Ausnahme als Dauerzustand

Ausnahme als Dauerzustand


Eigentlich sollte man den Begriff „Corona-Krise“ vermeiden. Er lenkt nämlich davon ab, dass es sich um eine Demokratie- und Rechtsstaatlichkeitskrise handelt.

Ausnahme als Dauerzustand

Von Oliver Kuhnert

Selbst der Begriff „Krise“ fungiert noch als Ablenkung und Beschönigung des wahren Sachverhalts. Denn von einer Krise, also von einem vorübergehenden Konflikt, einer vorübergehenden Funktionsstörung, einer vorübergehenden Belastung, kann nun wirklich nicht die Rede sein.

Die Situation, in der wir uns befinden, ist die Ausnahme als Dauerzustand. Dauerhaft an der „Ausnahme“ ist zum einen die Aufrechterhaltung unzumutbarer und rechtswidriger Zustände, zum anderen die fehlende bzw. unterdrückte Aufarbeitung. Das gilt auch für andere Schicksalsthemen, z.B. für die Energiewende und die sogenannte Flüchtlingskrise, die allesamt die Zukunft des deutschen Volkes überschatten. Was Stephan Kohn im BMI-Corona-Papier dem Corona-Krisenmanagement diagnostiziert hat, ist geradezu die Blaupause des Merkelismus: Nach zunächst ungenutzter Zeit werden Entscheidungen und Maßnahmen von ungeheurer Tragweite getroffen, ohne eine Multi-Gefahrenanalyse vorgenommen zu haben, wodurch sich das Problem verschärft und unabsehbar verlängert.

Wir rasen in einem Fahrzeug ohne Bremsen und ohne Lenkrad auf den in der Ferne schimmernden Abgrund zu. Unklar ist nur, wann wir hinunterstürzen und wie tief.

Zweckmoral

Erinnern wir uns noch einmal an den Beginn der Panik-Politik. Ursprünglich sollte vor allem eine Überlastung des Gesundheitssystems verhindert werden. Wie schon 2015, wollte man wahrscheinlich unschöne Bilder vermeiden. Andere unschöne Bilder, dankbarerweise in die Zukunft verlagert, nahm man dafür gern in Kauf. Es hat sich ja bewährt. 

Das Ziel, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden, war anfänglich Konsens. Dieses Ziel ist jedoch doppelt fragwürdig. Zum einen ist die Gefahr der Überlastung längst gebannt, aber die Maßnahmen wurden und werden mit ständig wechselnden Pseudo-Begründungen aufrechterhalten. Ging und geht es also gar nicht um das Gesundheitssystem? Zum anderen war zumindest mir nie ersichtlich, wieso eine unbestimmte Anzahl potenzieller Kranker Vorrang vor einer bestimmten Anzahl aktueller Kranker haben soll. Durch die Absage von Operationen, Vor- und Nachsorgeuntersuchungen hat man keine Triage verhindert, sondern eine Triage von noch größerem Ausmaß vorgenommen. Man hat Menschenleben faktisch gefährdet und geopfert, um in der Lage zu sein, eventuell Menschenleben zu retten.

Selbst wenn es die prognostizierte Menge an Corona-Patienten gegeben hätte, wäre eine Triage nicht verhindert, sondern durch die in Kauf genommenen Nicht-Corona-Opfer gleichwohl vollzogen worden. Deshalb hätten die Maßnahmen anhand der faktischen, wahrscheinlichen und möglichen Opfer auf beiden Seiten abgewogen werden müssen. Auch die nicht unmittelbar gesundheitlich betroffenen Opfer der Maßnahmen und die Freiheitsbeschneidungen für ein ganzes Volk hätten in diese Betrachtung miteinbezogen werden müssen. Dies nicht einzugestehen ist scheinheilig und zynisch. Ganz zu schweigen von der Verantwortung für die geopferten Menschen.

Und wofür das Ganze? Für die höhere Moral, akut bedrohte Menschen zu schützen? Aufgrund der hingenommenen Opfer ist es keine höhere Moral, sondern lediglich eine Zweckmoral. Sie funktioniert nach dem Motto: Ich treffe eine Entscheidung, die mich in der Gegenwart als verantwortungsbewusst und moralisch hochstehend erscheinen lässt, deren nicht bedachte, verheerende Auswirkungen ich jedoch in die Zukunft und auf andere Menschen abwälze.

Die Zweckmoral ist rücksichtslos und gemeinschaftszersetzend. Sie bildet sich immer dann heraus, wenn ein hoher moralischer Anspruch auf die Unkenntnis oder Ausblendung von Gefahren bzw. auf das Inkaufnehmen großen Unheils trifft. Tragischerweise richtet sich die Zweckmoral oft gegen Schutzbefohlene, seien es Einzelpersonen oder sei es ein ganzes Volk. Im nationalen Kontext findet eine solche Zweckmoral auch bei der Energiewende und bei der Grenzöffnung seit 2015 Anwendung.

