Antisemtismus: Vom alten Hass zur Delegitimierung des jüdischen Staates

Antisemtismus: Vom alten Hass zur Delegitimierung des jüdischen Staates


Ein Auszug aus dem Working Paper #005 des Centrum für Antisemitismus- und Rassismusstudien (CARS) zum Thema Israel-Boykottbewegung BDS und documenta fifteen.

 Antisemtismus: Vom alten Hass zur Delegitimierung des jüdischen Staates

Von Florian Markl und Alex Feuerherdt

Die BDS-Bewegung gibt vor, sich für die Rechte der Palästinenser einzusetzen, die sich der israelischen »Besatzung« und dem »Kolonialismus« des jüdischen Staates widersetzen. Diese Selbstdarstellung ist bis zu einem gewissen Grad insofern erfolgreich, als sich in der öffentlichen Debatte immer noch Stimmen finden, die behaupten, bei den Forderungen der Bewegung respektive Kampagne nach einem umfassenden Boykott Israels, nach dem Abzug von Kapital (in der BDS-Diktion »Desinvestitionen«) und nach der Verhängung von Sanktionen gegen Israel gehe es wirklich nur darum, »die jahrzehntelange Besatzungspolitik zu beenden« (Frey 2022).

Mit Antisemitismus habe das nichts zu tun, die entsprechende Kritik an der BDS-Bewegung wird vielmehr als illegitimer Versuch zurückgewiesen, mittels Verwendung der »Antisemitismuskeule« bloße »Kritik« an Israel zum Schweigen bringen zu wollen. [Der britische Soziologe David Hirsh hat für diese Art der Reaktion auf Antisemitismusvorwürfe die auf den ehemaligen Londoner Bürgermeister Ken Livingstone verweisende Bezeichnung „Livingstone Formulation“ geprägt (vgl. Hirsh 2020).]

Der Deutsche Bundestag, der österreichische Nationalrat und zahlreiche andere Institutionen und Organisationen sehen das anders. Für sie sind die »Argumentationsmuster und Methoden der BDS-Bewegung (…) antisemitisch«, wie es in der am 19. Mai 2019 verabschiedeten Bundestagsresolution heißt. Man verurteile

»alle antisemitischen Äußerungen und Übergriffe, die als vermeintliche Kritik an der Politik des Staates Israel formuliert werden, tatsächlich aber Ausdruck des Hasses auf jüdische Menschen und ihre Religion sind« (Deutscher Bundestag 2019: 2). […]

Warum BDS antisemitisch ist. Ein fundamentaler Angriff auf das Judentum

Der Antisemitismus der BDS-Bewegung wird auch deutlich, wenn man sich vor Augen führt, was ihre ständigen Angriffe auf Israel für das zeitgenössische Judentum bedeuten. BDS-Befürworter behaupten zwar immer, dass es ihnen nur um Israel, nicht aber um Juden allgemein gehe. Doch ist der Glaube daran, dass sich das fein säuberlich trennen lässt und man das eine angreifen kann, ohne auch das andere zu treffen, eine gefährliche Illusion.

Nach dem Holocaust und der Flucht und Vertreibung der Juden aus der arabischen bzw. islamischen Welt in den Jahren rund um die Gründung Israels spielen sich rund 85 Prozent des jüdischen Lebens in zwei Ländern ab: in den USA und in Israel. Demografisch halten sich diese beiden Zentren heute ungefähr die Waage, in Zukunft wird die Zahl der Juden in Israel aber beständig wachsen, während alle Prognosen ein Schrumpfen der jüdischen Gemeinden in den USA voraussagen. Darüber hinaus sind die Juden in den USA eine kleine Minderheit unter vielen (Juden machen heute rund zwei Prozent der amerikanischen Bevölkerung aus), wohingegen Israel das einzige bestehende jüdische Gemeinwesen weltweit ist.

