storrs und forderte die Erlaubnis Mitglieder der Haganah zu bewaffnen; die Haganah war eine gerade gegründete jüdische Verteidigungsorganisation, die eingesetzt werden sollte, um Leben und Besitz zu schützen. Storrs lehnte ab. Britische Truppen verboten sogar Mitgliedern der Haganah den Zutritt zur Altstadt, wo sie ihre jüdischen Glaubensgeschwister verteidigen wollten.

Einige jüdische Führer, darunter Jabotinsky und andere von der zionistischen Rechten, interpretierten die britische Reaktion auf Nebi Musa als Beweis für Vertrauensbruch. Sie zweifelten jetzt daran, dass die Briten sich weiter der Balfour-Erklärung verpflichtet betrachteten und ihre Zweifel sollten in den folgenden Jahren weiter zunehmen.

Tatsächlich begnadigte der neue Zivilgouverneur Herbert Samuel nach den Unruhen sowohl Husseini und Aref, als auch Jabotinsky, dem zusammen mit neunzehn jüdischen Verteidigern illegaler Waffenbesitz vorgeworfen wurde und als Geste der „Objektivität“ zunächst dieselbe Verurteilung wie Husseini erhielt. Und wie erwähnt versuchten die Briten später Husseini zu beschwichtigen, indem sie ihn zum Großmufti und Führer des Obersten Muslimrats ernannten – Ouvertüren, die er dadurch vergalt, dass er sich mit Hitler verbündete.

Ein Präzedenzfall war geschaffen. Den Nebi Musa-Unruhen folgte in der Zeit der britischen Herrschaft weitere antijüdische Gewalt, die in der Revolte von 1936-1939 gipfelte und die dann 1947 erneut hochkam.

Was Feisals Traum eines „Großsyrien“ angeht, sollte er nie Wirklichkeit werden. Französische Streitkräfte setzten ihn am 25. Juli 1920 ab und danach gingen Syrien und der Libanon den einen Weg, Jordanien und Palästina einen anderen. In der Folge sollten viele seiner Anhänger dazu kommen einen eigenen Palästinenserstaat als das einzige praktikable Gegenmittel zum Zionismus zu betrachten.

Aber dieser verspätete und freiheitsliebende Wunsch nach einem unabhängigen palästinensischen Staat war nicht die Inspiration für die antijüdische Gewalt, die vor 100 Jahren geschah. Bei dem Versuch arabische Gewalt im Nahen Osten zu verstehen, egal ob in jüngerer Zeit oder in der Vergangenheit, greifen westliche Analysten in der Regel auf vorhersagbare Klischees zurück: Unruhen sind das Resultat von Unmut, Unterdrückung, Armut oder vielleicht „uraltem Hass“; wo an den Unruhen Palästinenser beteiligt sind, sind sie auch das Ergebnis enttäuschter nationaler Bestrebungen. Manchmal haben diese Klischees wahre Elemente, aber meistens verschleiern sie mehr als die erhellen, besonders wenn sie mit der gleichermaßen fehlgeleiteten Tendenz kombiniert werden arabische Politik einzig durch das Prisma westlicher oder israelischer Politik zu betrachten.

Im Fall der Nebi Musa-Unruhen passt keine dieser Erklärungen. Soweit nationale Bestrebungen involviert waren, hatten sie nichts mit palästinensischer Eigenstaatlichkeit und alles mit der Eingliederung der palästinensischen Araber nach Großsyrien zu tun. Beschuldigungen über Misshandlungen passten genauso wenig in die Aufstachelung, von der sie ausgelöst wurden. Stattdessen waren die Unruhen erstens ein Versuch die arabische Meinung zu beeinflussen, indem Unterstützung der syrischen, nicht der ägyptischen Lösung gezeigt wurde. Zweitens, und das ist wichtiger, sollten sie die britische Meinung in dieselbe Richtung beeinflussen.