Ablenkung und Spaltung

Leider bedienen sich selbst Herrschaftskritiker des herrschaftlichen Vokabulars und Narrativs, etwa indem sie einräumen, es gäbe zwar Verschwörungstheoretiker und Radikale auf den Hygiene-Demos, aber die überwiegende Mehrheit der Protestler käme aus der Mitte der Gesellschaft und verfolge legitime Ziele.

Zunächst einmal sind verrückte Verschwörungstheoretiker und falsche Verschwörungstheorien kein Beweis dafür, dass es keine Verschwörungen und keine zutreffenden Verschwörungstheorien gibt. Darüber hinaus bieten gewisse politische, wirtschaftliche und mediale Vorgänge überhaupt erst den Nährboden für Verschwörungstheorien.

Aber all das ist nebensächlich. Denn, um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Jeder, der auf diesen Demonstrationen die Grundrechtseinschränkungen anprangert, ist im Recht. Wirklich jeder. Skandalös ist die Beschneidung verfassungsmäßig garantierter Rechte, genauer gesagt: das Beschließen, Durchsetzen, Befolgen und Nicht-Aufheben dieser Beschneidung; skandalös ist die Tatsache, für verfassungsmäßig garantierte Rechte überhaupt eintreten zu müssen; skandalös ist nicht, wer dafür eintritt bzw. welche Theorien oder Überzeugungen derjenige hat, der dafür eintritt. Man falle also nicht auf die Ablenkungs- und Spaltungsfinte der Herrscher herein. Im Kontext der derzeitigen Protestbewegung gibt es nur eine einzige relevante Position: die Forderung nach vollumfänglicher Wiederherstellung der verfassungsmäßig garantierten Rechte.

Konditionierung

Die Aufrechterhaltung bzw. das nur schrittweise Lockern der „Schutzmaßnahmen“ hat einen vielfachen Nutzen. Er basiert auf stark übertriebener Gefahrensuggestion und damit verbundener Angstinduktion.

Erstens erscheinen die drastischen Maßnahmen vom Beginn der Krise auch nachträglich gerechtfertigt. Zweitens wird der angestaute Frust durch Gefühle der Erleichterung und Dankbarkeit gemildert, was Kritik am großen Ganzen einschläfert und eine Pseudoversöhnung herbeiführt. Drittens wird der Bürger auf jederzeit mögliche Verschärfungen vorbereitet und damit gefügig gehalten. Einmal etabliert, lässt sich ein solches Gefahren-Angst-Szenario mit beliebigen Inhalten füllen und auf beliebige Bereiche anwenden.

Ein praktischer Nebeneffekt dieser Taktik ist die Zurichtung der Kinder. Die Schulschließungen und jetzt die surrealen Hygienekapriolen an den Schulen könnten die schleichende Traumatisierung einer ganzen Generation von Kindern bewirken. Durch die fortdauernden und einschneidenden Maßnahmen geht ein Riss durch die kindlichen Seelen. Lebensangst wird zur bestimmenden Erfahrung. Ganz zu schweigen von Bildungsdefiziten und sozialen Mangelerfahrungen. Den Kindern werden vor allem drei Dinge vermittelt: Die Welt ist ein sehr gefährlicher Ort; von den Menschen, also auch von anderen Kindern, geht eine sehr große Gefahr aus; der Staat schützt dich vor diesen Gefahren. Quintessenz: Sei folgsam, egal, was von dir verlangt wird! Eine solche Zurichtung in so jungen Jahren garantiert Staatsgläubigkeit und Willfährigkeit, freilich auf Kosten der körperlichen und seelischen Gesundheit. Hier wird eine neue Untertanenkaste gezüchtet. Oder aber, nach dem Prinzip der Umgekehrten Psychologie, eine Generation von Widerständlern. Das wäre zu hoffen.  

   

Basierend auf der Fake-News-Kaskade von faustdicker Lüge, geleugneter Wahrheit, ignorierter Wahrheit, entstellter Wahrheit und belangloser Wahrheit, werden Kritiker stigmatisiert und alle anderen im Sinne der Herrschaftsdoktrin manipuliert. Die Manipulierten, angetrieben von falscher Angst und Moral, werden zu Bluthunden der Herrscher. Dennoch dürfen sie sich als „demokratisch gesinnte Teile der Bevölkerung“, wie Seehofer sich kürzlich ausdrückte, auf die Schulter klopfen lassen. Wenn Seehofer dann noch vom „Staat als Schutzmacht für die Bürger“ spricht, ist dies der Gipfel der Realsatire. Es erinnert auf clownesk-erbärmliche Weise an Mielkes „Ich liebe doch alle.“.