Die Bedeutung Israels besteht für den Publizisten Charles Krauthammer deshalb darin, dass der jüdische Staat zum

»Herzen des jüdischen Volkes geworden ist – seinem kulturellen, spirituellen und psychologischen Zentrum, (…) das bald auch sein demografisches Zentrum sein wird« (Krauthammer 1998: 260).

Ein Großteil der Juden außerhalb Israels sieht das zumindest ähnlich. Umfragen zufolge fühlen sich rund drei Viertel der Juden in Amerika und in Europa dem jüdischen Staat verbunden oder gar sehr verbunden (vgl. Feuerherdt/Markl 2020: 97–98). Für sie ist Israel ein wichtiges, wenn nicht gar das wichtigste Symbol des zeitgenössischen Judentums. Das trifft nicht zuletzt auch auf nicht-religiöse Juden zu, die sich aber sehr wohl zum Judentum bekennen: Für sie ist die Unterstützung des jüdischen Staates vielfach der entscheidende Bestandteil ihres jüdischen Selbstverständnisses.

Diese enge Verbundenheit kommt auch beim Thema BDS zum Tragen: Die diffamierenden Vorwürfe der Israel-Boykotteure, die in ihrer Agitation nur den jüdischen Staat herausgreifen und das erklärte Ziel verfolgen, ihn zum internationalen Pariastaat zu machen, werden von vielen Juden weltweit als beleidigend empfunden und als Ausdruck von Antisemitismus verstanden. Dabei ist es unerheblich, dass die BDS-Kampagne ständig betont, doch »nur« gegen Israel, nicht aber gegen Jüdinnen und Juden an sich zu sein. Unabhängig von der Intention wird die Schmähung Israels als hochgradig beleidigend empfunden, weil eine enge Beziehung zwischen der jüdischen Identität einer Person und ihrer Bindung an Israel besteht.

Wenn die BDS-Kampagne behauptet, sie richte sich nicht gegen Juden, dann geht sie dabei über die große Mehrheit der Juden hinweg, für deren Selbstverständnis Israel eine große Bedeutung zukommt. Weil die Israel-Boykotteure Zionismus grundsätzlich für verbrecherisch halten, richtet sich ihr Hass zwangsläufig auch gegen den Großteil der Juden außerhalb Israels, sofern diese nicht bereit sind, sich von ihrem Verständnis des Judentums zu verabschieden. Für einen derartigen Angriff auf ein wichtiges Symbol des Judentums und auf eine wesentliche Komponente jüdischer Identität gibt es einen Begriff: Antisemitismus.

Wenn die BDS-Kampagne auf die Beseitigung Israels als jüdischer Staat abzielt, läuft sie darauf hinaus, eines der beiden weltweiten Zentren des Judentums und das dort entstandene israelische Judentum zu beseitigen. Das wäre ein für das Judentum insgesamt kaum oder gar nicht verkraftbarer Schlag: Übrig blieben dann – neben den verhältnismäßig kleinen Gemeinden in Europa und anderswo – nur noch die USA mit ihren schrumpfenden jüdischen Gemeinden. Darin ein Untergangsszenario für das Judentum insgesamt zu sehen, ist, wenn überhaupt, nur eine kleine Übertreibung. Deshalb hängen, wie Krauthammer betonte,

»die Existenz und das Überleben des jüdischen Volkes“ heute von der Existenz des jüdischen Staates ab: „Das „Ende Israels bedeutet das Ende des jüdischen Volkes. (…). Es kann nicht noch einmal Zerstörung und Exil überleben.« Am Bestehen Israels hänge daher »die einzige Hoffnung für das Fortbestehen und Überleben des Judentums« (Krauthammer 1998: 260).