Wenn heute der Palästinensische Islamische Jihad oder Hamas Raketen auf Israel feuern oder Mahmud Abbas von der palästinensischen Autonomiebehörde Jerusalemer Araber zu Gewalt aufhetzt, hat die unmittelbare Ursache viel mehr mit interner palästinensischer Politik zu tun als mit allem anderen. Die relativ verhaltene Reaktion auf Amerikas Entscheidung seine Botschaft nach Jerusalem zu verlegen zeigt, wie stark Westler die Bedeutung ihrer Entscheidungen übertreiben.

Das heißt aber nicht, dass internationale Akteure überhaupt keinen Einfluss haben und das bringt uns zur zweiten Lektion aus den Nebi Musa-Unruhen: Wenn mächtige Persönlichkeiten Antizionisten dazu ermutigen zu glauben, ihre Sache könnte Erfolg haben, ist das Ergebnis davon oft das Vergießen jüdischen Blutes. Durch ihren offenkundigen Mangel an Einsatz für die Bestimmungen der Balfour-Erklärung signalisierte die lokale britische Obrigkeit den arabischen Führern, dass ein paar unangenehme Störungen ausreichen dürften in London die Nadel der Waage zu bewegen. Die Mandatsregierung machte dann alles noch schlimmer, indem sie „Ausgewogenheit“ demonstrierte, was darauf hinauslief denen, gegen die, die zu Gewalt anstifteten und die, die versuchten sich dagegen zu verteidigen, dieselben Strafen zu verhängten – und dann alle begnadigten.

Als wäre das nicht schlimm genug belohnten die Briten Husseini auch noch für seine Rolle, indem sie den Posten des Großmuftis von Jerusalem schufen und ihn mit diesem ehrten. Er kam nicht ohne Berechtigung zu dem Schluss, dass das Risiko für das Anzetteln von Pogromen gering war und griff daher 1929 und erneut von 1936 bis 1939 auf diese Taktik zurück. Erst der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs überzeugte die Briten, dass sie keine weiteren Unruhen tolerieren könnten und dass es unumgänglich war energisch dagegen vorzugehen.

Die Parallelen zur jüngeren Geschichte sind klar. Wenn die sogenannte internationale Gemeinschaft – also Europa, manchmal gemeinsam mit den USA – ihre Bereitschaft signalisiert Israel unter Druck zu setzen, es solle Zugeständnisse machen, egal wie die Palästinenser sich verhalten, dann sendet die Reaktion, mit rhetorischer „Ausgewogenheit“ auf Terrorismus zu reagieren und Aufstachelung zu Gewalt zu vergeben oder zu übersehen eine klare Botschaft, dass Terrorismus, Korruption, Uneinsichtigkeit und Antisemitismus sie kaum etwas kostet.

Es ist sogar noch schlimmer, wenn westliche Staaten den schlimmsten Akteuren Ehren verleihen, wie es die Briten mit Husseini machten und als Yassir Arafat 1974, nur zwei Jahre nach dem Massaker von München^, eingeladen wurde vor der UNO zu sprechen. Arafat war 1993 in Oslo das gekrönte Haupt des geplanten Palästinenserstaats und dann wurde ihm 1994 der Friedensnobelpreis verliehen. Palästinenserführer haben daher allen Grund zu dem Schluss zu kommen, wie vor einem Jahrhundert auch, dass „es für das Töten von Juden keine Strafe gibt“. Und Mahmud Abbas hat zwar weniger Blut an seinen Händen als Arafat, aber seine regelmäßige und durchaus gut dokumentierte Aufstachelung zu Unruhen, Messeranschlägen und Auto-Rammanschlägen haben seinem Ansehen in den diplomatischen Kreisen Europas nicht geschadet.

Diese Warnungen werden aus den Nebi Musa-Unruhen von 1920 gezogen. Die Folgen unserer Versäumnisse ihnen gemäß zu handeln sind nur allzu offensichtlich.

 

Übersetzt von Heplev - Foto: ine antizionistische Demonstration am Damaskustor in Jerusalem, 8. März 1920


Autor: Heplev
Bild Quelle: Wikimedia


Freitag, 08 Mai 2020