Im Moment werden die Turnhallen und Fitnessstudios unter Auflagen geöffnet. Die sogenannten Hygiene-Konzepte sind aber nicht nur freiheitsberaubend, übertrieben, unpraktikabel und unnötig, sie führen auch den Begriff „Hygiene“ ad absurdum. Was ist daran hygienisch, wenn man sich nicht umkleiden, waschen und duschen kann? Wie viele Menschen werden davon krank werden? Und wie viele Menschen werden ihre Mitgliedschaft kündigen, weil man ihren Sport durch z.T. bizarre Auflagen kaputt macht? Was haben diese Kündigungen wiederum für gesundheitliche Auswirkungen? Und wann sollen die Hygiene-Auflagen zurückgenommen werden, wenn schon ihre Einführung unverhältnismäßig ist? Hier zeigt sich exemplarisch die Absurdität der Konditionierung: Gesundheit soll geschützt werden, indem sie gefährdet wird.  

Haftung

Die Auswirkungen des „grotesken Staatsversagens“ (Stephan Kohn) sind nicht nur gesundheitlich, wirtschaftlich, sozial, rechtlich, bildungs- und ausbildungsmäßig verheerend. Sie sind schlechterdings nicht wiedergutzumachen und nicht zu verzeihen. Die Vorstellung, ja die Gewissheit, dass die Verantwortlichen niemals auch nur auf annähernd gerechte Weise für Ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden, kann man nur ertragen, wenn man jegliches Gerechtigkeitsgefühl in sich abtötet oder in religiöse Vergeltungsfantasien flüchtet.

Amtseidbruch und politisches Versagen in solch einem Ausmaß, und es ließen sich weitere Fälle nennen, müssten ein Straftatbestand sein, der vor politischen Gerichten verhandelt wird. Eine hohe Position oder ein hohes Amt zu bekleiden, sollte nur möglich sein, wenn man zugleich eine besondere Verantwortung und Haftung übernimmt. Wieso ist man, während jedes noch so kleine Vergehen einer Privat- oder Geschäftsperson geahndet wird, ausgerechnet für jene Entscheidungen und Handlungen, die von größter Tragweite für alle sind, nicht belangbar? Wie können Machtversagen und Machtmissbrauch beschränkt werden, wenn es keine geeigneten Mittel der Abschreckung, der Strafe und der Wiedergutmachung gibt?

Eine andere verlockende Idee – ich habe sie aus einem Videokommentar – ist die Haftbarmachung der Wähler. Man stelle jetzt gerne einige Gedankenexperimente an, theoretisch-abstrakte oder literarisch-konkrete.

Erstens: Die Herrscher haften für die Folgen ihres Handelns.

Zweitens: Die Wähler, Unterstützer und Anhänger der Herrscher haften für die Folgen des Handelns der Herrscher.

Drittens: Sowohl die Herrscher als auch ihre Wähler, Unterstützer und Anhänger haften für die Folgen des Handelns der Herrscher.

Ich bin sicher, diese Szenarien bieten für Utopien mindestens genauso viel Stoff wie für Dystopien. Und selbst die Dystopien hätten Vorzüge gegenüber der Realität.        

Widerstand

Man hört jetzt wieder vermehrt das berühmte brechtsche Diktum: „Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“. Dieser Appell ist zu begrüßen. Auch das darin mitschwingende Pathos müssen wir in dieser drängenden Zeit nicht fürchten oder verlachen. Dennoch möchte ich betonen, dass es keine Pflicht ist, die uns zum Widerstand treibt.

Wenn uns das Recht genommen wird, dann gibt es auch keine Pflicht mehr. Beides bedingt sich gegenseitig und beides entspringt einer Übereinkunft: dem Gesellschaftsvertrag. Wird dieser Vertrag einseitig aufgekündigt, in diesem Fall von Regierung und Staat, entfallen auch für die Gegenseite, also für den Bürger, Recht und Pflicht.

Das Bestreben, eine gestörte Rechtsordnung wiederherzustellen, gründet also nicht auf einer Pflicht oder einem Pflichtgefühl. Es gründet auf dem der Plicht und dem Pflichtgefühl vorgelagerten Bedürfnis, sich zu verpflichten, also einen Zustand innerer und äußerer Ordnung herzustellen, eine Verbindlichkeit, die alles Beliebige und bloß Individuelle überstrahlt. Dieses Ur-Bedürfnis, uns einerseits im Außen zu orientieren und zu sichern, uns andererseits in diesem Außen frei zu entfalten, haben Regierung und Staat durch ihren fundamentalen Rechtsbruch verletzt.

Unrecht und Unfreiheit müssen enden und geahndet werden. Recht und Freiheit müssen einkehren und bewahrt werden. Das wird nicht aus Güte oder Einsicht der Herrscher geschehen. Wir müssen dafür kämpfen.    

 


Autor: Redaktion
Bild Quelle: Screenshot


Freitag, 19 Juni 2020