Auch aus diesem Blickwinkel kann der Befund also ebenfalls nur lauten: Unabhängig von den Niederungen ihrer alltäglichen, dämonisierenden Propaganda handelt es sich bei BDS um eine fundamental antisemitische Bewegung. […]

BDS im kulturellen Sektor. Das Beispiel documenta

Wie das Thema BDS den Kulturbetrieb beeinflusst, zeigt sich auch an der bedeutenden Gegenwartskunstschau documenta in Kassel, deren 15. Ausgabe Mitte Juni 2022 begann. Seit Januar desselben Jahres stand sie in der Kritik, nachdem Recherchen des Kasseler Bündnisses gegen Antisemitismus (BgA) zutage gefördert hatten, dass mehrere documenta-Protagonisten die BDS-Bewegung unterstützen (Bündnis gegen Antisemitismus Kassel 2022).

Dazu gehören unter anderen zwei Aktivisten des indonesischen Künstlerkollektivs Ruangrupa, das mit der künstlerischen Leitung der diesjährigen documenta beauftragt wurde, zwei Mitglieder des documenta-Beirats und die Sprecher einer eingeladenen palästinensischen Künstlergruppe, die wiederum einem Kulturzentrum entstammt, dessen Namensgeber ein Anhänger des Nationalsozialismus und glühender Antisemit war. Der Anti-Israel-Aktivismus ist bei der documenta also zahlreich, prominent und an wesentlichen Stellen vertreten. Überhaupt ist er »ein wichtiges Standbein des postmodernen Kunstbetriebes«, wie das BgA Kassel festgehalten hat (ebd.).

Zahlreiche Medien griffen die Recherchen der Initiative auf und kritisierten die documenta-Verantwortlichen (vgl. Feuerherdt 2022a). Die documenta selbst reagierte zunächst mit einer Stellungnahme, deren Tenor lautete: Die Welt ist kompliziert, wir stehen zur besonderen deutschen Verantwortung, die sich aus der Geschichte ergibt, und sind gegen Rassismus und Antisemitismus. Vor allem aber wollen wir eine uneingeschränkte Meinungs- und Kunstfreiheit, alles Weitere besprechen wir auf einem Expertenforum (vgl. documenta fifteen 2022a).

Tatsächlich beraumte man eine dreiteilige Online-Gesprächsreihe an, in der »die Rolle von Kunst und Kunstfreiheit angesichts von wachsendem Antisemitismus, Rassismus und zunehmender Islamophobie diskutiert werden« sollte (documenta fifteen 2022b). Die Themen sollten sein: »Antisemitismus und Rassismus in Deutschland heute«, die »Rolle von Antisemitismus und Anti-Antisemitismus im postkolonialen Diskurs« sowie die Frage »Was ist antimuslimischer und antipalästinensischer Rassismus?« (ebd.).

Für das Webportal Ruhrbarone warf Thomas Wessel einen Blick auf die eingeladenen Referenten und stellte fest:

„Von zwanzig Diskutanten, denen die documenta jetzt Rederecht verleiht, lässt sich locker die Hälfte zu vehementen BDS-Aktivisten oder deren Apologeten zählen“ (Wessel 2022a).

In einem Brief an Kulturstaatsministerin Claudia Roth kritisierte auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, den Umgang der documenta mit dem Antisemitismus und dabei nicht zuletzt die Besetzung der Gesprächsforen. Nach der Kritik an der Kunstschau sollte die Intention der Online-Veranstaltungen eine Beschäftigung mit dem Antisemitismus sein, vor allem mit dem israelbezogenen. »In diesem Kontext hat mich auch verwundert, dass die Thematik des antipalästinensischen Rassismus Eingang in das Programm gefunden hat«, schrieb Schuster an Roth. Er könne hier keinen Zusammenhang erkennen.

Darüber hinaus kritisierte er, dass der Zentralrat ignoriert worden sei. Mehrfach habe er »darum gebeten, hier als Dachverband der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland mit unserer Expertise eingebunden zu werden«, doch trotz mehrmaliger Nachfrage bei der Leitung der documenta sei dies nicht geschehen. Den Verantwortlichen der documenta sei offenbar weder »an einem echten Austausch gelegen gewesen« noch »an einer Einbindung der Perspektive der jüdischen Gemeinschaft«, so der Zentralratspräsident (vgl. Feuerherdt 2022b).

Nach dem Bekanntwerden von Schusters Brief zog Natan Sznaider, Professor für Soziologie in Tel Aviv, seine Zusage zur Teilnahme an einer der Veranstaltungen zurück. In einer E-Mail an die documenta schrieb er, er finde in den Zusammensetzungen der Panels seinen Platz nicht und wolle auch nicht den Einspruch des Zentralrats ignorieren:

»Als ›ehemaliger‹ Jude in Deutschland und auch als Israeli verstehe ich den Schmerz und die Nichtanerkennung der Repräsentanten der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland. Ich glaube sehr an ›we need to talk‹, aber ich sehe die Veranstaltung eher als ein Selbstgespräch [denn] als eine Unterhaltung« (zit. nach Goldmann 2022a).

Nachdem es eine weitere Absage gab und sich nach Angaben der documenta »einige in der sich zuspitzenden Debatte nicht mehr wohlfühlten, ihre Position sinnvoll einzubringen«, entschieden sich die Verantwortlichen, die Gesprächsreihe auszusetzen. Man werde stattdessen »zunächst die Ausstellung beginnen und für sich sprechen lassen«, hieß es in einer Erklärung (documenta fifteen 2022c).

Bevor es dazu kam, äußerte sich Ruangrupa, die künstlerische Leitung der 15. documenta, schließlich doch noch, und zwar in Form eines offenen Briefes (Ruangrupa 2022). Darin heißt es, dass die »Anschuldigungen, die gegenüber der documenta fifteen und dem Gesprächsforum geäußert wurden, eine produktive Diskussion gegenwärtig unmöglich machen«. Schuld soll also die Kritik an den documenta-Machern sein, die diese aber nicht als Kritik begreifen wollen, sondern als »Vorwürfe«, »Bezichtigungen«, »Gerüchte« oder eben als »Anschuldigungen«. Die Kritiker, heißt das, sollen andere Motive haben als die Kritik; die Verfasser des Briefes schreiben diesbezüglich vom »Versuch, Künstler*innen zu delegitimieren und sie auf [der] Basis ihrer Herkunft und ihren vermuteten politischen Einstellungen präventiv zu zensieren«.

Die »deutsche Bekenntniskultur gegen Antizionismus, die ihn zunehmend mit Antisemitismus gleichsetzt«, so Ruangrupa weiter, »hat zur Folge, dass Palästinenser*innen und nicht-zionistische Juden vom Kampf gegen Antisemitismus ausgeschlossen und nachfolgend selbst zu Antisemiten erklärt werden«. Als ob die Kritiker keine inhaltlichen Gründe geltend machen, sondern sich auf die Herkunft der Kritisierten kaprizieren würden. Als ob sie beispielsweise Palästinenser, die sich antisemitisch äußern, »zu Antisemiten erklären« würden, weil sie Palästinenser sind – und nicht, weil sie sich eben antisemitisch äußern.

Die Israel-Boykotteure der BDS-Bewegung sollen also, folgt man den documenta-Verantwortlichen, nicht boykottiert, sondern unbedingt eingeladen werden, damit sie darüber sprechen, warum sie nicht mit Israelis reden und den jüdischen Staat hassen. Wer Kritik daran äußert, sieht sich mit der Vorhaltung konfrontiert, »eine produktive Diskussion unmöglich zu machen«. Widerspruch ist anscheinend unerwünscht, und viel mehr Probleme als mit dem Antisemitismus hat man offenbar mit dem »Antisemitismusvorwurf«, das heißt: mit der Kritik des Hasses gegen Juden.

Schlechtes über die BDS-Bewegung mögen die Macher der documenta nicht sagen und nicht schreiben, vielmehr halten sie die Anti-BDS-Resolution des Deutschen Bundestages für eine »Gefährdung von Kunst- und Diskursfreiheit«. Diese Freiheit ist für sie offenkundig nur dann gewährleistet, wenn sie mit staatlichen Geldern möglichst unwidersprochen Leute einladen und machen lassen können, die sich das Ende des einzigen jüdischen Staates zum Ziel gesetzt haben.

Als die documenta schließlich eröffnet wurde, zeigte sich rasch: Wo BDS draufsteht, ist auch Antisemitismus drin. Er manifestierte sich beispielsweise im riesigen Schlachtengemälde »People‘s Justice« des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi, in dem Juden als Nazis und Schweine dargestellt sind (Wessel 2022b). Das Triptychon, ausgestellt auf einem der zentralen Plätze Kassels, wurde nach Kritik und Protesten erst verhüllt und schließlich abgebaut.

Zu finden war der Antisemitismus aber auch im Zyklus »Guernica Gaza«, der die israelische Armee mit der deutschen Wehrmacht während des Nationalsozialismus gleichsetzt (von der Osten-Sacken 2022a), und in einem Propagandafilm zur Verherrlichung der terroristischen Japanischen Roten Armee, die im Mai 1972 am Flughafen Lod bei Tel Aviv ein Massaker mit 26 Toten ins Werk gesetzt hatte (von der Osten-Sacken 2022b). Der Film solle »Auskunft über die weitestgehend übersehene und nicht dokumentierte antiimperialistische Solidarität zwischen Japan und Palästina geben«, heißt es dazu auf der Website der documenta (documenta fifteen 2022d). Eine Solidarität, die in einem Blutbad in Israel kulminierte. Wenig später wurde auf der Kunstschau auch noch die faksimilierte Broschüre eines algerischen Frauenkollektivs mit antisemitischen Darstellungen israelischer Soldaten gesichtet – von Karikaturen im »Stürmer«-Stil bis zur Kindermörder-Legende war alles dabei (Goldmann 2022b).

So etwas kommt nahezu unweigerlich dabei heraus, wenn man Kuratoren und Künstler einlädt und gewähren lässt, die den Boykott des jüdischen Staates für eine gute Idee halten. Dabei hatte es vonseiten der Verantwortlichen geheißen, Antisemitismus habe auf der documenta keinen Platz, es werde dort deshalb auch keinen Antisemitismus geben. Sie hätten es angesichts der BDS-Nähe vieler Beteiligter besser wissen müssen, zogen es jedoch vor, die Kritik des Bündnisses gegen Antisemitismus und verschiedener Medien als »rassistisch« zurückzuweisen und als neokoloniale Attacke auf den »globalen Süden« zu geißeln.

Zurück trat nach wochenlanger Kritik lediglich Generaldirektorin Sabine Schormann, ansonsten gab es keinerlei politische oder personelle Konsequenzen. Der Antisemitismus auf der documenta blieb letztlich folgenlos, von der Kritik in den Feuilletons abgesehen. Schormanns kommissarischer Nachfolger Alexander Farenholtz durfte sogar ungeahndet Sätze sagen wie: »Die Zahlen sind sehr gut, die Stimmung auch. Ich glaube, dass die documenta als Ausstellung auf einem hervorragenden Kurs ist« (Schippers 2022).

Von Anfang an haben die Verantwortlichen der documenta fifteen versucht, den Antisemitismus abzustreiten, kleinzureden, herunterzuspielen. Dazu passt es, dass die Autorin und Kuratorin Emily Dische-Becker vor der Eröffnung der Ausstellung einige Guides darin schulen durfte, wie sich bei klassischen BDS-Begriffen aus dem Repertoire des israelbezogenen Antisemitismus, etwa »Siedlerkolonialismus« und »Apartheidstaat«, der antisemitische Gehalt wegdefinieren und damit leugnen lässt. Oder darin, dass die »Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus«, die den Hass auf Israel kleinredet und ihn vom Stigma des Antisemitismus befreien will (Feuerherdt 2021), angeblich viel mehr taugt als die Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), die weithin akzeptiert ist und von zahlreichen Regierungen, Parlamenten und Verbänden verwendet wird.

Die Online-Sitzung Dische-Beckers mit den documenta-Mitarbeitern fand vor dem Beginn der Ausstellung statt und sollte die Guides nach der Kritik im Vorfeld offensichtlich auf Linie bringen (Baumstieger 2022).

Dische-Becker gehört zur postkolonialistischen Szene, »wo der Jude auf den Israeli übertragen wird, der auf seine Partikularität beharrt«, wie es der Soziologe Natan Sznaider im Gespräch mit dem Spiegel treffend formuliert hat (Sznaider 2022). Gerade im Milieu der »bürgerlichen Kulturelite« fröne man einem vermeintlich weltoffeneren Universalismus, wie er sich auch „in der Einladung des sogenannten globalen Südens zur documenta“ artikuliere. Die Shoa sei aber ein Verbrechen gegen Juden gewesen, »also etwas Partikulares«, so Sznaider. Die »Israelkritiker« versuchten, »die Vernichtung der europäischen Juden zu universalisieren« und »zu einem Verbrechen zu machen, das in einer langen Reihe anderer Verbrechen steht, zum Beispiel des Kolonialismus«. Juden, die dieser Universalisierung der Shoa widersprächen, würden als Störfaktoren betrachtet.

Ergänzen ließe sich noch: Die vorherrschenden Ausprägungen des Postkolonialismus, die stark BDS-affin sind, ist für seine westlichen Anhänger eine Möglichkeit der Umwegkommunikation, wenn es um Juden und Israel geht. Festzustellen ist das nicht zuletzt an den Entgegnungen auf die Kritik, die es an der documenta gab und gibt: Die Zustimmung zu BDS, die Darstellung Israels, die Abbildung von Juden, all dies müsse man mit den Augen des »globalen Südens« sehen, der nun mal ein anderes Bild vom jüdischen Staat habe; seine diesbezügliche Bildsprache müsse deshalb nicht so antisemitisch sein, wie man sie im Westen empfinde, heißt es immer wieder.

Es sei eine Frage des Kontextes und der Perspektive. So hätte man es gerne, um auf diese Weise verbreiten zu können, was man sich selbst nicht zu sagen, zu schreiben oder ins Werk zu setzen traut. Doch »People‘s Justice« folgt einer Ästhetik, wie sie aus westlichen Agitprop-Bildern seit Jahrzehnten bekannt ist, und die Darstellung von Juden als Nazis und Schweine ist in jedem Kontext antisemitisch. Die Ikonografie des Antisemitismus ist zudem uralt und global, natürlich kennt man sie bei Taring Padi. Genauso hat die Gleichsetzung der israelischen Armee mit der deutschen Wehrmacht, wie sie im Zyklus »Guernica Gaza« betrieben wird, in den palästinensischen Gebieten keine andere Bedeutung als in Europa. Die Botschaft lautet: Die Israelis sind wie die Nazis. Und so versteht man sie auch hier wie dort.

BDS soll nicht nur nicht als antisemitisch definiert, sondern vielmehr salonfähig gemacht werden. Gleichzeitig soll als provinzieller Rassist und als »Rechter« dastehen, wer dem Treiben der BDS-Bewegung und ihrer Unterstützer Einhalt gebieten will. Antisemitismus in seiner israelbezogenen Variante ist für BDS-Befürworter und -Sympathisanten ein Teil jenes progressiven Selbstverständnisses, wie es für große Teile der Kulturszene charakteristisch ist. Deshalb findet die BDS-Bewegung dort auch größeren Widerhall als in anderen Teilen der Gesellschaft. Weniger antisemitisch wird sie dadurch gleichwohl nicht. Zugleich zeigt der deutliche Widerspruch gegen die BDS-Verstrickungen der documenta, dass die Akzeptanz dieser antisemitischen und israelfeindlichen Bewegung und ihrer Positionen keineswegs selbstverständlich ist.

Der Gesamttext mit Quellenangaben ist hier zum Download erhältlich.


Dieser Artikel wurde zuerst hier veröffentlicht.

Autor: MENA Watch
Bild Quelle:


Donnerstag, 08 September 2022

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